Endlich wieder ein deutsches Filmfestival! Denn Filmfestivals sind genau wie Kinos, Verleiher, ja die ganze Branche angesichts der aktuellen Weltlage gezwungen, neue Wege zu gehen. So hat das zum Glück physisch stattgefundene 28. Filmfest Hamburg neben eingeschränkten Vorführungen und Filmgesprächen eine Streamingplattform eingerichtet. Eine kleine, feine Auswahl konnte hier von uns Daheimgebliebenen bestaunt werden. Es ist natürlich nicht dieselbe Erfahrung wie im angenehm dunklen Saal der Gemeinschaft und Freude, aber dennoch ein schöner Moment, um am aktuellen, weniger umworbenen Filmgeschehen teilhaben zu können. Für jeweils 24 Stunden konnten die kuratierten Filme gemietet werden. Und es gab wahrlich einige „Hamburger Perlen“ zu entdecken!
So etwa den französischen Debüt-Schocker RASCAL, in dem ein charismatischer junger Obdachloser in Paris den Frauen hinterhersteigt. Hört sich grenzwertig an? Stimmt, es wird wirklich ziemlich abartig und unbehaglich, vor allem weil Hauptfigur Djé irgendwie sympathisch ist, so à la Norman Bates, oder noch besser: Patrick Bateman. Vor allem die erste Hälfte, in der Djé nach einem Gefängnisaufenthalt in der Großstadt ankommt und seinen Obsessionen und Neigungen erliegt, ist mit einem bösen Augenzwinkern wunderbar realistisch und bedrohlich inszeniert. Dies ist wohl Regisseur Peter Dourountzis zu verdanken, der selbst lange als Sozialarbeiter gewirkt hat und uns hier in eine spannende Parallelgesellschaft einführt. Brandaktuelle Gesellschaftsthemen wie Gewalt gegen Frauen und der männliche Blick sind interessant und originell herausgearbeitet. Leider gerät dieser Einblick bald zum Starren, zum moralischen, wenig subtilen Panorama, und die Frage nach der Glaubwürdigkeit oder tieferen Funktion von Djé stellt sich. Am Ende sind überall Sirenen und zu viele offene Fragen. Trotzdem ein sehenswerter neuer Stern am Serienkiller-Himmel.
Ebenso dem Realismus verpflichtet ist die etablierte US-amerikanische Regisseurin Kelly Reichardt. Ihren minimalistischen und unglaublich einnehmenden Stil hat sie mit Werken wie WENDY AND LUCY, MEEK´S CUTOFF oder dem Ökothriller NIGHT MOVES mehr und mehr verfeinert und ausgebaut. Wem dieser Name neu ist, der sollte unabhängig von seinem Filmgeschmack wirklich einmal einen Blick wagen. Reichardt versteht es, wunderbar reduziert maximale Erzählkraft zu entwickeln, in den verschiedensten Genres. Mit ihrem Beitrag FIRST COW, der auf einer Novelle ihres Stamm-Autors Jonathan Raymond beruht, widmet sie sich erneut dem Western. Aber hier erzählt sie keine klassische blutige Rachestory oder dergleichen, sondern im Gegenteil eine feinfühlige und warmherzige Geschichte über die Freundschaft zweier ungleicher Männer im Oregon anno 1820. Dennoch geht es um Leben und Tod! Denn nachdem der Pelzjäger Cookie den chinesischen Immigranten King-Lu vor seinen Verfolgern gerettet hat, geraten die beiden allmählich auf die schiefe Bahn. Für Männer wie sie ist es schwer, in diesen Zeiten zu überleben, also bedienen sie sich der Milch der titelgebenden ersten Kuh in der Gegend. Ihre daraus gebackenen Plätzchen kommen sehr gut an in der Gegend, bald leider auch beim Besitzer der Kuh, der natürlich nichts von den nächtlichen Milchdiebstählen weiß … Es ist wirklich ein kleines Wunder, wie Reichardt es schafft, aus dieser simplen, ja banalen Geschichte einen solchen Film zu zaubern. Hier stimmt einfach alles: Schauspiel, Humor, ein magisches Sounddesign, einprägsame Bildwelten, und dann ist das alles noch ungemein spannend. Ein Wunder.
Von den dunklen Wäldern Oregons treibt es uns in TRAGIC JUNGLE in den Dschungel zwischen Mexiko und Belize, ein grünes Niemandsland. Wie bei Reichardt ist der Ort nicht bloß malerischer Hintergrund, sondern lebendiger Teil der Erzählung. Fernab der Zivilisation sind hier in den Zwanzigerjahren Glücksjäger auf der Suche nach der zähflüssigen Substanz Chicle, die sie aus bestimmten Bäumen schlagen und von deren Kaugummi sie sich Reichtum erhoffen.
Der Ton ist roh, der Umgang noch roher. In diese Gesellschaft kommt nun eine geheimnisvolle junge Frau, die auf der Flucht von den Arbeitern gefangen genommen wird. Sie alle stellen Ansprüche an sie, sie alle wollen sie und beschwören damit Unheil herauf: Nacheinander werden sie alle sterben. Zugegeben, der in der Mythenwelt der Maya verankerte und mit Laien besetzte Film der mexikanischen Regisseurin Yulene Olaizola ist schwerer zugänglich.
Genauso wenig besitzt er die handwerkliche Perfektion und Genauigkeit von FIRST COW, obwohl er ja in einer ähnlich natürlichen Umgebung spielt. Aber irgendwie entwickelt das mystische Geschehen rund um Dschungel und Dämonen doch einen eigenartigen Sog. Zu verdanken ist das diesem einnehmenden Ort, der zwar schon oft bespielt wurde, aber selten so intensiv. Regisseurin Olaizola erzählt im Interview, das das Festival ergänzend zu den jeweiligen Filmen online stellt, dass am Anfang ihres Films ebendieser Ort stand. Der Dschungel lebt, seine Tiere, Kreaturen, Insekten, alles nimmt die Menschen gefangen, und sie sind dem ausgeliefert.
An dieser Stelle vermisst man besonders den Kinosaal: Filme wie dieser brauchen die große Leinwand und die große Stille. Der Plot rückt in den Hintergrund des visuellen und gleichwertig auditiven Erzählens. Wir hoffen auf einen Kinostart! Festivals an sich sind ja eher eine Möglichkeit, kleinere Filme zu sehen, das internationale Independent-Geschehen näher kennenzulernen, so steht auch das Filmfest Hamburg in dieser Tradition.
SWEAT ist in diesem Sinne auch eher ein kleinerer Film mit großer Reichweite. Die Influencerin Sylwia begeistert darin als Fitnessmotivatorin ein Massenpublikum. „Danke, dass ihr mit mir geschwitzt habt!“ ist ihr Mantra. Denn sie treibt ihre Follower nicht nur mit Workouts an, sondern auch mit emotionalen Beiträgen um. Sie liebt diese Welt, den Glamour, den Ruhm, die Filter, bis sie die Schattenseiten ihres großen Traums langsam einholen. Eines Nachts wartet ein Stalker vor ihrem Luxusapartment in seinem Auto, und er geht nicht mehr. Dafür machen sich bald Angst und Zweifel in Sylwias eigentlich von außen so poppigem Leben breit: Ist ihr Erfolg all das wert? Die polnisch-schwedische Produktion, mit dem Cannes-Label versehen, ist weniger Stalker-Thriller denn Psychogramm einer emotionalen Exhibitionistin. Die perfekten Bildkompositionen solcher Menschen wie Sylwia sind uns allen bekannt, aber was steckt dahinter? Sylwia gesteht bald online ihre Ängste, aber das führt erst recht zu Blut, Schweiß und Tränen. Bildgestalterisch sind diese Widersprüche kontrastreich eingefangen. Einmal dynamisch, laut und bunt, und dann wartet am Ende des Tages doch nur ein entsättigtes Leben abseits der Kameras. Das Gefühl der Gemeinschaft macht eben süchtig. Deshalb lasst uns auf mehr Festivals hoffen, die wir wieder physisch besuchen können, um dieses einmalige Feeling wieder genießen zu dürfen.
Den einzigen ausgeschriebenen Preis, den Publikumspreis, hat der schwarz-weiße Dokumentarfilm GUNDAerhalten. Ein Porträt eines norwegischen Bauernhofes und seiner Bewohner, mit dem Fokus auf einem Schwein, einem einbeinigen Huhn und auf zwei Kühen, womit sich der Kreis zu FIRST COW schließt. Leider war dieser wie andere Filme wie bereits erwähnt nicht online verfügbar. So wäre etwa NOMADLAND von Chloé Zhao bestimmt unbedingt sehenswert, gewann dieser doch in Venedig den Golden Löwen und fungierte in Hamburg als Dernière. Ihm ist aber bestimmt eine Kinoauswertung zuzutrauen. Zu erwähnen ist natürlich auch noch Oskar Röhlers Eröffnungsfilm ENFANT TERRIBLE, den wir schon in der DEADLINE #83 inkl. Interview mit Oliver Massuci größer abgehandelt haben. Ebenso die gezeigte große deutsche Produktionen CURVEBALL, einem Geheimdienst-Thriller in Zeiten des Irakkriegs, und Moritz Bleibtreus Regiearbeit, dem Psychothriller CORTEX dürfen nicht unerwähnt bleiben. Das Review und die Interviews mit Moritz Bleibtreu und Jannis Niewöhner findet ihr ebenso in der DEADLINE #83.
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Allen Umständen zum Trotz war das Filmfest Hamburg also eine erste Erfolgsgeschichte auf neuem Terrain, für die Veranstalter wie für das Publikum. 13.690 Zuschauer waren im Kino vor Ort, was der maximalen Sitzplatzbelegung entspricht, 3.000 Karten wurden digital vergeben. Also ein richtiger, vorsichtiger Schritt in eine neue Richtung der friedlichen, belebenden Koexistenz von Kino und Streaming, die unabdingbar sein wird, was da auch kommen mag. (Marc Vogel)