Was 2010 als kleine Filmreihe begonnen hatte, ging im Herbst 2018 bereits zum sechsten Mal über die Bühne. Vom 27. bis 30. September war das Regensburger Ostentor Kino heimeliger Veranstaltungsort unheimlicher, abseitiger, aber auch absurder Kinokost. Als Medienpartner des HARD:LINE Filmfestivals war DEADLINE auch in diesem Jahr dabei und liefert an dieser Stelle mit ein wenig Abstand, um all das Gesehene sacken zu lassen, einen Nachbericht. Eins vorweg: Auch 2018 boten die Regensburger ein rundum gelungenes und tadellos organisiertes verlängertes Wochenende, das keine Wünsche offen ließ. Vom südafrikanischen Neowestern bis zum australischen Tierhorror, von der magisch-realistischen mexikanischen Waisenkinder-Gangsterballade bis zur US-amerikanischen Vampir-Pseudodoku, von vier mutigen und übermütigen Kids auf Serienkillerjagd bis zum axtschwingenden, mit Drogen vollgepumpten Nicolas Cage war für jeden Geschmack etwas dabei – und erneut waren jede Menge Filmemacher anwesend.
Mit Horror hatte Hermann Hesse bekanntlich nichts am Hut. In diesem Jahr, meinem zweiten beim HARD:LINE, schoss mir aber unweigerlich ein Vers seines Gedichts STUFEN durch den Kopf, der längst zu einem geflügelten Wort geworden ist: „Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne.“ So erfrischend und faszinierend ein neues Festival auch sein mag, schon beim nächsten Besuch ist der Zauber verflogen, weil sich eine Vertrautheit einstellt. So ergeht es zumindest mir. So erging es mir bislang, muss ich korrekterweise formulieren. Denn das HARD:LINE Filmfestival, sein Programm, seine Gäste und Macher schafften es erneut, mich zu verzaubern. Das hat viel mit der Atmosphäre zu tun, die trotz des beständigen Wachstums eine familiäre geblieben ist.
Wie 2017 waren wieder 15 Filme im Programm. Noch vor Ende der dreieinhalb tollen Tage konnteFestivalleiter Florian Scheuerer einen neuen Besucherrekord verkünden. Zwischen Donnerstag- und Sonntagabend kamen knapp 1.800 Zuschauer in den Kinosaal unweit der Donau. Das sind etwa 120 Ticketkäufer pro Vorstellung und rund 300 mehr als im Vorjahr, was das HARD:LINE weiterhin zum Festival mit dem stärksten Zuschauerschnitt in Ostbayern macht, weshalb der Veranstalter die nächste frohe Botschaft gleich hinterherschickte. „Wir werden 2019 fünf Tage bespielen und insgesamt 18 Slots haben“, ließ Scheuerer wissen. Womit die zusätzlichen Programmplätze, dann vom 25. bis 29. September 2019, belegt werden, wird erst ganz am Ende dieses Textes verraten.
Das stete Wachstum schlug sich 2018 auch im überaus starken Programm nieder. Wirkliche Ausreißer nach unten gab es mit Brian A. Metcalfs ziemlich einfallslosem Vampir-Found-Footage LIVING AMONG US und Nicholas Woods‘ krudem Parallelweltgrusel THE AXIOM nur zwei. Doch selbst diese hatten ihre Momente. Und sei es nur, dass ich mich im Kreise der Kollegen von der schreibenden Zunft über die unfreiwillig komischen Kreaturen köstlich amüsieren oder herrlich aufregen konnte. Der Rest nahm sich wie etwa Chris Suns australischer Wildschweinschocker BOAR entweder nicht zu ernst oder lieferte Kino auf ausgeglichen hohem Niveau, was auch die Reaktionen der Zuschauer belegen. Von den elf Filmen, die für den Publikumspreis zur Abstimmung standen, erreichten gleich fünf einen Durchschnitt von mehr als vier Punkten. Bei einer theoretischen Höchstpunktzahl von fünf Punkten ein beeindruckendes Ergebnis.
Beeindruckend ging es denn auch am Eröffnungsabend los. Das HARD:LINE hatte geladen, und RKSS (Roadkill Superstar) waren gekommen. Das frankokanadische Künstlerkollektiv, das uns vor drei Jahren mit TURBO KID (2015) beschenkte, hatte seinen jüngsten Film SUMMER OF 84 (2018) als Deutschlandpremiere mit im Gepäck. (Als kleines Bonbon obendrauf boten die Herren vom deutschen Verleih im Anschluss an die Vorführung die limitierte Edition des Films im VHS-Look bereits vor dem offiziellen Verkaufsstart feil.) Wer nach TURBO KID ein weiteres Stück durchgeknallten Achtziger-Retro-Trash erwartete, war falsch gewickelt. Statt überdrehter Parodie präsentierte das Regie-Trio François Simard, Anouk und Yoann-Karl Whissell dieses Mal einen atmosphärisch dichten, konsequent zu Ende erzählten Thriller. Vier Jungs, die mit Walkie-Talkies bewaffnet dem Unheimlichen in der eigenen Nachbarschaft nachspüren, das erinnert natürlich an STRANGER THINGS. Seine Idee zu SUMMER OF 84 hatte das Trio aber bereits lange vor dem Streaming-Hit, wie Yoann-Karl Whissell im anschließenden Q-&-A glaubhaft und stets mit einem verschmitzten Lächeln auf den Lippen versicherte. In nur 30 Tagen war der Film im Kasten. Probleme beim Dreh gab es genug. Mal sprangen die alten Autos nicht an und mussten durchs Bild geschoben werden, mal hatten die drei Regisseure schlicht nicht bedacht, wie spät es im Sommer dunkel wird. Die vielen Nachtaufnahmen kollidierten mit den Arbeitszeiten der Nachwuchstalente. Zum Glück stammt Hauptdarsteller Graham Verchere aus Kanada, wo es die Gewerkschaft etwas lockerer als die seiner amerikanischen Kollegen sieht. Während die US-Kids also bereits im Bett lagen, drehte das Trio einfach Einzelszenen mit Verchere. Dem Ergebnis merkte ich all das nicht an. SUMMER OF 84 ist eine gelungene Hommage an das Kino der 1980er-Jahre und doch ein gänzlich eigenständiges Werk, das nicht in der derzeit allseits beliebten Nostalgie ertrinkt. Im Gegensatz zu STRANGER THINGS bedient es weder übersinnliche Kräfte à la E. T. (1982) oder POLTERGEIST (1982), noch fährt es wie DIE GOONIES (1985) die Abenteuerschiene. Bei RKSS ist der Horror echt. Hier gibt es kein zuckersüßes Spielberg-Ende. Serienkillerjagd ist eben kein Kinderspiel!
Apropos Probleme beim Dreh – die zogen sich wie ein roter Faden durch die Fragerunden mit den anwesenden Filmschaffenden. Auch Simeon Halligan, der dieses Jahr im Directors Spotlight stand, konnte amüsante Katastrophenmeldungen mit dem Publikum teilen. Der 1967 geborene Brite hatte seine drei Langfilme und eine Überraschung in Regensburg dabei. Sein Debüt SPLINTERED (2010) präsentierte er in einer neuen Schnittfassung, deutlich kürzer und straffer als die ursprüngliche Version. So bekam das Publikum zu all den Deutschland- und Europapremieren unverhofft noch eine „Weltpremiere“ hinzu. Los ging es am Donnerstagabend aber mit Halligans jüngstem Film HABIT (2017), bevor sich das Programm am Freitag und Samstag in umgekehrter Chronologie über WHITE SETTLERS (2014) bis zu den bereits erwähnten Anfängen vorarbeitete.
Daran reicht HABIT zwar nicht heran, es ist jedoch interessant zu beobachten, wie sich Halligans Figuren von Film zu Film weiterentwickeln. Gerade bezüglich ihrer Charaktertiefe und der Glaubwürdigkeit der Liebesbeziehung macht der Brite mit HABIT einen großen Schritt nach vorn. Insgesamt ist sein dritter Film aber deutlich zu lang und mit einem unnötigen Nebenstrang (um einen zweiten Nachtklubbesitzer) versehen, was wiederum an die ursprüngliche, ungekürzte Fassung von SPLINTERED erinnert. Am stärksten bleibt mir persönlich deshalb WHITE SETTLERS in Erinnerung, der seine Geschichte um ein Pärchen, das mitten auf dem Land von maskierten Einheimischen drangsaliert wird, kurz, knapp und konsequent erzählt. Schnörkelloses Terrorkino ohne viel Chichi, mit der tollen Pollyanna McIntosh (THE WALKING DEAD) in der weiblichen Hauptrolle.