In seinem wohl bekanntesten Werk ÜBERWACHEN UND STRAFEN beschreibt Michel Foucault das Konzept des Panopticons nach Jeremy Bentham. Ausgangspunkt ist ein ringförmiges Gefängnisgebäude, dessen Zellen jeweils ein Fenster nach außen und eines nach innen haben. In der Mitte des Rings steht ein Turm, rundum mit Fenstern versehen. Der Aufseher kann also zu jeder Zeit jede Zelle einsehen, die Gefangenen sind durch Wände voneinander getrennt und zur permanenten Sichtbarkeit verdammt. Alleine die Möglichkeit, jederzeit im Blick des Aufsehers sein zu können und bestraft zu werden, bringt die Gefangenen dazu, in vorauseilendem Gehorsam ihr Verhalten anzupassen, sich selbst zu disziplinieren, zu einem normkonformen Individuum zu werden. In einer Szene in Luca Guadagninos neuem Film AFTER THE HUNT diskutiert die Philosophieprofessorin Alma (Julia Roberts) in einer Vorlesung das Panopticon als Metapher des totalen Überwachungsstaates. Nicht von ungefähr könnte dies aber auch ein Sinnbild für die Zustände an amerikanischen Universitäten sein.

Noch vor den Credits über dem eingeblendeten Studiologo ertönt ein penetrantes, metronomartiges Ticken, das beim Zuschauer bereits Unbehagen auslöst. Die Credits sind im Windsor-Font gesetzt, der Schriftart, die Woody Allen für die meisten seiner Filme nutzte – Luca Guadagnino betont, dass die Assoziation durchaus gewollt sei.

Im Mittelpunkt des Films steht Alma. Eine brillante, starke und einnehmende Frau, die es im patriarchalen System der Universität Yale bis an die Spitze geschafft hat und dafür bewundert und, ja, auch begehrt wird, von Männern wie Frauen. In der Eingangsszene, einer Party in der Wohnung von Alma und ihrem Ehemann, dem ihr in tiefer Treue verbundenen Psychotherapeuten Frederik (wunderbar: Michael Stuhlbarg), werden wir eingeführt in diese Welt der Privilegierten. Wir lernen zwei weitere Hauptfiguren kennen, die schwarze queere Maggie (Ayo Edebiri), Almas Lieblingsstudentin, und den sehr von sich eingenommenen, immer eine Spur zu aufdringlich flirtenden Professor Hank (Andrew Garfield). Es fließt viel Alkohol, es werden teils hitzige, mehr oder weniger eloquente Wortgefechte geführt. Irgendwann verlassen Maggie und Hank als letzte Gäste zusammen die Wohnung. Am nächsten Tag wird nichts mehr so sein, wie es war.

Plötzlich steht eine schwere Anschuldigung im Raum: Hank habe gegenüber Maggie deutlich Grenzen überschritten, er sei übergriffig geworden. Hank dagegen behauptet, er habe Maggie damit konfrontiert, dass ihre Dissertation in Teilen ein Plagiat sei. Zwischen diesen beiden Polen steht Alma, die sich zunächst auf keine Seite ziehen lässt und deren Sicht der Dinge im Verborgenen bleibt. Und auch dem Zuschauer wird klar, dass nichts in AFTER THE HUNT eindeutig ist. Vielleicht sagt Maggie die Wahrheit, vielleicht auch Hank. Vielleicht tun es beide. An dieser Auflösung ist der Film jedoch nicht interessiert, es geht nicht um die „Jagd“ auf den Professor, der eine Studentin bedrängt hat. Es geht darum, wie mit Anschuldigungen umgegangen wird, um die sich verselbstständigenden Dynamiken gesellschaftlicher Beurteilungen und vor allem das Einnehmen unterschiedlicher Perspektiven.

Dass auch Alma unter ihrer souverän wirkenden Oberfläche ein dunkles Geheimnis mit sich herumträgt, ahnt man, als sie das erste Mal unter starken, scheinbar unerklärlichen Magenkrämpfen leidet. Im Zuge der immer undurchsichtiger werdenden Verstrickungen zwischen Wahrheit und Lüge, zwischen Anziehung und Begehren wird auch sie mit ihrer Vergangenheit konfrontiert. Julia Roberts spielt das grandios, noch nie hat man sie so komplex und widersprüchlich in einem Film gesehen. Überhaupt ist die Besetzung großartig, alle vier Hauptdarsteller und, nicht zu vergessen, Chloë Sevigny in der Rolle der Studentenbeauftragten Kim überzeugen. Und es ist Guadagnino und seiner Drehbuchautorin Nora Garrett hoch anzurechnen, dass der Film den Mut zur Ambivalenz hat, sich nicht auf eine Seite schlägt und bewusst unbequem bleibt. Wie im echten Leben gibt es keine einfache Lösung, kein simples Schwarz oder Weiß. Ein beeindruckender, vielschichtiger Film für ein mündiges Publikum. Wahrscheinlich Guadagninos nach Werken wie CALL ME BY YOUR NAME, BONES AND ALL, CHALLENGERS oder SUSPIRIA bisher zugänglichster Film. Und einer seiner besten. Und die finale Szene zwischen Julia Roberts und Michael Stuhlbarg bleibt noch lange im Gedächtnis. (Jan Urnau)
Vielschichtiges und ambivalentes Gesellschaftsdrama mit herausragender Besetzung


