Mehrere Jahre hat die in Südafrika geborene Oscar-Gewinnerin Charlize Theron am Zustandekommen ihres neuen Films ATOMIC BLONDE mitgearbeitet. Basierend auf der Graphic Novel (früher hätte man Comic gesagt) THE COLDEST CITY von Antony Johnston und Sam Hart erzählt ATOMIC BLONDE von der britischen Agentin Lorraine Broughton (Theron), die vom MI6 nach Berlin geschickt wird, um eine Liste mit Agenten zu finden, die einem befreundeten Agenten (gespielt von Sam Hargrave, der auch als Stunt-Koordinator und 2nd-Unit-Regisseur an diesem Actioner beteiligt ist) von einem russischen Spion gestohlen wurde. Es ist November 1989, wenige Tage vor dem Fall der Mauer, und Berlin eine Stadt zwischen den Zeiten und jenseits aller Regeln.
Lorraines britischer Kontaktmann Percival (James McAvoy) hat es sich in dieser Grauzone aus Politik und Kultur als eine Art Hehler der westlichen Werte gemütlich gemacht, er tauscht Westwaren gegen Informationen und Gefälligkeiten. Und er hat Kontakt zu einem überlaufwilligen Stasi-Offizier (dargestellt von Charaktermime Eddie Marsan), der die Liste zwar nicht hat, aber behauptet, diese auswendig zu kennen.
Auch sonst mischen in den letzten Tagen des „alten“ Berlin allerlei Agenten mit, um mit besseren Karten in die veränderte Welt jenseits des Eisernen Vorhangs zu starten: die Französin Delphine (Sofia Boutella, gerade als Protagonistin in THE MUMMY eher einsilbig unterwegs), der Russe Beckmentov (Roland Møller) und der Til Schweiger (Til Schweiger), die abwechselnd Therons titelgebender Blondine das Leben schwer machen.
Regisseur von ATOMIC BLONDE ist der Ex-Stuntman David Leitch, der auch als Ko-Regisseur und Produzent an den beiden JOHN WICK-Filmen beteiligt war, wodurch man mit einer ähnlichen Erwartung an übermenschliche Stunts bei gleichzeitig geradliniger Handlung an seinen neuen Film herangeht. Zunächst hat der Spionage-Martial-Arts-Hybrid natürlich ein sehr verlockendes Setting: Berlin als grau-blaue Oase, in der die Politik sich selbst abgeschafft hat und dessen Vakuum der Nährboden einer kulturellen Subkultur ist. Man sieht Clubs mit schicken Leuten in einer Mode gekleidet, die dank der aktuellen Retro-Welle sehr der heutigen ähnelt, dazu gibt es Musik (u. a. von David Bowie und Depeche Mode), die sowieso nie out war und deren kalter Klang zum selbigen Krieg passt wie Hammer zu Sichel.
Genau diese Coolness ist es aber, auf die sich ATOMIC BLONDE zu sehr verlässt. Dass die meisten Figuren in perfekt getimten One-Linern kommunizieren, sägt arg am Realismus des Agentenfilms, von der Tatsache, dass offenbar halb Ostberlin Karate kann, mal ganz abgesehen.
Dabei sind die Kampfszenen wahrlich ein Highlight, auch wenn man davon im Kino der letzten zwei Jahrzehnte bestimmt eine Menge gesehen hat. Die aufwendig choreografierten Kämpfe sind ein Ballett für Genre-Connaisseurs, Tricksereien sind minimal eingesetzt (z. B. als unsichtbare Schnitte, die eine der besten Actionszenen des Films über die 10-Minuten-Marke katapultieren), und man merkt, dass hier brav die Hausaufgaben – in Form von Storyboards – gemacht wurden, denn auch wenn einem beim Zuschauen schwindlig werden kann, die Orientierung verliert man nie.
Solch filmischem Können gegenüber steht die eigentlich sehr flache Handlung, die durch unnötige Verkomplizierung leider den roten Faden verliert. Die eingangs erwähnte Liste hätte auch als „MacGuffin“ gereicht, um allerlei Verfolgungsjagden und Kämpfe temporeich zu inszenieren, stattdessen verliert die Erzählung genau darauf immer wieder den Fokus und hält sich mit Nebenhandlungsebenen auf, die der Geschichte Tiefe geben sollen, ihr aber eigentlich die Dynamik nehmen.
Auch scheint James McAvoy sein Jahreskontingent an Gesichtsausdrücken in seinem letzten Film SPLIT verbraten zu haben; selten hat man den Schauspieler so eindimensional agieren sehen. Dennoch, wenn man ATOMIC BLONDE als kurzweiligen Augenschmaus für Actionfans betrachtet und nicht als realistischen Film über die letzten Tage der DDR, hat man für den Preis einer Kinokarte ordentlich Spaß.
(Patrick Winkler)
Leibesübungen: 1/Geschichte: 5