Das wunderbar vielfältige und breite Genre der Phantastik hat auch im deutschsprachigen Raum viel zu bieten. Sei es im Film, im Comic, im illustrativen Bereich und natürlich auch in seiner literarischen Form.
Das PAN – Phantastik Autoren Netzwerk unterstützt Autor:innen, bietet Networking, Support rund ums Schreiben und vergibt seit 2021 Arbeits-Stipendien. Die beliebte Aktion „PAN-Kurzgeschichte“ soll einem breiten Publikum deutschsprachige Phantastik näherbringen – und Lust auf mehr machen. Als Kooperationspartner von PAN präsentieren wir euch seit Mai 2024 kurzen phantastischen Lesestoff. Alle zwei Monate eine andere Geschichte. In voller Länge. Auf unserer Website.
Wir wünschen gute phantastische Unterhaltung bei:
Angélique
von Jan-Christoph Prüfer
Karaffenparty. Unsichere Schritte, Übelkeit und Rachegedanken. Kim hatte nicht bei Thomas und ihrer Mutter schlafen wollen, aber der Haustürschlüssel hing noch immer an ihrem Bund. Als die anderen die nächste Runde bestellten, war sie gegangen. Eigentlich hatte sie die Nacht bei Kristin verbringen wollen. Die hatte einen guten Job bei Tegtmeier und eine eigene Wohnung, keine Fünfer-WG mit Nachtspeicher wie Kim in Hamburg. Aber Kristin wollte weiter trinken, deshalb schlich Kim nun ins Haus wie früher und hatte Angst, Thomas könnte auf sie warten, um zu fragen, mit wem sie wo gewesen sei und ob sie Hasch geraucht habe.
„Du machst Abi mit eins irgendwas und siehst auch ein bisschen nach was aus“, hatte er früher oft zu ihr gesagt. „Bei Tegtmeier würdest du so einen Job kriegen.“ Bei „so“ schnipste er immer mit den Fingern. „Aber nicht, wie du rumläufst.“
Als sie sich heimlich den Misfits-Schädel auf die Schulter hatte tätowieren lassen und nach dem Duschen mal vergaß, ihn zuzudecken, gab Thomas ihr einen Stoß mit der Handfläche gegen das Sonnengeflecht. Er war stolz auf seinen braunen Gürtel, fast schwarz also. Er machte Soundso-Karate, es interessierte sie nicht. Sie wollte atmen und kotzen, aber beides ging nicht, weil der Stoß alles in ihr blockierte.
Hinterher hatte Thomas sich entschuldigt, aber auch darauf bestanden, sie nicht geschlagen zu haben. Ihre Mutter glaubte ihm. „Er wollte dich nur zur Rede stellen und hat dich dabei aus Versehen zu fest gehalten“, sagte sie. Sie strich sich über die eigene Schulter und sah dabei Kims an. „Das ist aber auch ein hässliches Ding.“
Thomas hielt sie oft aus Versehen zu fest. Meist waren sie dann allein. Ihre Mutter sagte immer, sie übertreibe. Kim liebte sie trotzdem, aber warum ihre Mutter Thomas liebte, wusste sie nicht.
Thomas liebte, was kroch und krabbelte, biss und stach. Im Keller hatte er einen Raum mit Terrarien eingerichtet. Er nannte ihn seine Schatzkammer. Statt Kisten voller Gold standen darin Glaskästen auf Regalen an der Wand. Als Kind hatte Kim es kaum ausgehalten, allein runterzugehen, um ein Eis aus der Truhe zu holen. Sie verzichtete oft darauf, selbst wenn sie sich nach dem Essen eines nehmen durfte. Wenn die Tür einen Spalt offen stand und es dunkel war, sah sie einen Streifen kühles, blaues Licht. Thomas hatte die Schatzkammer ausgerechnet in dem Raum eingerichtet, der wie kein zweiter im Haus ihrem Vater gehört hatte. Als C-Jugend-Trainer hatte er den „Kram“ darin aufbewahrt, die Netze, die Bälle, die Stollenschuhe für die Kinder, die erst mal ein Probetraining machen wollten. Nach dem Unfall hatte ihre Mutter alles zurück an den Verein gegeben. Den Raum hatte Thomas sich einfach genommen. Das behauptete ihre Mutter immer.
„Und ich dachte, letzten Endes ist es nur ein Raum, Papa hätte das nicht schlimm gefunden.“ Sie strich Kim über den Kopf. „Findest du nicht?“
Fand sie nicht.
Mit fünfzehn hatte sie in der Küche ein Glas Wasser aus der Leitung getrunken. Kleine Nadeln wanderten unten über ihre nackten Füße. Zuerst dachte sie, es
wäre nur das Kribbeln, das sie sich manchmal einbildete, im Wissen darüber, was im Keller wohnte. Doch es hörte nicht auf. Sie sah nach unten und schrie. Das Glas fiel ihr aus der Hand in die Spüle. Sie trat ins Nichts, einfach weit weg mit dem Ding. Durch die Luft flog ein Tausendfüßler, lang und dick wie ein Stück Darm. Er klatschte an den Kühlschrank, fiel zu Boden und suchte wild nach einer dunklen Ecke, in die er sich verkriechen konnte.
Thomas kam rein und fing den Ausreißer mit einer Grillzange. Kim schimpfte, er solle besser auf seine Scheißviecher aufpassen, der Scheißriesenwurm sei ihr über die Füße gekrabbelt.
Thomas lachte.
„Du Arschloch!“, schrie Kim.
Danach hielt er sie sehr fest. Als sie auf dem Küchenboden lag und nach Luft schnappte, die Knie angezogen und die Arme darum geschlungen, trat er ihr in den Rücken. Dabei zerquetschte er aus Versehen den Tausendfüßler mit der Zange. Er weinte und fluchte den Rest des Tages, was für eine selbstsüchtige Kuh sie sei.
Später hatte er sich entschuldigt. Ihre Mutter fragte, ob alles wieder okay sei. Kim nickte. In ihrem Zimmer weinte sie in der Nacht, das Bild ihres Vaters an die Brust gepresst, sie auf seinen Schultern mit einem Eis in der Hand. Es war im Heide Park gewesen, hinter ihnen die große Holz-Achterbahn. Auf den Auslöser gedrückt hatte ihre Mutter, vier Monate, bevor feiner Regen bei null Grad auf der Kreisstraße gefror und ihr Vater mit dem Auto vor einen Baum fuhr. Kim wusste, er hatte schnell nach Hause gewollt, weil sie mit Magen-Darm im Bett lag. Er hatte sie trösten wollen. Sie hatte geweint am Telefon, denn sie hatte nichts mehr in sich gehabt und trotzdem noch gebrochen. Hätte sie sich damals zusammengerissen, wäre er noch am Leben. Sie war eine selbstsüchtige Kuh, und zur Strafe hatte das Universum ihr Thomas geschickt. An den lieben Gott hatte sie da schon nicht mehr geglaubt.
Jetzt stand sie vor der Treppe nach unten. Von hier oben konnte sie die Tür zur Schatzkammer sehen. All die Jahre, und das Licht war noch da. Es spielte Thomas’ Schätzen den Mond vor. Die meisten von ihnen lebten ihr Leben bei Nacht. Da töteten und fraßen sie am liebsten. Und weil die Birnen ihre Glasgefängnisse auch warm hielten, fühlten sie sich dabei wie zu Hause. Thomas tat alles für seine Schätze, alles. Waren sie die Liebe seines Lebens? Kims Mutter war es jedenfalls nicht. Kim selbst sowieso nicht.
Manchmal hatte sie geträumt von diesem Licht. In einem der Träume kam sie von der Schule nach Hause, und als sie die Haustür hinter sich geschlossen hatte, schimmerte der ganze Flur blau, als wäre das Haus ein Terrarium. Sie wollte raus, aber die Tür war jetzt verschlossen. Etwas bewegte sich hinter ihr. Viele kleine Beine. Tausend vielleicht. Dann war sie aufgewacht.
Ob Angélique noch lebte? Ohne danach gefragt zu haben, hatte Kim auch gelernt: Bis zu zwanzig Jahre alt könnte sie werden und eine Beinspannweite von
dreißig Zentimetern erreichen.
„Das ist so“, hatte Thomas ihr damals erklärt und die Hände so weit auseinandergehalten, dass ein Fußball dazwischen Platz gehabt hätte. Kim war elf gewesen.
„Es sind Lebewesen“, hatte er gesagt. „Eigentlich ist sie doch richtig schön, oder?“
Er hatte sie Angélique genannt, „weil sie Französin ist“. Aus Französisch-Guyana. „Weißt du, wo das ist?“
In Frankreich, hatte Kim damals angenommen. Thomas wollte ihr Angélique in die Hand geben. „Danach fürchtest du dich nie wieder.“
Kim wollte nicht. Angélique war selbst noch klein, aber sie war schon größer als Kims Hand. Auf ihrem Rücken verhakte Kim die Finger ineinander. Als Thomas einen ihrer Arme packte und mit immer mehr Kraft nach vorne zog, fing sie an zu weinen. Ihre Mutter hörte sie oben und fragte, was los sei.
„Alles gut!“, erwiderte Thomas. Er setzte Angélique behutsam zurück in ihren Glaskasten. Schnell verzog sie sich in den ausgehöhlten Ast darin.
Bitterkeit und Enttäuschung lagen in Thomas’ Blick, als er sich wieder zum Kim umdrehte. „Dir ist nicht zu helfen“, sagte er.
Sie ging die Treppe hinunter, zum ersten Mal seit acht Jahren, seit sie ausgezogen war. Jeder Schritt auf jeder Stufe drehte das Rädchen an der Zeitmaschine ein kleines bisschen weiter. Das Kribbeln auf der Haut war wieder da, lauter alte Freunde traf sie heute Nacht.
Wegen Französisch-Guyana nannte Thomas Angélique auch seine Grande Dame. Einmal hatte Kim davon geträumt, in dem hohlen Ast von ihren Kindern gefressen zu werden. Im Holz spann Angélique ihren Kokon und legte ihre Brut darin ab. Thomas hatte ihrer Mutter davon vorgeschwärmt: „Die Eier müssen es dunkel und warm haben.“
Was schlüpfte, verkaufte er. Das brachte „ganz gut was nebenbei“. Jede neue Generation machte Thomas stolz, als wäre er Vater geworden. Er erzählte auch gern, wenn andere Sammler Angélique lobten. Zum Beispiel, weil sie groß und kräftig genug war, lebende Mäuse zu verschlingen, und zwar nicht nur die blinden Babys, die sich nicht wehren konnten. Mutter mochte nicht, wie Thomas über Angélique sprach. Kim sah es in ihren Augen.
Sie betrat die blaue Kammer.
„Oh Gott.“
Thomas hatte Schätze gesammelt wie ein gieriger Pirat. Kein Stück Wand lag mehr hinter den Terrarien frei. Die meisten Bewohner hatten sich in ihre Bauten zurückgezogen. Ein Tausendfüßler, noch länger und dicker als der, der ihr damals über den Fuß gekrabbelt war, tastete sein Gefängnis mit den Fühlern ab. An der Wand direkt gegenüber, auf dem Regal in der Mitte, stand das Kronjuwel. Kim ging darauf zu und vergaß die kleinen Monster um sich herum. Es gab nur sie beide.
Angélique hatte sich in ihren Ast verkrochen. In der Ecke lag ein kleines Männchen auf dem Rücken, mit angezogenen Beinen. Ficken war gefährlich in Angéliques Welt. Thomas machte mit ihr also immer noch ganz gut was nebenbei.
„Groß sind wir beide geworden, du Schlampe“, flüsterte Kim. Ein Bein ragte aus dem Ast hervor. Angélique hatte die Höchstmarke erreicht. Vielleicht war sie sogar schon darüber hinaus. Das Bein zuckte wie bei einem träumenden Hund. „Er muss so stolz auf dich sein.“
Und es wird ihm das Herz brechen, wenn du weg bist. Weg wie ihr Vater. Kim ballte die Hände zu Fäusten. Versuchte sich zu erinnern, wie oft Thomas sie aus Versehen festgehalten hatte. Bei all den Karaffen war ihr die Idee gekommen, den ganzen Scheißkasten in die Weser zu schmeißen. Hatte man Hexen nicht auch manchmal ersäuft? Hass legte sich wie ein warmer Mantel um ihre kalte Angst. Sie nahm das Terrarium vom Regal. Fast hätte sie es fallen lassen. Das Bein zuckte wieder, so nah vor ihrem Gesicht.
„Bonjour“, sagte Kim. Nur ein Wort, aber sie hörte ihre Stimme zittern.
Der Kofferraumdeckel quietschte wie die Türen eines Hauses, das lange leer gestanden hatte. „Scheiße.“
Sie hatte das Festival vergessen. Schlafsäcke verstopften den Corsa hinten, Paletten mit leeren Dosen Bier und Spirelli al Arrabbiata. Angélique musste auf
den Beifahrersitz. Wenn sie schon nicht in den Kofferraum passte, wollte Kim sie wenigstens jederzeit sehen können.
Der Weg zur Weser führte über die Felder zwischen den Dörfern. Niemand kam ihr entgegen, niemand fuhr hinter ihr. Die Wahrscheinlichkeit, von der Polizei angehalten zu werden, lag bei fast null. Für Trinker ein Vorteil des Landlebens. Bis zur nächsten Straßenlaterne waren es ein paar Kilometer. Das Niemandsland hatte sie jetzt. Die zugewucherten Wiesen gehörten Füchsen, Hasen, gelegentlich einem Hund, wenn Herrchen Lust hatte, zum Spaziergang so weit rauszufahren.
Sie fragte sich, ob Angélique einen Hasen fressen könnte. Einen kleinen vielleicht. Trotzdem wäre es genauso ein Todesurteil gewesen wie die Weser, sie einfach hier rauszuschmeißen. Wenn der Fuchs sie nicht holen würde oder irgendein Wildschwein, dann in zwei Monaten der Herbst. Ihre Art brauchte vierzig Grad bei hundert Prozent Luftfeuchtigkeit. Die Hölle würde ihr gefallen.
Kim stieß auf. Die Magensäure brannte und schmeckte nach Bacardi-Cola. Sie sah zur Decke des Wagens und lachte über den widerlichen Geschmack. Die Strecke war kurvig. Immer mal wieder steckte am Straßenrand ein Kreuz in der Erde.
Kim sah wieder geradeaus. „Oh!“
Sie riss das Lenkrad scharf nach rechts, um dem Hasen auszuweichen. Mit achtzig Sachen schoss der Corsa über den Rand einer steilen Böschung hinaus. Eine Sekunde der Schwerelosigkeit. Dann ging es mit der Motorhaube voraus nach unten. Der Aufprall stauchte das Auto zusammen. Kim spürte ihre Kniescheiben zerspringen. Bevor sie schreien konnte, knockte der Ruck nach vorne sie aus. So bekam sie nicht mehr mit, wie das Auto auf die Fahrertür fiel und ihr dabei die linke Schulter aus dem Gelenk riss.
Es wurde hell. Kurz glaubte sie, gerade aus einem Traum erwacht zu sein. Sie lag mit angewinkelten Beinen auf der Seite wie immer. Aber warum stank das Bett nach Benzin?
Sie machte die Augen auf. Ihre Kehle war trocken, der Gaumen klebrig. Mit der Zungenspitze fuhr sie ihre Zähne ab und bemerkte vorne zwei Lücken.
„Hilfe.“
Es war leise und klang komisch wegen der fehlenden Zähne.
Ihre Beine. Gott im Himmel, ihre Beine!
Jemand schien ein glühendes Messer in ihren Nacken zu stecken, als sie hinunterblickte. Sie konnte ihre Waden nicht sehen. Der Unfall hatte den Fußraum zusammengedrückt wie eine Blechdose. Was sie sah, waren Glassplitter und ein hohler Ast, der neben ihrem Schoß auf der Fahrertür lag. Ihr rechter Arm hatte den Aufprall heil überstanden. Kims zitternde Finger gingen zum Holz. Sie sah dabei zu, als gehörte die Hand jemand anderem. Was auch immer in ihr diese Hand lenkte, wollte Gewissheit haben. Das Bein ragte nicht mehr aus der Behausung hervor, und die Glassplitter überall stammten nicht nur von der Windschutzscheibe.
Sie drehte den Ast, sodass sie hineinsehen konnte. Nicht nur das. Sie konnte einfach hindurchsehen.
Kim riss den Kopf hoch und zur Seite. Ignorierte das Messer in ihrem Nacken und die überdehnten Sehnen in ihrem Hals. Der Beifahrersitz war leer, ebenso wie das Armaturenbrett. Wo ist sie?
Ihr Körper hatte den Notstrom angeworfen. Sie holte ein paarmal Luft, dann gelang ihr ein Schrei. Alles still. Sie erinnerte sich an einen Zeitungsartikel, den ihre Mutter warnend vorgelesen hatte, einige Jahre bevor Kim den Führerschein machte. Ein Mann hatte auf dieser Strecke einen ganz ähnlichen Unfall gehabt, die Böschung runter. Ein Lastwagenfahrer, der einen Stau umfahren wollte, hatte den Wagen zufällig entdeckt, weil er pinkeln musste. „Das war Glück“, zitierte die Zeitung einen Polizisten. „Hier ist so wenig los, und von der Straße aus sieht man das Auto nicht da unten in den Büschen liegen. Das hätte auch eine Woche dauern können, bis es einem auffällt.“
Eine Woche. Die Schmerzen und der Durst würden sie in ein paar Stunden töten. Eigentlich hoffte sie das sogar, denn alles tat so unfassbar weh.
Ihr Handy! Es hätte sonst wo liegen können, wo sie nicht drankam, aber da war es, im Fußraum der Beifahrerseite. Auch der war eingedrückt, der Weg hinein glich einem zusammengestürzten Höhleneingang. Auf der Schwelle dieses Eingangs lag das Telefon. Kim streckte die Hand danach aus. So ungefähr musste es sich anfühlen, wenn Parkinson oder irgendein anderer fieser Mist einem den Körper nahm. Eine selbstverständliche Bewegung war plötzlich ein Kraftakt, eine Herausforderung, ein Kampf gegen die eigenen, ungehorsamen Muskeln. Wie sehr sie sich auch unter Schmerzen reckte, eine letzte Lücke zwischen ihren Fingern und dem Telefon blieb. Diese Lücke hatte den Durchmesser eines Zwei-Euro-Stücks.
Auch der Gurt hielt sie zurück. Zuerst hatte sie mit ihrem ausgekugelten Arm versucht, ihn zu öffnen, aber in ihrer Schulter rieb dabei etwas aneinander, das es eigentlich nicht tun sollte. Sie versuchte es mit dem rechten Arm, das Einzige an ihr, was noch halbwegs zu funktionieren schien. Die Halterung des Gurts klemmte. Sie war an den Sitz gefesselt.
„Hilfe.“
Elend und leise. Kim saugte Spucke aus den Mund-winkeln zusammen, bis sie eine kleine Pfütze zum Schlucken auf der Zunge hatte. Mit dem geölten Hals versuchte sie es noch einmal.
„Hilfe!“
Ein paar frühe Vögel antworteten. Es klang, als würden sie sich über sie lustig machen. Aber jemand hatte sie gehört. Auf seine Art. Ihre Art. Hatte die Erschütterungen in der Luft wahrgenommen mit den Haaren an den Beinen.
Rechts von Kim bewegte sich etwas. In dieser neuen, auf den Kopf gestellten Welt: über ihr. So weit es ging, also nicht sehr weit, drehte sie den Kopf. Eine Hand griff von hinten um den Beifahrersitz, als wäre jemand hinten im Auto. Drei Finger legten sich langsam auf den Stoff. Lange, dünne Finger. Haarige Finger. Braun und grau.
„Lass mich in Ruhe.“ Kim flüsterte. „Ich hab dir nichts getan.“
Haha! Du wolltest sie ersäufen, und sie weiß es!
Langsam zog Angélique ihren gewaltigen Körper in Sicht. Kims Atem ging schneller. Die Grande Dame hatte einen Hinterleib so groß wie eine Ratte. Sie stellte die vorderen Beine auf. Sieh mich an.
„Verschwinde!“
Die Beine senkten sich wieder. Kim spürte den Blick auf sich. Acht Augen.
„Geh weg, hab ich gesagt!“
Angélique wanderte die Rückenlehne herab. Langsam, als wäre sie selbst benommen vom Sturz. In der Breite reichten ihre Beine fast von einem Ende der Lehne zum anderen. Kim hätte den Arm ausstrecken und sie berühren können. Lieber hätte sie sich die Hand mit einer Laubsäge abgeschnitten. Ihr Atem war jetzt fast ein Hecheln. Das Herz raste im selben Rhythmus. Kim wartete auf einen Angriff, aber Angélique ruhte, als wüsste sie, dass sie Zeit hatten. Kims Kreislauf kapitulierte vor der Panik. Schwarze Punkte vermehrten sich und verengten ihre Welt zu einem Tunnel. Es war schrecklich und schön zugleich, das Bewusstsein zu verlieren.
Als sie die Lider wieder öffnete, war es Tag. Sie wusste nicht, welcher. Ihre Beine fühlten sich an, als hätte sie einen Sprung aus dem fünften Stock überlebt. Sie streckte sich noch einmal nach dem Telefon. So weit weg. Als läge es auf einem anderen Kontinent.
Etwas bewegte sich draußen. Ein Berner Sennenhund stand im Gras und sah sie fragend an. Jemand pfiff. Der Hund drehte den Kopf nach rechts. Kim streckte die Hand nach ihm aus. Sie wollte etwas sagen, aber sie musste schlucken wegen ihres kratzenden Halses.
Wieder ein Pfeifen. Eine Stimme rief den Namen des Hundes, so weit weg, dass sie ihn nicht verstand. Der Hund sah wieder zu ihr, quittierte ihr Röcheln mit einem leisen, fragenden Bellen. Sorry, schien das zu bedeuten, ich muss los. Kim sah ihm weinend hinterher.
Als Angélique noch klein gewesen war, hatte sie Babymäuse gefressen, zitterndes rosa Fleisch auf Thomas’ Handflächen. Als eine davon sich umdrehte, hatte Kim die eigenen Gesichtszüge in denen des Nagetieres erkannt.
Das war ein Traum oder eine Halluzination vom Durst. Die wache und reale Welt und die andere, die mit den Babymäusen, die aussahen wie sie, waren zunehmend schwerer voneinander zu unterscheiden. Es war hell und heiß, und ab und zu hörte sie ein Auto oben auf der Straße. Eines hielt an, und eine Tür wurde zugeschlagen. Jemand fragte, ob alles in Ordnung sei, und sie war gerettet.
Doch dann machte sie die Augen auf.
Sie erwachte in einem Traum. Es musste einer sein, denn es war dunkel, und in der Dunkelheit schien das blaue Licht. Sie war in einem Terrarium gefangen und … ihr Mund. Sie hatte etwas im Mund. Und das Licht, das war der Mond. Der echte Mond. Du bist wach.
Kim bewegte die Zunge. Schwerfällig kreiste sie umher und rührte durch kleine Kugeln, die in etwas steckten, das sich wie Zuckerwatte anfühlte. So klebrig.
Kim biss zu. Die kleinen Kugeln platzten. Sie drehte den Kopf, damit der Saft ihr aus dem Mund lief und nicht den Hals hinab.
Warte!
Zumindest ein Teil war Wasser. Sie atmete zweimal tief durch die Nase ein, und dann, auf drei, schluckte sie. Der Brechreiz schnürte ihr den Hals zu, aber es kam nur wenig. Vielleicht würde sie kotzen, wenn sie weggetreten war, und dann daran ersticken.
Augen auf. Grünes Gras hinter der gesplitterten Windschutzscheibe. Sie konnte es sehen, also war es hell. Sie lebte. Und stöhnte.
Die Kopfschmerzen hatte sie zuerst noch ignoriert. Neben dem, was in ihren Knien und ihrer Schulter los war, fielen sie nicht weiter ins Gewicht. Jetzt fühlte es sich an, als würde ihr Gehirn da oben drin anschwellen. Wahrscheinlich tat es auch genau das. Es war wie ein Fernseher, den jemand jedes Mal, wenn sie auf-wachte, ein bisschen lauter drehte. Inzwischen musste sie die ersten Risse im Schädel haben, wie ein Damm kurz vor dem Bruch. Sie stellte sich vor, wie ihre Augen platzten und wie angenehm es wäre, wenn der Druck auf diese Weise entweichen könnte.
Ein Fauchen rechts von ihr. Angélique saß über dem Handschuhfach. Wieder stellte sie die Vorderbeine auf. Diesmal war es mehr als eine Drohung. Was hast du getan? Kim spuckte. Der Schleim in ihrem Mund war zu kleinen, harten Krümeln getrocknet.
„Fick dich.“
Sie hörte die Worte in ihrem Kopf, aber was aus ihrem Mund kam, klang ganz anders.
Die Haare! Sie hatte die Haare vergessen!
Thomas hatte es ihr erklärt damals, ihre Abscheu für Faszination gehalten. Wenn sie sauer ist, schießt sie mit ihren Haaren wie mit Pfeilen. Giftige Pfeile. Es fühlt sich an wie Pferdefliegen, aber schlimmer.
Jetzt. Einer der Pfeile traf Kim ins Kinn, einer in die Wange und einer ins linke Auge. Jetzt fühlte es sich an, als würde es tatsächlich aufgehen wie ein Ballon, aber es wollte und wollte nicht platzen. Kim öffnete den Mund für das bisschen Schrei, zu dem sie noch fähig war.
Für den Angriff hatte Angélique einen Teil ihres festen Halts aufgegeben. Einen großen Teil. Sie fiel. Kim schrie und hob den Arm, aber ihr ausgezehrter Körper bewegte sich wie in Zeitlupe. Angéliques Hinterleib landete in ihrem Mund. Weil Kim versuchte, ihn noch rechtzeitig zu schließen, biss sie unwillentlich zu. Gleichzeitig bekam sie Angélique mit der rechten Hand zu fassen. Die Zähne der Grande Dame bohrten sich in ihren Finger, wie mit Säbeln hackte sie darauf ein.
Keine Zähne, hatte Thomas ihr früher erklärt. Cheliceren nennt man die. Kannst du das sagen, Cheliceren?
Anstatt sich Angélique aus dem Gesicht zu reißen, biss Kim zurück. Der Instinkt, dem sie damit folgte, hatte leichtes Spiel bei der Übernahme ihres geschwollenen Hirns. Angéliques drahtige Haare stachen in das wunde Fleisch ihrer Zahnlücken. Kims Kiefer zermalmte, was er zu packen bekommen hatte. Die ergrauten Beine, jedes einzelne lang wie ein Strohhalm, zappelten. In ihrem Todeskampf schlug Angélique um sich. Zuerst wild. Dann immer langsamer. Irgendwann zuckte sie nur noch. Ihre Innereien legten sich warm auf Kims Zunge. Ein letztes Bein wollte nicht aufhören, nach ihr zu treten – Lass mich los! –, aber schließlich bewegte sich auch das nicht mehr.
Willkommen in der Hölle, dachte Kim. Willkommen zu Hause.
Sie spuckte ihre Beute aus. Die Grande Dame fiel durch das gesplitterte Fenster ins Gras. Kim schrie. Nicht vor Schmerzen diesmal, nicht vor Angst. Es klang nicht menschlich, aber es klang gut. Sie hätte jetzt sterben können.
Nein.
Sie wollte die Hand wieder nach dem Telefon ausstrecken. Es war ein halbherziger Versuch, die Enttäuschung bereits mit eingeplant. Dann zuckte eine Idee durch ihr Dammbruch-Hirn wie ein Stromstoß. Kim packte Angélique am zerquetschten Unterleib. Als sie sie anhob, kreuzte ihr Blick das tote Starren von acht Augen. Kurz fürchtete sie, ein Funken Hass könnte das Leben in diesen Augen wieder entzünden. Doch nichts geschah. Kim spuckte Angélique blutig-braunen Schmand ins Gesicht
Es klappte. Die Grande Dame überbrückte das Stück, das gefehlt hatte. Kim wimmerte vor Erregung. Hoffnung. Langsam zog sie das Monster ihrer Kindheit wieder zu sich. Nichts. Das Telefon blieb, wo es war.
„Es muss gehen. Bitte.“
Beim zweiten Mal machten Angéliques Zähne – ihre gottverdammten Cheliceren! – leise „tack“, als sie an der Längsseite des Handys hängen bleiben. Kims Atem ging schneller. Ihr Arm zitterte.
„Wag es nicht“, herrschte sie ihn an. „Wag es ja nicht.“
Sie zog. Die winzigen Enterhaken, die sie nach dem Telefon geworfen hatte, hielten. Das Telefon rutschte aus dem Fußraum und fiel durch das kaputte Fenster ins Gras neben Kims Gesicht. Ihr Schreien ging in ein Lachen über, das Lachen in ein Weinen. Schließlich alles gleichzeitig.
Sie nahm das Handy und wählte den Notruf. Ihre Kehle war trocken und ihre Lippen geschwollen, ihr Mund eine Wunde. Irgendwann hatte die Frau am anderen Ende die notwendigen Worte trotzdem verstanden. Kreisstraße, Kurve, Böschung. Unfall.
„Bleiben Sie dran, sprechen Sie mit mir“, sagte die Frau.
Kim nickte. Gib ihr noch Handzeichen, du hohle Nuss.
Sie würden kommen, um sie zu holen, „aber es dauert einen Moment“, sagte die Frau. „Sie sind allein im Auto?“
Kim musste kurz darüber nachdenken. „Jetzt ja.“
„Ja?“
„Ja.“
Die Schulter würde noch eine Weile schmerzen, aber dann, irgendwann, wäre sie wie neu, sagte der Chirurg. Die Knie, leider, das war was anderes. Was ganz anderes. Kim hörte Stolz heraus, als er erklärte, er habe keinen ihrer Unterschenkel abnehmen müssen.
„Aber Sie werden Krücken brauchen. Möglicherweise für immer. Die Knie …“ Es folgte ein Schwall medizinischer Fachbegriffe, und irgendwo zwischendrin sagte er „völlig zerstört“.
Scheiß auf die Knie. Scheiß auf das Auge, das nur noch hell und dunkel voneinander unterscheiden konnte. Kim lächelte, weil sie lebte.
Nein, nicht deshalb. Weil sie es nicht tat.
Ihre Hand ging zum Bauch. Ein kurzer Krampf.
„Alles in Ordnung?“, fragte der Chirurg.
„Ein bisschen Bauchschmerzen“, flüsterte Kim.
„Ich hole eine Schwester.“
„Nein, es geht schon.“
Blödsinn. Es fühlte sich an, als würde ein Seeigel durch ihre Harnröhre kriechen. „Aua, Scheiße!“
Der Chirurg machte einen Satz von der Bettkante, auf der er gesessen hatte. „Was haben Sie denn?
„Mein Bauch!“
Zwischen Kims Beinen wurde es warm, als pinkelte sie sich ein. Der Chirurg zog das Laken von ihr runter. Sie besudelte das Weiß ihres Krankenhaushemdes, doch der Fleck im Stoff über ihrer Vagina war nicht gelb, sondern rot.
„Was ist das?“ Kim griff ihr Hemd, aber der Chirurg hob die Hand.
„Warten Sie!“
Kim fühlte ihn, als er sie spreizte. Der Chirurg blinzelte. Blaues Licht blendete ihn. Es schien aus ihr heraus. Der Schrecken in seinem Blick wechselte zur Neugier eines Forschers.
„Was?“, fragte Kim. Die Krämpfe ließen nach, als wäre sie auf dem Klo gewesen. „Was ist da?“
Die Netzfäden zogen sich an den Fingern des Chirurgen hinab. Vier haselnussgroße Eier lagen auf seiner Handfläche. Aus einem zappelte ein kleines Beinchen.
„Schatz?“
Mutter, Mutter, Mutter. Sie sah ihre Mutter, sie war selbst keine.
„Ich wollte dich nicht wecken. Alles in Ordnung?“
Kim rieb sich den Traum aus den Augen. „Nein.“
„Das wäre es dann erst mal.“
Das sagte der Chirurg, der ihr eben noch Geburtshilfe geleistet hatte. Er stand in der Tür. Draußen auf dem Flur huschte ein Pfleger vorbei. „Bei Fragen wissen Sie ja jetzt, wie Sie mich erreichen.“
Ihre Mutter bedankte sich.
„Hast du geträumt?“, fragte sie, als der Chirurg die Tür hinter sich geschlossen hatte. „Du hast ganz unruhig geatmet.“
Kim nickte.
„Vom Unfall?“, fragte ihre Mutter.
Sie nickte wieder.
„Du bist jetzt hier. Es sind nur Träume.“
Am Fußende des Bettes stand Thomas.
Kim sah ihn nicht an.
„Hattest du getrunken?“, fragte er.
„Thomas, bitte.“ Ihre Mutter drehte sich zu ihm um. „Das ist doch jetzt nicht wichtig.“
Er zuckte die Schultern. „Ich meine ja nur. Wenn sie Blut genommen haben, ist der Führerschein weg.“
„Das interessiert mich gerade richtig“, sagte Kim. „Sie haben überlegt, mir die Beine abzunehmen. Du könntest dich auch einfach freuen, dass ich noch lebe.“
„Tue ich ja.“
Kim wollte antworten, aber ihr Hals war rau. Sie nahm den Plastikbecher mit Pfefferminztee auf dem Nachttisch. Leer.
„Ich hole dir einen neuen“, sagte ihre Mutter und ging mit dem Becher nach draußen.
Thomas’ Hände krallten sich fester um das Bettgestell. Die Knöchel seiner Fäuste waren weiß. „Was hast du gemacht?“
Wie im Auto schmierte Kim ihren Hals mit Spucke. Trotzdem war ihre Erwiderung kaum zu hören. „Was?“
„Tu bloß nicht so. Was hast du mit ihr gemacht?“
„Ich weiß nicht, was du meinst.“
„Klar.“ Er schlug auf das Bettgestell. Auf dem Weg nach draußen stieß er fast mit ihrer Mutter zusammen. Tee schwappte über den Becherrand.
„Mist!“ Ihre Mutter zog ein Taschentuch aus der Hose. „Gehst du raus?“, fragte sie Thomas.
„Ich warte im Auto.“
„Ich bleibe aber noch hier.“
„Schön.“
Kim stützte sich auf die Ellbogen. Die linke Schulter war absolut nicht damit einverstanden.
„Thomas?“, sagte sie.
Er sah sie an.
„Sie war schwanger.“
Ihre Mutter blickte zwischen ihnen beiden hin und her. „Bitte?“
Kim sah, wie Thomas hinter geschlossenen Lippen die Zähne zusammenbiss.
Ihre Mutter setzte sich wieder ans Bett und gab ihr den Tee. „Was hast du gesagt?“
Kim ließ den Kopf wieder ins Kissen sinken. „Ach, nichts.“
Sie blickte hoch zur Decke. Nahm einen Schluck Tee. Lecker. Arschloch.
Kim lächelte. Zuletzt hatte sie so gelächelt, als ihr Vater noch gelebt hatte. Aber die Träume blieben, und ihr Name blieb, wie Krücken, falsche Zähne und ein fast blindes Auge: Angélique.
***
***
BASEMENT TALES Vol. 10 – BLAUES LICHT
180 Seiten
ISBN: 978-3-94765 -217-4
Erstveröffentlichung: Januar 2025
Verlag: The Dandy is Dead Publishing House
Mehr Infos zur Anthologie und zum Verlag findet ihr hier.
Kurzbio des Autors der PAN-Kurzgeschichte JANUAR/FEBRUAR:
Jan-Christoph Prüfer lebt in Minden. Er hat nicht mehr Angst vor Spinnen als andere Leute auch. Fotos sind meistens so na ja, und das hier ist noch eins von den besseren.