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DEADLINE präsentiert: DIE PAN-KURZGESCHICHTE Juli/August 2025

Das wunderbar vielfältige und breite Genre der Phantastik hat auch im deutschsprachigen Raum viel zu bieten. Sei es im Film, im Comic, im illustrativen Bereich und natürlich auch in seiner literarischen Form.

Das PAN – Phantastik Autor*innen Netzwerk unterstützt Autor:innen, bietet Networking, Support rund ums Schreiben und vergibt seit 2021 Arbeits-Stipendien. Die beliebte Aktion „PAN-Kurzgeschichte“ soll einem breiten Publikum deutschsprachige Phantastik näherbringen – und Lust auf mehr machen. Als Kooperationspartner von PAN präsentieren wir euch seit Mai 2024 kurzen phantastischen Lesestoff. Alle zwei Monate eine andere Geschichte. In voller Länge. Auf unserer Website. 

Die achte Story unserer Koop stammt aus der Anthologie MÄNGELEXEMPLARE 5: AM ENDE DER ZEIT, in der 13 Schreibende Horror auf Dystopie treffen lassen.
Denn „am Ende der Zeit erwartet uns kein neuer Anfang“ …

Die Hexe aus Apartment 313

von Arthur Gordon Wolf

»Sind wir bald da?«

Die Frage brachte die Gruppe zu einem abrupten Halt. Der Anführer, ein schlaksiger Blondschopf mit zu Stacheln gegelten Haaren, wirbelte herum und ging mit weit ausgreifenden Schritten auf das letzte Mitglied seiner kleinen Entourage zu. »Weißt du was, Freck? Du klingst fast so wie mein sechsjähriger Bruder. Wenn dir schon dieser kleine Spaziergang hier zu viel ist, bist du wohl denkbar ungeeignet für unsere Gang. Meinetwegen können wir die ganze Sache auch sofort abblasen.«

Der Junge, der wegen seiner vielen Sommersprossen den Spitznamen Freck trug, hob abwehrend die Arme. »Nein, nein!«, keuchte er. »So hab ich das nicht gemeint, Spike. Ich … ich war einfach nur neugierig, wann es losgehen wird.« Der kleine Spaziergang, wie Spike es nannte, dauerte nun schon fast eine Stunde und hatte die fünf Jugendlichen an die Außengrenze der Stadt geführt. Die Wohnhäuser zeigten immer deutlichere Anzeichen von Alter und Verfall. Teile mancher Fassaden waren abgebröckelt, Fenster zersplittert oder mit Brettern vernagelt. An den Straßenrändern parkten keine Air-Cruiser oder andere Gleiter mit Plasma-Convertern; stattdessen passierte die Gruppe immer häufiger die ausgeschlachteten oder ausgebrannten Wracks uralter Hybrid-Fahrzeuge. Es verhielt sich hier wie in allen anderen Städten der Nördlichen Föderation: Je weiter man sich vom Zentrum entfernte, um so unwohnlicher und düsterer wurde die Gegend. Mit jedem Kilometer, dem man sich der Peripherie näherte, verringerte sich der Einfluss der UMC und all ihrer Tochtergesellschaften. Ihre Träume sind unser tägliches Brot! versprachen die Holo-Plakate von nahezu jeder Häuserwand. Kein Produkt, sei es nun ein neuer VR-Recorder, Synth-Wein der Spitzenklasse oder Schuhe von Matsumoto, das nicht binnen sechs Stunden geliefert werden konnte. Perfekte Waren für eine perfekte friedliche Umwelt, in der die Außentemperatur auf perfekte 22 Grad eingestellt war. Von solchen paradiesischen Zuständen war in dieser Umgebung kaum etwas zu erahnen. Risse und tiefe Schlaglöcher im Asphalt kündeten davon, dass die städtische Rundum-Versorgung ab hier nur noch mangelhaft gewährleistet wurde. Wenn überhaupt. In vielen der noch bewohnten Etagen blieb es auch am Abend dunkel.

Spike beugte sich über eines der Asphaltlöcher, in dem eine dunkle ölige Substanz schwamm. Er nutzte die schwarz-schillernde Fläche als Spiegel und zupfte sich gewissenhaft eine seiner Haarstacheln zurecht. »Nur keinen Stress«, sagte er. »Es geht los, wenn wir unser Ziel erreicht haben. Und das ist keinen Klick mehr von hier entfernt. Ich kann es förmlich schon riechen.« Er richtete sich auf und sog die Luft tief in seine Lungen. »Na, könnt ihr es auch schon riechen?«

»Oh ja!«, entgegnete der Junge direkt hinter Spike. Da er seinem Anführer stets überallhin in geringem Abstand folgte, wurde er hinter vorgehaltener Hand auch Schatten genannt. Der offizielle Spitzname des stark übergewichtigen Gangmitglieds lautete aber Whopper oder kurz Whopp. Er war nicht sonderlich groß, sogar noch etwas kleiner als der schmächtige Freck. Dieses Manko glich er jedoch durch einen beachtlichen Körperumfang aus. Arme und Beine wirkten wie aufgeblasene Schläuche, die um ein kleines Fass herum montiert worden waren. Diese plumpe Erscheinung täuschte allerdings. Whopp mochte nicht sonderlich schnell sein, doch hatte er einmal ein Opfer gepackt, mutierte er zu einer menschlichen Schrottpresse. So manches vermeintlich stärkere Mitglied verfeindeter Gangs hatte mit dem fetten Jungen schon seine schmerzhaften Erfahrungen gemacht. Whopp imitierte die Geste seines Anführers und sagte: »Der Duft ist eindeutig. Es riecht giga-plus-plus nach verrosteten Reps, altem Öl und jeder Menge Spaß.« Er wandte sich den beiden anderen Mitgliedern der Gruppe zu. »Oder was meint ihr?«
Die beiden Jungen nickten zustimmend. Obwohl sie fast drei Jahre trennte, wirkten die Colshaw-Brüder wie Zwillinge. Angefangen bei den extrem kurzen blonden Haaren über die Shirts, auf denen sich stets provokante Sprüche befanden, und Drillichhosen mit Fleckentarnung, bis hin zu den schweren Stiefeln mit Titankappen, ähnelten sie sich wie ein Ei dem anderen. Elon, der ältere der beiden, war allerdings zwei Fingerbreit kleiner als sein Bruder. Eine Tatsache, mit der ihn Mackenzie, kurz Mack genannt, ständig aufzog. An diesem Tag trugen die Brüder rote Shirts, auf denen in schwarzen Lettern zu lesen war: Pussy Control Squad. Pussy konnte natürlich vieles bedeuten, so etwa Katze, das weibliche Geschlechtsorgan oder deren Besitzerin sowie ein männlicher Schwächling oder Loser. Mit Katzen hatten die Colshaws nichts gemein, was den Sinn des Begriffs eindeutig einschränkte. Es war zwar auch innerhalb der Gang bekannt, dass zumindest Mack bislang keinen oder nur sehr geringen direkten Kontakt mit dem weiblichen Geschlecht vorzuweisen hatte. Dies hinderte den Teenager jedoch nicht daran, seine vermeintliche sexuelle Potenz umso offensiver zu bewerben. So streckte er nun seine nicht sonderlich imponierende Brust vor, wodurch der Schriftzug auf dem T-Shirt beinahe 3D-mäßig nach vorne trat. »Roger, Whopp«, sagte Mack. »Der Duft von Pussys wäre mir zwar lieber, doch dieser Dunst hier ist auch giga-a!«

Whopp stieß ein fast mädchenhaftes Kichern aus. »Als ob du den Unterschied zwischen einer Pussy und einer alten Dose Ölsardinen herausschnuppern könntest!«

»Pass auf, was du sagst, du Hefeklops!« Mack wollte sich gerade auf den Dicken stürzen, als er von seinem Bruder zurückgehalten wurde.

Nun war es an Spike, ein Machtwort zu sprechen. »Schluss mit dem kindischen Gezanke! Wenn ihr beide euch nicht sofort zusammenreißt, schicke ich euch auf eine Exkursion, die Frecks kleine Mutprobe hier wie einen Spaziergang im Park erscheinen lässt.«

Augenblicklich kehrte Ruhe ein. Jedes Gangmitglied schien plötzlich etwas Interessantes auf dem Boden gefunden zu haben. Nur Freck blickte sich nervös nach allen Seiten um. Dem Jungen war offenbar erst jetzt so richtig bewusst geworden, was der eigentliche Grund dieses ermüdenden Trips war.

Spike schüttelte genervt den Kopf und erklomm dann einen kleinen Backsteinhügel, der mit verbogenen Stahlgittern und Eisenrohren gespickt war. Oben angelangt, streckte er seinen Arm nach Osten aus. Er warf sich dabei in eine Pose, die dem Denkmal eines uralten Entdeckers oder Freibeuters ähnelte. »Klappe zu und Lauscher auf, Ticks und solche, die es werden wollen!«, rief er nach unten. »Meine Nase hat mich nicht betrogen. Das Ziel der heutigen Mission liegt direkt vor uns.« Whopp hastete sofort schnaufend den Schuttberg hinauf.

»Wo? Wo denn?«

Nur wenig später folgte der Rest der Gruppe seinem Beispiel.

Von der kleinen Erhebung aus hatte man einen guten Überblick über den östlichen Stadtrand oder das, was einmal die Peripherie gewesen war. Straßen mit zerborstener Asphaltdecke verwandelten sich mehr und mehr in unpassierbare graue Trassen, die unter Schutt und Unkraut verschwanden. Plattenbauten, von deren Außenmauern nur noch eine oder zwei standen, enthüllten Zwischengeschosse mit Wohnungen, in denen zuweilen noch das Mobiliar sichtbar war, und Treppenhäuser, die ins Nirgendwo führten. Die ehemals begrünten Bereiche zwischen den Häuserzeilen hatten sich im Laufe der Jahre in wilde Müllkippen verwandelt. Inmitten dieser Ruinen und Berge aus zerborstenem Beton und rostendem Metall mutete das fünfstöckige Wohnhaus am Ende der noch befahrbaren Straße geradezu einladend an. Form und Bauart wiesen es eindeutig als antiken Überrest einer längst vergangenen Epoche aus. Seine Blütezeit mochte der Kasten wohl vor mehr als zweihundert Jahren gehabt haben. Verglichen mit modernen Gebäuden waren die Fenster winzig, die teilweise abbröckelnde Fassade wirkte primitiv und das mit Schieferplatten gedeckte Dach mit den zwei Erkern und zwei Schornsteinen regelrecht steinzeitlich. Und doch brannte hinter einigen der nicht verbarrikadierten Fenster Licht. Offenbar verbarg sich unter all dem zerbröselndem Schiefer eine noch intakte Photovoltaik-Anlage.

»Erstaunlich, dass hier Leute wohnen«, bemerkte Elon. »Bestimmt irgendwelche Feuerhüter.«

Spike schüttelte den Kopf. »Wohl eher nicht. Feuerhüter würden nie so nah der Stadt ihre Zelte aufschlagen. Die Menschen, die hier leben, verzichten immerhin nicht auf Elektrizität. Wenn meine Informationen stimmen, gibt es im Haus sogar noch fließendes Wasser. Minimal-Luxus sozusagen.«

Er drehte sich um und bedachte vor allem Freck mit einem sonderbaren Lächeln. »Nein, die wenigen Leute, die noch in diesem Mausoleum ausharren, lehnen Technik nicht per se ab«, sagte er. »Wer weiß, vielleicht betreibt der eine oder andere Mieter sogar eine KI-Einheit. Die Leutchen dort drüben sind auf ihre ganz eigene Art sehr speziell.«

»Wie meinst du das?«, fragte Freck. »Wohnen dort etwa Kriminelle? Drogendealer, Hacker und dergleichen?«

Spike machte eine abwägende Geste. »Auszuschließen ist das nicht. Ein paar krumme Typen gibt’s dort mit Sicherheit. Die Mehrheit der Mieter dürfte allerdings eher unter die Rubrik schräge Vögel oder Sonderlinge fallen.« Als er den verwirrten Ausdruck seines sommersprossigen Gegenübers bemerkte, verstärkte sich sein Grinsen. »Wir beobachten dieses seltsame Haus schon eine ganze Weile«, begann er zu erklären. »Wir sind eher zufällig darauf gestoßen. So richtig schlau sind wir aber bis heute nicht daraus geworden. Einige der Mieter verlassen das Gebäude offenbar nie, andere wiederum nur in der Nacht.« Er kicherte. »Ein seltsames Volk, verstehst du? Tja, und so sind wir auch auf die Idee gekommen, deine Initiation hier vor Ort abzuhalten.«

Freck blinzelte nervös. »Meine … was?«

»Dein kleines Aufnahmeritual für unsere Gang«, sagte Spike. »Deine Mutprobe, um ein echter Tick zu werden. Nenn es, wie du willst. Du sollst uns ein paar Infos über einen der Bewohner beschaffen und damit gleichzeitig beweisen, dass du kein Moly bist.« Molys waren bizarre künstliche Geschöpfe aus diversen VR-Spielen, die wie eine Mischung aus violettem Teddy und übergroßem Maulwurf aussahen. In Moly-Hunt oder Molycalypse krochen diese Wesen plötzlich ängstlich schnuppernd aus diversen Erdlöchern und der Spieler musste sie dann abschießen. Jeder Treffer wurde mit einem hohen Quieken bestätigt.

Spike schlug dem immer noch irritiert blickenden Jungen auf die Schulter. »Alles giga-eazy, wie du siehst. Eine coole Win-Win-Action.«

»Cool-giga-eazy-win-win!«, bestätigte Whopp grinsend. »Mega-tera-Win-Win!« Er hatte nicht nur die Angewohnheit, seinem Anführer überallhin zu folgen, er liebte es auch, dessen Aussagen zu wiederholen. Meist noch in übersteigerter Form.

Freck ging in die Hocke und spähte hinüber zum einzigen noch halbwegs intakten Gebäude in der Umgebung. Die Dämmerung hatte eingesetzt und immer mehr Lichter flammten nun hinter den schmalen Fenstern auf. Bei einigen der Wohnungen bewegten sich die hellen Spots. Es sah aus, als ob große Glühwürmchen in den Zimmern herumirren würden.

»Soll ich mir einfach irgendeinen Typen dort drüben aussuchen?«, fragte er.

»Oh nein!« Spike zeigte auf die rechte Seite des Hauses. »Siehst du dort an der Ecke im dritten Stock das wabernde Licht?«

»Ja«, bestätigte Freck. »Sieht aus, als ob jemand ein Lagerfeuer im Zimmer angezündet hätte. Was ist das?«

Spike zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Aus diesem Grund sollst du dort ja mal nachschauen.«

»Jetzt gleich?«

»Nein, wir warten erst ab, bis die Verrückte ihren Abendspaziergang macht.«

»Die Verrückte? Dort oben wohnt eine Frau?«

»Yep«, mischte sich Mack in das Gespräch ein. »Eine total abgespacte Alte. Sie trägt immer so einen dunkelroten Umhang und geht nur raus, wenn es dunkel ist. Keine Ahnung, was sie dann treibt.«

»Sie muss mutig oder komplett durchgeknallt sein«, sagte Freck. »Die Gegend ist ja schon am Tag nicht sonderlich einladend; in der Nacht dürfte es hier besonders für eine Frau ein höchst gefährliches Terrain sein.«

Mack nickte zustimmend. »Ich tendiere ja mehr für durchgeknallt, doch die Meinungen darüber, was die Alte nun wirklich ist, gehen weit auseinander.«

»Oh ja!«, bestätigte Whopp. »Mega-tera-weit auseinander. Manche glauben, sie sei gar kein Mensch, sondern ein total mutierter Rep.«

Freck bekam große Augen. »Ein Replikant? Ein P- oder S-Modell?«

»Vielleicht auch eine ganz andere Baureihe«, sagte Elon. »Irgendwas, das durch den X-Virus verändert wurde.«

»Der X-Virus?« Freck stieß ein kurzes Lachen aus. »Nun macht aber mal halblang. Jeder weiß doch, dass es den X-Virus nicht mehr gibt. Alle haben vom ABEC-Phänomen berichtet. Von ABC bis CERCO. Sogar der strunzdämliche Fireside hat zahllose Breaking News dazu gebracht.« Fireside war ein Sender, der ausschließlich das Video eines behaglich brennenden Kaminfeuers im Programm hatte.

Spike seufzte. »Glaubst du etwa alles, was man dir im Netz erzählt? Der ganze ABEC-Schwachsinn ist so real wie ein VR-Märchen für Zweijährige. Nichts weiter als aggressive Propaganda zur Beruhigung der Massen. Dreiste Lügen made by UMC.«

»Aber alle sagen doch, es gäbe keine Probleme mehr mit KI-Einheiten«, entgegnete Freck.

»Dann schau dir mal genauer an, wer diese alle sind.« Spike machte eine weit ausholende Geste. »Laut offiziellen Medienverlautbarungen dürfte es das alles hier nicht geben. Und erst recht nicht den Battle Ground dahinter. Man erzählt uns doch nur von perfekten Städten, von perfekten Wohnungen und einem glücklichen, scheißperfekten Leben. Nur ganz weit draußen in den Boonz, da herrschen angeblich Chaos, Dreck und Krankheit. Die selbstgewählte Hölle der so genannten Feuerhüter. Pah! Alles nur ein dampfender Haufen Replikantenkacke! Man hat uns nur dazu gebracht, dass wir einfach nicht mehr genau hinschauen. Dass wir auf den wirklichen Mist um uns herum überhaupt nicht mehr schauen wollen, kapierst du?«

»Ihre Träume sind unser täglich Brot«, rezitierte Elon einen von unzähligen Werbesprüchen, die im Minutentakt auf allen nur erdenklichen medialen Plattformen von UMC und ihren Tochtergesellschaften auf die Anwender niederprasselten. »Sie könnten genau so sagen: Setzt euch eine verdammte Ray Ban auf, kauft unseren Schrott und haltet ansonsten die blöde Fresse!«

»Wow!« Freck fuhr sich nachdenklich durch sein lockiges rotes Haar. »Wenn man euch so reden hört, könnte man glauben, die Ticks wären selbst eine Splittergruppe der Feuerhüter.«

»Das ist doch absolute Punkware!«, entgegnete Spike. »Wir leben schließlich hier in der Stadt, nutzen Holo-Snaps, hören Cyberlypse und spielen VR-Adventures. Wir sind ausgemachte Cyberfreaks. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass wir zu jedem Bit und Byte, das uns UMC vorsetzt, sofort Giga-a! schreien.«

»Kapiert«, sagte Freck. »Dann ist diese seltsame Frau dort drüben also ein desertierter Rep? So ähnlich wie die verrückten Katzen und sonstigen Viecher, die über den Battle Ground streifen sollen?«

»Gut möglich«, sagte Spike. »Das würde zumindest einige der Gerüchte über sie beantworten.«

»Welche Gerüchte kursieren denn noch über sie?«

Whopp ließ wieder sein nervig hohes Kichern hören. »Och, die verrücktesten. Einige glauben, sie wäre eine Art Medium oder eine Wahrsagerin. Manche behaupten sogar, die Tusse hätte schon lange vor der Zeit von Replikanten und UMC in dem Haus gelebt.«

Freck nickte lächelnd. »Na klar doch. Und wie soll das gehen? Ist sie etwa eine Untote? So eine Kreatur wie aus Zombiedoom oder Biohazard VIII?«

»Yep, klingt giga-fakey«, sagte Spike. »Alles nur dummes Gerede. Wahrscheinlich ist sie nur ein klein wenig sonderbar. Eine harmlose verwirrte Alte mit einem Tick für ausgefallene Klamotten.«

Sein Grinsen erinnerte Freck an eine Figur aus dem Horror-VR-Spiel Cannibalz. Misstrauisch blickte er sich in der Runde um. »Wie viele von diesen so genannten Gerüchten habt ihr selbst denn so verbreitet?«

»Wir?« Whopps Schweinsäuglein drohten fast aus den Höhlen zu platzen. »Nichts! Null! Zero! Großes Pfadfinderehrenwort!« Zur Bekräftigung schlug er sich mit der Faust gegen seine massige Brust. Für drei Herzschläge blieb es still, dann brachen plötzlich alle Ticks in ein dröhnendes Gelächter aus.

Freck hob abwehrend die Hände. »Okay, okay. Ich habe verstanden. Und was machen wir jetzt?«

»Warten«, antwortete Spike. Er zog einen Streifen Pax hervor und begann, genüsslich das Lakritz zu verspeisen.

***

Die Geduld der Gang und ihres Anwärters wurde auf eine harte Probe gestellt. Es war beinahe Mitternacht, als sich endlich etwas vorm Haus tat.

»Da!«, sagte Spike plötzlich. »Da ist sie.« Er schaute dabei durch ein SPY4000, ein etwa Handteller großes Fernglas mit Restlichtverstärker. Die Sonderfunktion war in dieser Situation eher überflüssig, da der Mond und der diffuse Lichtsmog der nahen Stadt den Vorplatz ausreichend beleuchteten. Freck erkannte eine einzelne Person, die sich langsam in Richtung Innenstadt bewegte. Sie trug einen dunklen, matt schimmernden Umhang. Langes schwarzes Haar fiel in Wellen darauf. Als Spike ihm das Glas reichte, nahm er es zur gründlicheren Musterung entgegen.

Fast augenblicklich fiel ihm ein Detail auf. »Die Frau ist ja barfuß!«, sagte er.

Whopp kicherte. »Madame Purpur trägt niemals Schuhe.«

»Madame wer?«, fragte Freck. Vergeblich versuchte er, das Gesicht der Fremden zu erkennen, doch lange Haarsträhnen formten ein sich ständig wandelndes und windendes Schutzgeflecht.

»Purpur«, entgegnete Whopp. »Wir haben sie so wegen ihres dopey Umhangs genannt. Keine Ahnung, wie es ihr gelingt, in dieser Gegend noch alle Zehen zu behalten. Total crunky-crazy, die Alte.«

Fasziniert beobachtete Freck, wie die Frau weiter der maroden Straße folgte. Sie war in gemächlichem Tempo unterwegs und ihre Schritte verrieten nicht die geringste Unsicherheit. »Wo will sie denn um diese Zeit noch hin?«

Spike zuckte leicht mit den Schultern. »Keine Ahnung. Vielleicht macht sie Lebensmitteleinkäufe. Pizza-Land beliefert diese Gegend schließlich nicht. Nicht einmal Chee-B-B-Taxen lassen sich hier blicken.« Er biss ein Stück Pax ab und kaute nachdenklich. »Einige wollen auch beobachtet haben, wie sie mit irgendwelchen Typen zurückkam. Seltsame Nachtbekanntschaften. Niemand hat aber jemals gesehen, wie ein Fremder das Haus wieder verlassen hat. Weder am Tag noch in der Nacht.« Er nahm das SPY4000 zurück und warf einen letzten Kontrollblick auf die Frau im purpurnen Cape. »Alles klar. Du dürftest nun knapp zwei Stunden haben, bevor sie zurückkommt.« Er verstaute das Fernglas wieder in seiner Weste und wandte sich dann dem rothaarigen Jungen zu. »Dann wird’s jetzt ganz offiziell, Frecky-Boy. Hast du nach wie vor den Wunsch, Mitglied bei den Ticks zu werden?«

Der Angesprochene nickte heftig. »Ja, voll tera-kjell, Mann!« Kjell war ein Slang-Ausdruck, der sich von der Modemarke Kjellberg ableitete und in etwa super-cool bedeutete.

»Sehr schön«, sagte Spike und ließ wieder sein düsteres Grinsen aufblitzen. »Um als echter Tick Teil unserer kleinen, aber feinen Gemeinschaft zu sein, musst du lediglich deine Eignung beweisen. Deine Aufnahmeprüfung besteht darin, dir Zugang zu jenem Haus dort drüben zu verschaffen, das äußere Apartment rechts im dritten Stock zu betreten und etwas aus der Wohnung zu entwenden. Ein Ding, eine Sache, irgendwas, was sich eindeutig mit Madame Purpur verbinden lässt. Es muss uns zudem etwas über sie verraten, was wir bislang noch nicht wissen. Ein Geheimnis. Hast du deine Aufgabe verstanden?«

»Ja, aber …«, begann Freck, wurde allerdings durch eine mahnende Geste Spikes zum Schweigen gebracht. »Kein aber«, sagte der Anführer. »Aber ist ein Wort, das nur Loser verwenden, doch Ticks sind keine Loser. Ich würde mich an deiner Stelle beeilen, in spätestens zwei Stunden ist sie wieder hier. Du willst ihr doch nicht begegnen, oder?«

»Wieso?« Freck versuchte ein halbwegs überzeugendes Lächeln. »Denkst du etwa, ich hätte Angst vor dieser verrückten Alten?«

»Die solltest du vielleicht besser haben«, sagte Mack. »Wenn du Pech hast, belegt sie dich mit einem Fluch.«

Freck lachte laut auf. »Na sicher. Was denn sonst noch? Verwandelt sie sich bei Vollmond auch noch in einen Werwolf?«

»Wundern würde es mich nicht«, erwiderte Mack. »Weißt du, wie man Madame Purpur hier in der Gegend auch noch nennt?«

»Nein. Etwa die Barfüßige Bekloppte?«

Macks Lächeln fiel beinahe so böse wie das von Spike aus. »Nicht ganz«, sagte er. »Man nennt sie auch die Rote Hexe.«

»Höchst interessant.« Freck tippte sich mit dem Zeigefinger an einen imaginären Hut. »War nett mit euch zu plaudern, Jungs, doch ich hab’ leider einen dringenden Job zu erledigen. Behaltet das Fenster im dritten Stock im Auge. Schon bald werde ich euch von dort oben zuwinken.« Mit diesen Worten huschte er den Schuttberg hinab und eilte über den rissigen Asphalt auf das Wohnhaus zu.

***

Frecks Enthusiasmus besaß in etwa die Halbwertzeit einer Schneeflocke auf der Oberfläche der Sonne. Nur die Tatsache, dass ihn vier Augenpaare aufmerksam beobachteten, hielt ihn davon ab, sofort fluchtartig in die genau entgegengesetzte Richtung zu rennen. Die Gegend wirkte schon im grellen Sonnenschein bedrohlich, jetzt allerdings, im diffusen Schimmer einiger weniger Xenon-Strahler, hatten eindeutig die Schatten die Oberhand gewonnen. Seine Fantasie gaukelte ihm die verrücktesten Formen vor. Überall sah er kauernde CFT-Junkies, sprungbereite Replikantenkatzen und Kreaturen, die er keiner ihm bekannten Spezies zuordnen konnte. Es waren vor allem diese unförmigen, vielarmigen Schatten, die sein Rückenmark abwechselnd mit eisigen und heißen Schauern überzogen. Dennoch hielt Freck unbeirrt auf das Haus zu.

Die Fassade mochte früher einmal weiß gewesen sein, nun erinnerte sie mehr an das mit roten und schwarzen Flecken durchsetzte Grau eines verwesenden Fischs.

Vier Stufen einer halb zerborstenen Treppe führten zum antik anmutenden Rundportal. Freck warf einen prüfenden Blick auf die dreireihige Klingelanlage. Selbst wenn er gewusst hätte, welche Wohnung genau welcher Schelle zugeordnet war, so hätte er deren Bewohner unmöglich identifizieren können. Nur in zwei oder drei Feldern konnte er überhaupt so etwas wie die Reste eines Namens erahnen. Wenn die wenigen hier noch lebenden Mieter überhaupt noch Post erhielten, was er bezweifelte, so musste der Briefträger die Leute persönlich kennen. Für eine P-102-Zusteller-Einheit allerdings ein Klacks, dachte er.

Freck suchte nach Sicherheitstechnik, doch nirgendwo fand sich ein Iris- oder Fingerabdruck-Scanner. Nicht einmal eine primitive Video-Kamera war installiert worden. Nur der zerbeulte Lautsprecher einer uralten Intercom-Anlage bewies, dass dieses Gebäude doch ein paar Jahre nach dem Mittelalter errichtet worden war.

Freck rüttelte probehalber an der Eingangstür, doch das massive Portal bewegte sich keinen Millimeter. »Wäre ja auch zu schön gewesen«, murmelte er. Für solch einen Fall trug er immer eine LockPick-AI bei sich, einen Dietrich, der vor allem der Überwindung von elektronisch überwachten Schließsystemen diente. Er zog das etwa kugelschreibergroße Gerät aus seiner Gesäßtasche und nahm einige Justierungen daran vor. Rein mechanische Schlösser stellten für dieses Gadget eher eine Unterforderung dar. Schon wenige Sekunden nachdem er den intelligenten Bart in das Schloss geschoben hatte, machte es hörbar klack. Er zeigte seinen für ihn nicht sichtbaren Beobachtern ein Victory-Zeichen und betrat dann das Foyer des Hauses. Dabei musste er sich zwingen, einen entschlossenen Eindruck zu vermitteln. Um jeden Preis wollte er vermeiden, zögerlich oder gar ängstlich zu erscheinen.

Freck musste vier weitere Steinstufen erklimmen, um in eine diffus schimmernde Halle zu gelangen. Ein Blick auf die Reihen der Briefkästen zu seiner Rechten untermauerte seine Theorie über ein komplett von der Außenwelt abgeschnittenes Haus. Wie schon auf dem Klingelbrett, so waren auch hier nahezu alle Namen entfernt oder unkenntlich gemacht worden. Zudem fehlten an vielen Kästen die Türen. Ein Brief, der hier eingeworfen wurde, wäre augenblicklich auf dem mit Unrat verschmutzten Boden gelandet. Aber hier bekommt niemand mehr Post, dachte er. Wahrscheinlich schon seit Jaron Laniers Tod nicht mehr.

Er verharrte kurz, um die eigentümliche Atmosphäre in sich aufzunehmen. Stille und der Geruch von Staub und altem Leim umgaben ihn. Florale Muster, die bar jeder erkennbaren Farbe nur noch Gespenster ihres früheren Selbst waren, bedeckten die Wände. Ein eisiger Schauer wand sich Frecks Rücken hinab. So oder so ähnlich musste es wohl in ägyptischen Grabmalen ausgesehen haben.

Mit zaghaften Schritten durchmaß der Junge das Foyer, bis er das Treppenhaus erreichte. Angesichts des Alters des Gebäudes konnte er sich die Suche nach einem Aufzug schenken. Okay, dachte er. Kein Ding. Immerhin sind es nur drei Stockwerke und nicht 30.
Die Treppe war überraschend breit und aus einem unbekannten Holz gefertigt. Im Laufe der Jahrhunderte und aufgrund zahlloser Menschen, die die Stufen immer wieder hinauf und hinab gestiegen waren, hatte sich eine schwarze Patina darauf gebildet. Schon als Freck seinen Fuß auf die erste Stufe setzte, ertönte ein laut vernehmliches Knarren.

Das zum Thema heimliches Anschleichen.

Während er sich dem ersten Stock näherte, fühlte Freck sich unangenehm an Black Sails of Blood erinnert, ein Horror-VR-Spiel, in dem es vor Geisterschiffen, Zombies und Meeresungeheuern nur so wimmelte. Der alte Dreimaster, auf dem der Spieler nach verborgenen Schätzen suchen musste, hatte fast identische Knarr-Geräusche von sich gegeben. Der Aufgang wirkte dabei ähnlich finster wie die Kajütengänge im Bauch des morschen Schiffes. Nur winzige Xenon-Spots, die in großen Abständen an langen Kabeln von der Decke hingen, spendeten dürftige Lichtinseln. In den Schatten dazwischen konnte sich alles Mögliche verbergen, angefangen von Kakerlaken und Monsterspinnen bis hin zu durchgedrehten Replikanten der Marke Godzilla.

Freck kniff sich fest in das empfindliche Fleisch zwischen Daumen und Zeigefinger. »Du und deine dämliche Fantasie!«, murmelte er. »Werd wieder klar im Kopf und konzentrier dich, du Full-Dork! Das hier ist nur ein altes halb verlassenes Gemäuer voller Dreck, Spinnweben und mieser Erinnerungen.«

Und möglicherweise einer Hexe, fügte eine innere Stimme hinzu. Und sonstiger zwielichtiger Gestalten.

Auf der ersten Etage wagte Freck einen flüchtigen Blick in den Korridor, der zu den Wohnungen führte. Staubige Stille umfing ihn. Laub, von der Decke gefallener Putz und Glassplitter von ehemaligen Lampen bedeckten den Boden. Nichts deutete darauf hin, dass an diesem Ort noch Menschen wohnten. Siehst du, beruhigte er sich selbst, nirgendwo Monster. Nur eine jämmerliche alte Ruine.

Freck hatte beinahe das zweite Stockwerk erreicht, als er plötzlich innehielt. Vier oder fünf Stufen über ihm hockte eine menschliche Gestalt auf der Treppe. Da sich die Person zwischen den spärlichen Lichtflecken befand, konnte er kaum mehr als ihren Umriss erkennen. Der oder die Fremde wirkte hager und in sich gesunken. Der Oberkörper war stark nach vorne gebeugt, wobei der Kopf auf den Knien zu liegen kam.

»Hallo?«, rief er unsicher nach oben. Es folgte keine Reaktion. Wer oder was auch immer sich diesen gespenstigen Ort als Ruheplatz ausgesucht hatte, schien offenbar zu schlafen. Oder aber ist schon vor vielen Jahren gestorben, schoss es ihm durch den Kopf. Unsicher wagte sich Freck zwei weitere Stufen nach oben. Die Vorstellung, eine Mumie passieren zu müssen, war kaum weniger erbaulich, als wenn dort ein geifernder Hunde-Replikant seine Zähne gebleckt hätte.

Freck blickte hinauf zum trüben Licht der zweiten Etage. Etwa sieben oder acht Stufen trennten ihn noch von ihr. Er schluckte trocken und marschierte dann los. Noch acht. Noch sieben. Noch …

»Wo willst du denn hin, Kleiner? Etwa zu der verrückten Russin im Dachgeschoss?«

Freck schreckte so stark zusammen, dass er sich erstmals am Geländer festklammern musste. Ohne den Halt hätte er mit Sicherheit eine Rolle rückwärts auf den Stufen hingelegt.

Noch immer glaubte er, die Stimme im Treppenhaus nachhallen zu hören. Sie hatte rau und knarzend geklungen, wie eine menschliche Version der Treppe. Ihre Besitzerin war eindeutig eine Frau. Eine Greisin, die ähnlich alt wie das Haus sein musste. Oder älter, dachte er.

»Was ist mit dir, Kleiner?«, erklang erneut die Grabesstimme. »Hast du etwa deine Zunge verschluckt oder hat man dir nicht beigebracht, auf Fragen zu antworten?«

Freck wagte einen Seitenblick, er konnte aber keinerlei Veränderung oder gar Bewegung bei der kauernden Gestalt feststellen.

»Ich … also, nein«, begann er stotternd. »Ich will nur in die dritte …« Im selben Moment bereute er seine Worte. Was ging diese lebende Mumie an, was er hier zu schaffen hatte.

»In die dritte?«, wiederholte die Alte. »Keine gute Wahl. Gar keine gute Wahl. Dort oben wohnen nur die Schlammhaarige und die Barfüßige. Und wenn du zu der ohne Schuhe willst, so wirst du kein Glück haben. In der Nacht ist sie stets draußen auf der Suche.«
»Auf der Suche?«, fragte Freck. »Nach was sucht sie denn?«

Die Alte stieß ein widerliches Kichern aus. »Nach was? Nach Jüngern für ihre Meisterin natürlich.«

Die Szene nahm von Sekunde zu Sekunde groteskere Züge an. Freck wollte nur noch weg von hier. Allerdings gehorchten ihm seine Beine nicht. »Ich … ich verstehe nicht«, stammelte er.

»Tannaree yillh! Tannaree yillmaahr!«, murmelte die Alte. »S’ill jorr tonnak Y’ithlan!«

Endlich erinnerte sich Frecks Körper daran, wie er in Gefahrensituationen reagieren musste. Mit weit ausgreifenden Schritten stürmte er an der sitzenden Gestalt vorbei nach oben. Diesmal legte er auf der zweiten Etage keinen Zwischenhalt ein, sondern hastete sofort weiter hinauf zur dritten.

»Thannag-Shi, Jorr Ze-Than! S’ith norr Thannag-Shi!«, hallte die Stimme der Alten verzerrt durch das gesamte Treppenhaus.

Oben angekommen, richtete er seinen Blick sofort zurück in die Tiefe. Der kryptische Singsang war verklungen. Angespannt lauschte er auf das Knarren von Stufen, doch glücklicherweise machte die Alte keine Anstalten, ihm zu folgen. Freck schloss die Augen und atmete tief durch. Das Zittern seiner Hände verriet allerdings, dass noch immer das Adrenalin durch seine Adern jagte. »Alles giga-a!«, murmelte er. Die erste kleinere Hürde seiner Mission war erfolgreich überwunden. Über eine Taktik zum Verlassen des Hauses würde er sich zu gegebener Zeit den Kopf zerbrechen.

Der Korridor, der zu den Wohnungen führte, war noch dunkler als das Treppenhaus. Freck erkannte zu beiden Seiten kaum mehr als einen langen, finsteren Schlauch, der nur jeweils an seinem Ende einen schwachen Lichtschimmer aufwies. Die kläglichen Reste einer ehemals noblen Flurbeleuchtung. Der Junge wandte sich schließlich nach rechts und schlug sich wie ein Boxer mehrmals mit der flachen Hand gegen seine Wangen. »Dann mal los!«, feuerte er sich an. »Stewee-Stew!« Mit dem Kampfruf der Replikanten-Tierfänger ging er los. Er versuchte, sich möglichst schnell zu bewegen und dabei das Ziel am Ende des Gangs nicht aus den Augen zu verlieren. Nur nicht rennen!, ermahnte er sich. Rennen war schließlich gleichbedeutend mit Flucht und dies wiederum ein Zeichen von Angst. »Ticks kennen aber keine Angst!«, murmelte er wie ein Mantra vor sich her. »Ticks kennen keine Angst!«

Zu langsam durfte er allerdings auch nicht gehen; ansonsten formten sich beunruhigende Schemen aus der Finsternis.

Freck seufzte. Du und deine brain-freezing Fantasie!

Nur an den Wohnungstüren wagte er es, einen ultrakurzen Stopp einzulegen. Zu seiner Beruhigung waren die Türschlösser offenbar seit Bau des Hauses nicht mehr ausgetauscht worden. Alles mega-coolio, dachte er. Es würde ein Kinderspiel werden.

Nach 333 und 323 gelangte er schließlich zu Apartment 313. Das Erste, was ihm auffiel, war der Ursprung des Lichts. Ein dunstiger Schimmer drang durch den unteren Türspalt und sickerte von dort in den Flur. Im Inneren der Wohnung musste demnach eine äußerst starke Lichtquelle vorhanden sein. Das zweite entscheidende Detail ließ seine soeben neu gewonnene Zuversicht jedoch wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen. Die Tür besaß kein erkennbares Schloss. Freck entdeckte am Rahmen lediglich einen kleinen schwarzen Kasten, der eine Videokamera oder ein Irisscanner oder sonst was sein konnte.

»Repshit!« In dem Moment war es ihm egal, ob man seinen Fluch noch auf der Straße hören konnte. Was sollte er jetzt nur tun? An dieser Tür war seine tolle LockPick-AI in etwa so nützlich wie ein Monokel beim VR-Spielen. Er grübelte noch über realistische Optionen nach, als plötzlich eine Frau neben ihm auftauchte. Wie aus dem Nichts war sie aus der Dunkelheit getreten und bedachte ihn mit einem freundlichen Lächeln. »Hallo!«, begrüßte sie den Jungen. »Wie kann ich dir helfen?«
Freck unterdrückte einen zweiten Fluch, wich aber stolpernd zwei Schritte zurück. Die Fremde war mittelgroß und schlank. Sie trug einen dunkelroten Umhang, der fast den Boden berührte. Langes, dunkles Haar umrahmte ein bleiches Gesicht, in dem die roten Lippen wie blutende Schnitte hervorstachen.

»H… hallo!«, stammelte er. Irgendwoher kannte er diese Frau. Als sein Blick auf ihre nackten Füße fiel, wusste er auch woher. Die Hexe! Das sanfte Leuchten der Gestalt und das leichte Vibrieren ihrer Konturen verrieten eindeutig, dass es sich um ein Hologramm handelte. Offensichtlich hatte Madame Purpur von sich selbst einen virtuellen Avatar erstellt.

»Wie kann ich dir helfen?«, wiederholte die unheimliche Türwächterin.

»Oh … hallo nochmals«, begann Freck stockend. Fieberhaft suchte er gleichzeitig nach einer halbwegs plausiblen Geschichte. »Ich bin … also ich heiße Joshua. Joshua Mendez. Ich … ich bin die neue Reinigungskraft.« Angesichts der Tatsache, dass sein bürgerlicher Name Marc Solberg lautete und er Schüler der neunten Klasse der Damien Broderick-High war, klang diese Spontan-Erfindung gar nicht mal schlecht.

»Freut mich, dich kennenzulernen, Joshua«, antwortete das Hologramm. »Leider finde ich nirgendwo eine Aufzeichnung über dich.«

»Oh … das liegt bestimmt daran, dass ich erst gestern den Job bekommen habe. Von Ms. … von Madame …« Voller Entsetzen begriff er, dass er nicht einmal den richtigen Namen seiner Zielperson kannte. Spike hatte ihn mit keiner Silbe erwähnt.

»Ms. Keller?«, half die bleiche Dame aus.

»Genau!«, rief er erleichtert aus. »Ms. Keller hat mich erst gestern Nachmittag eingestellt.«

Das rotgewandete Hologramm blickte ihn traurig an. »Das ist bedauerlich. Sehr bedauerlich. Aber für den Zugang zur Wohnung benötigst du mindestens einen Code. Wie es aussieht, hat dich Ms. Keller aber noch nicht im System angemeldet. Es tut mir leid, aber da wirst du morgen wiederkommen müssen.« Die Frau deutete eine leichte Verbeugung an und verschwand.

»Hey, warten Sie!«, rief Freck, doch die freundliche Dame verharrte im unsichtbaren Stand-by-Modus. Offenkundig zeigte das Sicherheitssystem kein Interesse an einer weiteren Plauderei.

»Und jetzt?«, fragte er die verschlossene Tür. »Was soll ich jetzt machen? Etwa wie eine Spinne außen an der Fassade hochklettern?«

Die Holo-Hexe, oder was auch immer sie war, fühlte sich auch hier nicht dazu berufen, dem Jungen einen Tipp zu geben.

Flüche und Verwünschungen ausstoßend trottete Freck schließlich davon.

Der Junge hatte fast die Hälfte des Gangs durchquert, als er hinter sich ein lautes Klack vernahm. Er verharrte abrupt und drehte sich neugierig um. Hatte er sich das Geräusch nur eingebildet? Er wollte schon alles auf seine überreizten Sinne schieben und einfach weiter gehen, doch dann bemerkte er direkt vor Apartment 313 eine deutliche Veränderung. Aus dem schwach pulsierenden Lichtschimmer war nun ein grelles Lichttrapez geworden, das mit scharfen Kanten ein Loch in die Finsternis des Flurbodens schnitt.

»Hallo?« Zögernd steuerte er auf das Licht zu. Wie eine blöde Motte, schoss es ihm durch den Kopf. »Hallo? Haben Sie doch noch einen Vermerk über mich gefunden?« Was sollte die dämliche Frage? Die virtuelle Türsteherin konnte schlecht etwas finden, was nicht existierte. Seine Nervosität zwang ihn jedoch zu sinnfreiem Geschwätz. Alles war besser als diese unheimliche Stille.

Als Freck erneut vor 313 stand, konnte er die offenkundige Ursache für den Lichtfleck mit eigenen Augen sehen. Die Tür zum Apartment hatte sich um etwa zwei Handbreit geöffnet.

»Hallo?« Seine Stimme klang ungewöhnlich hoch. »Jemand zu Hause?« Er klopfte leicht gegen den Eingang, doch das nicht entflammbare Polymergemisch schluckte fast jeglichen Schall.

Freck zögerte auch jetzt noch. Obwohl seine fast gescheiterte Mission nun wieder – wie Whopp es wohl ausgedrückt hätte – dopey-plus-plus lief, traute er dem Frieden nicht. Plötzlich kam ihm eine Zeile aus einem alten Kinder-VR-Spiel in Erinnerung: Knusper, knusper, Knäuschen, wer knuspert an meinem Häuschen?

Er schob die Tür weiter auf und betrat die Wohnung. Und wenn es eine Falle ist?, fragte er sich. Komm wieder runter, Alter!, antwortete ihm prompt ein deutlich zuversichtlicherer Teil seines Verstandes. Das Leben ist nun mal gefährlich. No risk, no fun. Zieh es jetzt durch, oder willst du kein Tick werden?

Er folgte dem Licht zum Wohnzimmer des Apartments. Die Quelle erwies sich als gleichermaßen überraschend wie banal. Überraschend, weil sich die leuchtende VR-Wand in einer Jahrhunderte alten Ruine befand; banal, weil heutzutage fast jeder eine derartige Ersatztapete in seinen vier Wänden hatte. Die freie Rückwand des Zimmers zeigte den Ausblick auf eine hügelige Wiesenlandschaft, die von Hecken und kleineren Hainen durchbrochen wurde. Die Bäume einer Gruppe aus Erlen und Birken im Vordergrund wiegten sich in einem lautlosen Wind, wodurch die orange gefärbte Abendsonne immer wieder zwischen den Ästen hervorlugen konnte. Dieses Wechselspiel des Lichts erzeugte auch das mysteriöse Wabern, das man von außen beobachten konnte. Seltsam war lediglich der Umstand, dass die gesamte Szenerie hinter einer Art Schleier zu liegen schien. Ein Vorhang aus funkelnden Punkten ließ die Landschaft dahinter leicht unscharf erscheinen. Freck führte diesen Glitzer-Effekt auf einen Fehler in dem VR-Screen zurück. Das Ding konnte schließlich schon seit Jahrzehnten hier hängen. Da grenzte es ohnehin an ein Wunder, dass in Rufweite zum Battle Ground überhaupt ausreichend Energie für ein solches Gadget bereitgestellt werden konnte.

Er wollte sich schon abwenden, als er eine weitere Bewegung hinter dem glitzernden Schleier bemerkte. Zwischen den Stämmen der Bäume tauchte plötzlich eine schwarze Katze auf. Das Tier näherte sich der imaginären Grenze und schien Freck direkt anzustarren. Dann wandte es sich ab und trippelte in den Schatten der Erlen zurück. Das Letzte, was Freck von der Katze sah, war ihr aufgerichteter Schwanz, der in einer weißen Spitze endete.

Nette Spielerei, dachte er. Angesichts des tatsächlichen Ausblicks, der sich von hier oben bot, machte eine derartige Installation durchaus Sinn. Er trat näher an das Fenster heran. Ähnlich wie auf der Gegenseite breiteten sich auch hier verschiedenste Hügel aus. Nur waren diese hier finster und bestanden aus Schutt. Wo hinter ihm auf der Wand Gras und Bäume sprossen, ragten hier die Reste ehemaliger Wohnhäuser und Fabrikhallen aus dem Boden. Freck beugte sich vor, bis seine Nasenspitze das Glas berührte. Hinter einem der Wälle dort unten kauerten die Ticks und beobachteten das Haus. Er machte ein Victoryzeichen und versuchte, ein halbwegs cooles Grinsen aufzusetzen. Vielleicht bemerkten sie ihn ja. »Na, das hättet ihr dem kleinen Freck nicht zugetraut, oder?«, rief er ihnen zu.

Ein Geräusch ließ ihn herumwirbeln. War die Holo-Hexe etwa wieder auf Position? Wohl kaum, beruhigte er sich. Hologramme machten in der Regel keinen Krach. Was hatte er aber dann gehört?

Vergiss es!, riet ihm sein neu erwachtes Selbstbewusstsein. Erledige deine Aufgabe und dann nichts wie raus aus diesem Gespensterhaus.

Kritisch musterte er die spärlich eingerichtete Wohnung. Er konnte schlecht eine Vase oder ein Glas mitnehmen. Nichts davon hätte bewiesen, dass es in direkter Verbindung zu Madame Purpur stand. Leider lagen nirgendwo Voodoo-Puppen oder Pentagramme herum.

Eine längliche Kiste an der Stirnseite des Zimmers erregte seine Aufmerksamkeit. Das dunkle Holz war mit seltsamen Schnitzereien verziert. Freck glaubte, fremdartige Symbole oder Buchstaben zu erkennen. Abstrakt gehaltene Pflanzenranken formten dazwischen ein dichtes Geflecht. Für den klassischen Näh- oder Hobbykram war die Truhe eindeutig zu groß. Zudem gab es wohl heutzutage niemanden mehr, der sich die Mühe machte, seine Socken zu stopfen.

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Es gab zwar keine Scharniere oder Schlösser, der Deckel ließ sich aber auch so nur recht mühsam bewegen. Freck hatte das Gefühl, einen halben Air-Cruiser anheben zu müssen. Als sich die massive Abdeckung endlich leicht knirschend verschieben ließ, gab sie nur finstere Leere preis. Unsicher steckte er seinen Arm hinein und tastete nach dem Inhalt. Das riesige Ding war leer, fast jedenfalls. Als Frecks Finger den Boden berührten, zuckte er angewidert zurück. Erst beim zweiten Versuch wagte er es, etwas von der weichen, teilweise körnigen Substanz nach oben zu befördern. Verblüfft starrte er auf seine Hand. Es war Erde. Nichts anderes als schwarzer fetter Humus. Was zum Teufel …?, dachte er. Züchtete die barfüßige Irre hier etwa Champignons?

Angewidert strich er sich den Dreck an der Hose ab. Er musste endlich einen geeigneten Gegenstand finden, den er Spike präsentieren konnte. Doch was? So langsam lief ihm die Zeit davon.

Der nächste Raum, den Freck durchforstete, war das Schlafzimmer. Schlafen konnte hier allerdings niemand mehr. Ein Berg aus unterschiedlichsten Koffern, Taschen und Kleidungsstücken bedeckte das komplette Bettgestell. Wahllos öffnete er einige Gepäckstücke, stieß aber nur auf typische Hemden, Blusen, Unterwäsche und diverse Accessoires. Auffällig war hierbei nur, dass die Stücke sowohl Männern wie auch Frauen zu gehören schienen. Verwirrt betrachtete er das bunte Chaos. Wo waren die Besitzer des Gepäcks? Und warum sammelte Madame Purpur das Zeug in ihrem Schlafzimmer?

»Verdammt!«, fluchte er. Noch immer hatte er nichts Geeignetes für die Gang gefunden; gleichzeitig erzeugten die Ungereimtheiten dieser Wohnung eine seltsam bedrohliche Atmosphäre.

Nur noch die Küche, sagte er sich. Und dann raus hier! Ganz egal, ob du was findest.

Freck hatte sein Ziel fast erreicht, als ihm plötzlich ein flinker Schatten zwischen die Beine lief.

Eine schwarze Katze. Nur mit Mühe konnte er einen Sturz verhindern. Obwohl er sich darüber wunderte, wieso ihm das Tier nicht früher aufgefallen war, stolperte er weiter. Es dauerte etwa drei Herzschläge, bis ihn ein winziges Detail regelrecht erstarren ließ. Er hatte eindeutig eine weiße Schwanzspitze gesehen. Was ging hier vor? Hatte die barfüßige Ms. Keller etwa auch eine Hologramm-Kopie ihres schnurrenden PPC-Replikanten angefertigt? Oder aber … Freck schüttelte den Kopf. Die Alternative war einfach zu grotesk. Ungeachtet seiner verzwickten Lage folgte er dem Tier zurück ins Wohnzimmer.

Freck musste nicht lange suchen. Keinen Meter von dem glitzernden Holo-Screen entfernt, hielt die Katze offenbar ein kleines Nickerchen. Der Junge kam langsam näher und betrachtete dabei aufmerksam die virtuelle Szenerie hinter dem Tier. Die schlanken Bäume im Vordergrund wiegten sich auch jetzt in einer milden Abendbrise. Von einer weiteren Katze fehlte in dieser paradiesischen Welt allerdings jede Spur.

Er kniete sich neben das Tier und begann es sanft zu streicheln. »Na, du Süße«, säuselte er. »Wo hast du dich denn die ganze Zeit über versteckt?« Schon kam ihm der geniale Einfall, die Katze für Spike mitzubringen. Die Jungs würden große Augen machen. Was passte schließlich besser zu einer vermeintlichen Hexe als ihre schwarze Katze!

Seine Träumereien wurden jäh unterbrochen, als das Tier plötzlich unter der fremden Berührung zusammenzuckte, aufkreischte und mit einem beachtlichen Sprung davoneilte. Die Katze suchte jedoch nicht hinter der Couch oder in einem anderen Zimmer Zuflucht, sie sprang direkt gegen den schimmernden Holo-Screen. Und verschwand.

Freck traute seinen Augen nicht. Das war einfach unmöglich. Er musste soeben das Opfer einer raffinierten holografischen Illusion geworden sein.

Auf der VR-Wand erkannte man nun, wie die Katze langsam auf den Erlenhain zusteuerte.

Falsch!, korrigierte er sich. Nicht die Katze, sondern eine Katze. Eine virtuelle Animation.

Nervös blickte er sich um. Wo zum Teufel war aber dann nur das schwarze Replikantenbiest abgeblieben?

Auf allen Vieren näherte er sich weiter dem Screen. Wäre es denkbar …?

Zögernd streckte er die Hand aus. Als seine Fingerspitzen den Holoscreen berührten, verspürte Freck ein seltsames Kribbeln. Mit größter Vorsicht schob er den Arm weiter nach vorn und gleichzeitig verschwand die Hand in der Wand. Bis auf das Kribbeln bemerkte er aber keinerlei Veränderung. Er glaubte jetzt sogar, einen Teil seines Arms auf der anderen Seite erkennen zu können. Zur Kontrolle machte er eine Faust und spreizte danach die Finger. Die Hand jenseits des Glitzernebels kopierte perfekt jede Geste. »Unglaublich!«, stammelte er.

Freck wollte soeben versuchen, einen kleinen Zweig vom Boden aufzuklauben, als etwas sein Handgelenk packte. Mit einem Angstschrei wich er zurück, doch was auch immer ihn auf der anderen Seite gefangen hielt, packte nur noch fester zu. In seiner Panik riss und zerrte der Junge so lange gegen den Widerstand, bis sein Arm endlich wieder zum Vorschein kam. Nun konnte er auch erkennen, gegen was er dort ankämpfte. Eine Klaue mit spinnenartigen Fingern und langen gebogenen Krallen hielt sein Gelenk fest im Griff.

In einem Ausbruch schierer Verzweiflung warf sich der Junge nach hinten. Er landete hart auf dem Rücken, gleichzeitig aber wich auch der stählerne Druck um sein Handgelenk. Ungläubig hob er den immer noch leicht betäubten Arm und drehte ihn in alle Richtungen. Am Handgelenk fanden sich nicht die geringsten Verletzungen. Nicht einmal die kleinste Rötung kündete mehr davon, dass ihm noch vor Sekunden eine widerwärtige Kreatur beinahe die Knochen zermalmt hatte.

Freck atmete erleichtert auf. Alles hatte sich nur in seiner überdrehten Vorstellung abgespielt. Gegen seinen Willen verfiel er in ein hysterisches Kichern. »Marc Solberg, du dämlicher Volltrottel! Eines Tages wird dich deine blöde Fantasie noch Kopf und Kragen kosten.«

Seine Worte hallten noch im Raum wider, als aus dem Glitzernebel ein riesiger Tentakel hervorschnellte, den Knöchel des Jungen umschlang und seinen Körper lautlos in eine andere Welt riss.

***

Spike setzte das Fernglas ab und rieb sich die Augen. »Wie lang ist es her, seitdem wir Freck am Fenster gesehen haben?«

»Genau 73 Minuten«, antwortete Elon.

»Repshit!« Der Anführer der Ticks schlug mit der Faust gegen einen leeren Farbeimer. »Ich hätte darauf gewettet, dass es diesmal klappt.« Er stand auf und klopfte sich den Staub von der Hose. »Damit ist Freck dann wohl die Nummer Fünf.«

»Schon die Nummer Sechs«, korrigierte ihn Whopp. »Vor ihm waren Finn, Leroy, Saber, Brownie und dieser kleine grinsende Zwerg an der Reihe.« Mit den Zeigefingern zog er seine Augen zu Schlitzen. »Akasonstwie.«

»Akatsuki«, sagte Spike. Er seufzte. »Lasst uns von hier verschwinden. Wie es aussieht, wird das Geheimnis um unsere barfüßige Freundin wohl noch eine Weile gewahrt bleiben. Oder verspürt jemand von euch Lust darauf, nach Freck zu suchen?«

Niemand reagierte. Selbst der sonst so übereifrige Whopp hielt seinen Kopf gesenkt.

»Na dann, Abmarsch!«

Als die kleine Gruppe auf das orange schimmernde Warnlicht einer Baustelle zutrabte, erweckte es beinahe den Eindruck, als ob eine Abendsonne ihre letzten warmen Strahlen über eine friedliche Hügellandschaft ausgießen würde.

***

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MÄNGELEXEMPLARE 5 – AM ENDE DER ZEIT

Constantin Dupien und Stefan Cernohuby (Hrsg.)
Anthologie, Taschenbuch
Seiten: 214
Oktober 2023

Mehr Infos zur Anthologie und zum Verlag findet ihr hier.

Kurzbio des Autors der PAN-Kurzgeschichte Juli/August:

Arthur Gordon Wolf, Jhg. 1962, Ex-Fitness-Trainer, Ex-Lehrer, hat nach 20 Jahren seinen sicheren Beamten-Job an den Nagel gehängt, um endlich mehr Zeit fürs Schreiben zu haben.

Seine Short-Stories, Erzählungen und Romane sind nahezu alle mehr oder weniger der Unheimlichen Phantastik zuzuordnen. Egal ob Crime, Fantasy, SF oder Horror, stets spielt das Element des ‚Doppelbödigen‘, des ‚Unheilvollen‘, ein zentrales Motiv. Seine Arbeiten sind bislang in diversen Magazinen wie „MADAME“, „c’t“, „Alien Contact“ und „phantastisch!“ erschienen sowie in mehreren Anthologien u.a. bei Grafit, Bastei Lübbe, Fabylon, Voodoo-Press, Blitz, Amrun, LUZIFER – ein SF- Hörspiel beim SDR/SWR und HR. Sein aktuell umfangreichstes Projekt beschäftigt sich mit Erzählungen und Romanen rund um seine dystopische UMC-Saga.

Homepage des Autors: http://www.arthur-gordon-wolf.de

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DEADLINE präsentiert: DIE PAN-KURZGESCHICHTE Juli/August 2025