Das wunderbar vielfältige und breite Genre der Phantastik hat auch im deutschsprachigen Raum viel zu bieten. Sei es im Film, im Comic, im illustrativen Bereich und natürlich auch in seiner literarischen Form.
Das PAN – Phantastik Autoren Netzwerk unterstützt Autor:innen, bietet Networking, Support rund ums Schreiben und vergibt seit 2021 Arbeits-Stipendien. Die beliebte Aktion „PAN-Kurzgeschichte“ soll einem breiten Publikum deutschsprachige Phantastik näherbringen – und Lust auf mehr machen. Und das ab jetzt hier auf unserer Website. Als Kooperationspartner von PAN e.V. präsentieren wir euch online alle zwei Monate eine ausgewählte Kurzgeschichte.
Die zweite Story ist Teil der Anthologie BESTIAE MENTIS: DIE WESEN HINTER DEN GESCHICHTEN … und der Name ist Programm. Aber das lest ihr am besten selbst.
Bühne frei für und phantastische Unterhaltung mit:
Jorge
von Jaana Redflower
20. Mai 2023. Zwei Wochen vor Abgabe meines Manuskripts.
Meine Hände zitterten, als ich den vierten Kaffee runterkippte. Bis auf einen kleinen braunen Klecks auf dem Papier in der Ecke rechts unten war der Bogen noch so leer wie am Morgen. Blütenweiß, unberührt. Inhaltslos.
Ich fuhr mit dem Finger über das Blatt, strich über die leicht raue Oberfläche. Die verlief gleichmäßig von einer Kante zur nächsten, fühlte sich ein wenig wie Kreide an, die man in die Haut reibt. Seltsam weich. Beruhigend. Ich genoss das Gefühl: ein Wattemeer, das mich von meiner Ideenlosigkeit ablenkte.
Dann stieß ich auf eine Delle. Die Vertiefung riss mich in die Realität zurück. Ich starrte auf die Stelle, die mich so unsanft geweckt hatte. Genau dort, wo etwas Kaffee auf das Blatt gespritzt war, hatte sich etwas in das Papier gedrückt.
Und dann sah ich es: Der Fleck war nicht nur einfach ein Punkt, sondern Teil einer Gruppe von Klecksen, die sich quer über meine Schreibtischplatte zogen. Keinesfalls willkürlich, wie ich zuerst gedacht hatte. In den Spuren, die nahe bei meiner Tasse lagen, erkannte ich deutliche Abdrücke. Wie von einer großen Möwe. Aber das konnte unmöglich sein. Oder?
Ich sprang auf, lugte hinter den Schreibtisch, hinter das Sofa, unter den Beistelltisch. Nichts. Wurde ich denn allmählich verrückt? Man erzählte sich Geschichten über Autoren mit einer Schreibblockade. Übles Zeug. Von Dichtern, die ihre Zimmerwände vollgekritzelt hatten. Von Künstlern, die in die Geschlossene eingeliefert werden mussten. Von großen Köpfen, die ihre restlichen Tage in der Vorstellung verbrachten, ein Teekessel zu sein.
Im Zimmer nebenan gab es einen Knall. Ich zuckte zusammen. Hatte der Vogel etwas umgestoßen? Ich sprang auf, fiel dabei über den Schreibtischstuhl. „Na warte …“ murmelte ich und schnappte mir den Regenschirm.
„Lass das lieber. Das ist schon anderen Leuten ganz und gar nicht bekommen.“
War das eine Stimme in meinem Kopf? Ich hielt auf halbem Weg inne. Aus dem Augenwinkel glaubte ich einen flüchtigen Schatten zu erkennen, der an mir vorbei sauste. Dazu Fußgetrappel, Krallen auf dem Laminat.
Was ging hier vor sich? Das konnte keine Möwe sein! Auch keine der Tauben, wie sie hier ums Haus flogen. Aber die machten keine eigentümlichen mechanischen Geräusche.
War das der Scanner? Das Vieh musste den Schalter für den Autoscan gefunden haben! Das eigentümlich kreischende Geräusch, mit dem der Lesekopf sich durch den Apparat bewegte, war unverwechselbar. Aber eine Möwe, die so ein Gerät startet? Nach diesem Zwischenfall würde ich meinen Freunden einiges erzählen können. Vielleicht konnte ich die Idee sogar in meinem neuen Roman unterbringen.
Aber da war noch etwas. Etwas, das mich davon abhielt, einfach zurückzugehen: ein Kichern. Leise, aber diabolisch.
Allmählich fürchtete ich mich vor dem Anblick, der mich dort erwarten mochte. Ein Vogel, der sich amüsierte? Konnten Lachmöwen derartige Laute von sich geben? Ich packte den Schirm fester, atmete zweimal tief durch.
In dem Moment ging der Drucker los. Der kreischte auf. Irgendwas im Inneren zerriss die Blätter am Rand. Das Kichern ertönte ein weiteres Mal, dann hörte ich wieder Krallen auf dem Laminat. Jetzt hatte ich genug. Ich sprang nach vorne, mitten in den Raum hinein.
Doch außer dem Blatt, das sich langsam in das Ausgabefach hineinschob, bewegte sich dort nichts. Ich sah unter den Tisch: auch nichts. Ich lugte hinters Sofa: ebenfalls nichts. Ich hob den Beistelltisch an: gleiches Ergebnis. Das Zimmer war absolut leer.
Ich war enttäuscht. Hatte ich mir alles nur eingebildet? Hatte mich meine Schreibblockade bereits so nah an den Abgrund zum Wahnsinn getrieben, dass ich Stimmen hörte? Und der Drucker erfüllte lediglich einen Auftrag, den ich ihm versehentlich zuvor erteilt hatte? Das war die einzige logische Erklärung.
Dann fiel mein Blick auf das Blatt, das sich aus dem Printer schob. Sofort erkannte ich, dass es sich um keinen Textausdruck handelte. Viel zu viel Tinte bedeckte das Papier. Ich pirschte mich heran, kniff die Augen zu. Das Bild bestand aus einem Meer von Schatten. Nur von der Seite her fiel etwas Licht auf das abgebildete Objekt. Und das in der Mitte; war das ein …? Ich versuchte, das ganze auf andere Weise zu betrachten. Drehte den Ausdruck. Dachte an diese Vexierbilder, die einem erst eine Sichtweise zeigten, bis auf einmal die Zeichnung kippte. Doch hier änderte sich nichts. Egal, aus welchem Winkel ich es betrachtete: Der Vogelarsch blieb ein Vogelarsch.
Ich ließ mich auf den Stuhl plumpsen. Dass sich hier eine Möwe eingeschlichen hatte, erst ihr Hinterteil gescannt und dann ausgedruckt hatte, war natürlich vollkommen unmöglich. Für eine Möwenpopo war das Gebilde auch etwas zu groß.
Da fiel mir etwas anderes ein. Natürlich! Ich schlug mir vor den Kopf. Dass ich nicht gleich darauf gekommen war! In meinem Rechner musste sich ein Virus eingenistet haben. Irgendein Witzbold musste einen Code programmiert haben, der sich in den Computern schleuste und irgendwann den Scanner aktivierte, jedoch ein vorgefertigtes Bild von einem Hinterteil in dem Ordner abspeicherte und dann ausdruckte. Ich wackelte zufrieden mit den Zehen. Gut, dass ich so schnell auf diese Lösung gekommen war. Jetzt konnte ich beruhigt weiterarbeiten, meinen nicht vorhandenen Text überarbeiten und dann …
„Du vernichtest auf der Stelle dein Manuskript!“ Da war eine Stimme in meinem Kopf! Ich schrak so sehr zusammen, dass ich die Maus vom Tisch schlug.
„Was zur Hölle?“, entfuhr es mir.
Wieder das Kichern. „Meinst du?“
Ich sprang auf. Fuhr herum. „Adrian, bist du das? Du spielst mir einen Streich, richtig?“
„Würd‘ ich jetzt nicht behaupten.“ Die Stimme in meinem Kopf dröhnte.
Ich hielt mir die Ohren zu, aber das half kein bisschen. Wie bei einer Stimmgabel, die einem jemand an den Schädelknochen hielt, wurde der Ton direkt durch den Knochen geleitet; da gab es kein Entkommen.
„Dein Mann schiebt gerade Möbel durch IKEA. Der kann dich also gar nicht veräppeln.“
„Nicht?“, wagte ich einen letzten, kläglichen Versuch. Klammerte mich an die einzig wahre Realität, an meine Realität. Die im nächsten Moment zerbrach.
Durch die Tür schob sich ein Bauch. Weiß, voller Federn. Darunter kratzten Krallen über mein Laminat. Eben die Krallen, die zuvor Abdrücke auf meinem Manuskript hinterlassen hatten. Es folgten: ein spitzer Schnabel – und das fieseste Grinsen, dass ich jemals im Gesicht eines Pinguins gesehen hatte.
„Aber, du bist doch …?“
„Der einzig wahre, der einmalige und echte …“
„ … Jorge? Der Höllenfürst?“
Da war sie: die Figur aus meinem allerersten Roman. Zwischen den Seiten hatte sie für reichlich Chaos gesorgt. Ich hatte mich darüber amüsiert, wenn der Vogel meinen Protagonisten quer durch die Welt jagte. Und durch die halbe Hölle. Jetzt fand ich das nicht mehr komisch. Sein Schnabel war wirklich sehr spitz …
„ … und ein wenig leer; da gehört nämlich eine Zigarre rein!“
„Stimmt. So habe ich dich erschaffen.“
„So bin ich zu dir gekommen. Existiert habe ich natürlich schon vorher; doch die Geschichte ist zu kompliziert, um sie zu erzählen. Jetzt erweise ich dir zunächst die Gnade, dir mit deiner Schreibblockade zu helfen. Du musst nur genau meinen Anweisungen folgen. Die erste lautet: Vernichte das Manuskript.“
„Wie?“ Ich blickte zu meinem Blatt. Darauf gab es nichts, was irgendeinen kreativen Wert hatte – abgesehen vielleicht von den Kaffeeflecken am unteren Rand.
„Das kann doch wohl nicht so schwer sein!“, schnaubte der Pinguin und sprang erst auf meinen Stuhl und dann auf die Schreibtischplatte. Dort spuckte er auf das Blatt und hüpfte wie wild darauf herum, wobei er die Ränder mit seinem Schnabel zerriss.
Ich schlug die Hände über dem Kopf zusammen.
Er blickte auf. Sah mich aus diesen kleinen, kalten Augen an. „Das wäre erledigt. Die zweite Anweisung lautet:“ Er klapperte mit dem Schnabel. „Du gehst in die Stadt und besorgst du mir Zigarren und Whisky. Den guten! Derweil bringe ich dein Leben ein wenig in Ordnung.“
„Aber …“ Ich machte zaghaft einen Schritt Richtung Schreibtisch.
Er zischte. „Nix da!“ Der Schnabel stieß bedrohlich in meine Richtung.
Ich sprang zurück – und ergriff die Flucht.
Draußen war es überraschend kalt. Der Nieselregen drang durch meine Kleidungsschichten, bahnte sich seinen Weg bis auf meine Kopfhaut, obwohl meine Haare normalerweise das meiste Wasser abhalten. Wie hatte ich nur den Schirm vergessen können, den ich noch gerade eben in der Hand gehalten hatte! Ich traute mich jedoch nicht, umzukehren und ihn zu holen. Als ich einen zaghaften Blick zurück warf, in Richtung unseres Hauses, leuchtete es in der Küche rot, und eine Silhouette zeichnete sich an der Decke ab: dicker Bauch, spitzer Schnabel. Eindeutig.
Ich machte, dass ich rasch zum Tabakladen kam.
Der Tabakladen war ein kleiner, von dunklem Holz dominierter Eckladen wie der, in dem mein Vater früher immer seine Zigarren besorgt hatte. Der Verkäufer trug eine Baskenmütze auf dem Kopf, dazu ein dunkelrotes Hemd, aus dessen Brusttasche er seine Brille herauszog.
„Soll es etwas Besonderes sein?“, fragte der Verkäufer und setzte sich die Gläser auf.
Bis auf die Zigarrensorte, die meine Mutter immer kaufte, kannte ich keinen der Namen, die die Kisten und Banderolen um die einzeln verpackten Kostbarkeiten schmückten. Beinahe hätte ich gefragt, welche davon am besten in einen Schnabel passte. Ich zuckte die Schultern.
„Keine Ahnung.“
„Ein Geschenk also?“
„Könnte man sagen.“ Eigentlich wurde ich erpresst. Waren die Stumpen dann so etwas wie Lösegeld?
„Soll ich es einpacken?“
„Besser nicht! Umweltschutz … Sie wissen schon.“
„Verstehe.“ Er warf mir einen kritischen Blick über seine Lesebrille hinweg zu und händigte mir ein durchschnittlich aussehendes Kästchen aus.
Im Getränkeladen lief es nicht viel besser. Bei Bier hätte ich mitreden können; so stand ich mit offenem Mund vor den Regalen. Gab es vielleicht eine Marke, die etwas mit dem Teufel zu tun hatte? Ich ging näher an das Regal heran und las die Etiketten. Eine nach der anderen. Wenn ich damit Zeit verzögerte, um möglichst spät nach Hause zurückzukehren, dann konnte der Pinguin sich zumindest nicht beschweren. Es war zu seinem eigenen Wohl.
Schließlich wurde ich fündig – natürlich bei der Glasvitrine, in der die ganz teuren Marken lagerten. Ich tippte den Verkäufer zaghaft an, damit er mir das Kabinett aufschloss und bat ihn, mir den Lagavulin Port Teufl zu reichen.
„Gute Wahl“, meinte der Angestellte.
„Ich hoffe es“, murmelte ich. Immerhin hing so einiges davon ab. Was genau, wusste ich noch nicht, doch wenn ich an meine Ausführungen über Jorges Untaten dachte, wurde mir ganz anders. Was für ein Monster hatte ich da erschaffen?
Ich kam nicht dazu, weiter nachzudenken, denn in diesem Moment klingelte mein Handy. Auf dem Display prangte dick die Nummer meiner Verlegerin.
„Moment“, murmelte ich und gab dem Verkäufer mit Gebärden zu verstehen, dass ich den Whisky bezahlen wollte. Dann nahm ich den Anruf entgegen. „Ja?“
„Ich hoffe inständig, dass das bereits die Antwort auf meine Frage ist: Kommst du mit dem Manuskript voran?“
„Ja, also schon. Also, es ist so …“
„Bar oder per Karte?“, unterbrach der Angestellte meine Stammelei.
Ich klemmte mir das Mobile Telefon zwischen Schulter und Ohr und kramte das Portemonnaie hervor.
„Bist du gerade einkaufen?“
„War nötig.“
„Ich hoffe, du setzt dich gleich wieder an deinen Schreibtisch. Oder wie gedenkst du, die Deadline nächste Woche einzuhalten?“
„Wegen der Deadline …“ Ich setzte gerade zu einer Erklärung an, als ein Knistern in der Leitung ertönte. Ich erschrak so sehr, dass ich beinahe die falsche Geheimzahl eingetippt hätte. Zu meinem Entsetzen musste ich mit anhören, wie jemand (und ich hatte eine ziemlich genaue Vorstellung davon, wer das war) meine Stimme imitierte und charmant meinen Satz beendete: „ … das wird überhaupt kein Problem sein. Pünktlich zum vereinbarten Termin wird das Manuskript in deinem Postfach liegen.“
„Dann will ich dich mal nicht weiter von der Arbeit abhalten. Bis dann!“ Die Verlegerin klang nicht vollständig überzeugt.
Zumindest vorerst hatte ich also meine Ruhe. Doch was half mir das? Ich konnte unmöglich 250 Normseiten bis nächsten Samstag abliefern! Ich spürte, wie mir der kalte Schweiß ausbrach, als ich den Whisky in meine Einkaufstasche stopfte.
Der Angestellte warf mir einen mitleidigen Blick zu.
Immerhin stand das Haus noch, als ich zurückkam. Das war aber auch schon alles. Ich konnte bis auf die Straße das Gejaule hören, das ich erst auf den zweiten Blick als Gesang identifizierte.
„Erst auf den zweiten Blick? Hörst du dich überhaupt denken?“ Da war sie wieder, die Stimme in meinem Kopf!
Ich selber hatte ihn so erschaffen. Jetzt bekam er alle meine Überlegungen mit; ihm entging nichts. Wie konnte man sich überhaupt dagegen wehren, ein bestimmtes Bild in seinem Kopf zu beschwören? Das war wie bei der Sache mit den Kängurus. Man denkt eigentlich nie daran, doch wenn jemand eben diese Tiere erwähnt und einem jeden Gedanken daran verbietet, ist man geliefert.
„Hör auf mit dem Scheiß; du machst mich ganz meschugge! Lass mal lieber den Whisky rüberwachsen. Und die Zigarren!“
Ich stolperte die Treppe zu ihm in die Wohnung hinauf und friemelte mit zittrigen Fingern die Ränder der Tüte auseinander. Er riss mir die Flasche aus der Hand, setzte an und trank sie auf ex. „Ganz okay. Hast du nicht mehr von dem Zeug?“
„Mehr Geld habe ich erst wieder, wenn ich das Manuskript abgebe.“
„Ach ja, da war ja was. Aber da kann ich dir helfen. Feuerzeug?“
„Hab ich keines.“
„Schlecht ausgerüstet, was? Alles muss man selber machen!“ Er warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu; seine Augen glühten. Eine kleine Flamme schoss aus seinem Schnabel. Zufrieden nickte er.
„Hast du das neu gelernt? In meinem Roman konntest du das noch nicht.“
Sein Kopf ruckte herum. Ich blickte in die roten, kleinen Pinguinaugen. Die, die bereits Per so das Fürchten gelehrt hatten. Die, die nun auch mir den Angstschweiß aus den Poren trieben. „Du weißt halt nicht alles, Schätzchen! Und jetzt setz dich brav an den Tisch und schreib.“
Er blies mir eine Qualmwolke ins Gesicht. Hustend befolgte ich den Befehl des Pinguins. Meine Finger flogen über die Tasten, ohne dass ich genau realisierte, was ich schrieb. Der Rauch vernebelte meinen Geist, die Stimme des Pinguins flüsterte, kommunizierte direkt mit meinem Unterbewusstsein. Ich fühlte mich übergangen, während mein Körper arbeitete, eine Marionette des Höllenfürsten, gefangen in meiner eigenen Wohnung.
„So ist’s gut. Schön machst du das!“ Jorge redete mit mir wie mit einem Hund, dem er Leckerli hinwarf. Er benötigte keinen Clicker. Er griff direkt in meine Entscheidungsfreiheit ein – und setzte meinen Willen außer Gefecht.
Meine Finger schmerzten. Selbst in diesem merkwürdigen Zustand fiel mir auf, dass ich fehlerfrei tippte. Vom Inhalt bekam ich nur Fetzen mit, nahm vage wahr, dass es sich um den Nachfolger meines ersten Buches handelte: Jorge war wieder da, größer und mächtiger als jemals zuvor. Überwältigend gutaussehend.
Hatte ich das gerade wirklich getippt?
Allein für diesen Gedanken bekam ich einen spitzen Schnabel in die Seite.
Der kalte Geselle nötigte mich zu einem mehrstündigen Schreibmarathon, bis es mich auch noch nötigte, das Manuskript ohne jegliche Korrektur an meine Verlegerin zu schicken.
Dann kippte ich ohnmächtig vom Stuhl.
Ich erwachte vom Klingeln des Telefons. Mit nur halb geöffneten Augen tastete ich nach dem Apparat und nahm ab, ohne vorher einen Blick auf das Display zu werfen.
„Juchuhhhh!“, schallte es mir entgegen. Ich hielt das Handy etwas von meinem Ohr weg. Jemand kreischte und jubelte am anderen Ende der Leitung. Beinahe hätte ich aufgelegt. Nur das laute „Das ist einfach fantastisch!“ gab mir Gelegenheit, die Stimme zu identifizieren.
Am anderen Ende der Leitung war meine Verlegerin.
Ich murmelte eilig ein „Ja“, ohne zu wissen, worum es ging. Es kam bestimmt blöd rüber, wenn ich nachfragte, warum sie so kreischte.
„Dein neues Manuskript ist einfach fantastisch! Ich muss zugeben, ich hatte ja Bedenken, weil bei dir so lange Funkstille herrschte, aber jetzt hast du wirklich abgeliefert! Jede einzelne Woche des Wartens hat sich gelohnt.“
Ich freute mich. Ein bisschen. Was um alles in der Welt hatte ich da zusammengeschrieben? Ein Blick nach links zeigte mir, wer dafür verantwortlich war: Dort hockte Jorge, stopfte sich meinen Vorrat an Schokoriegeln hinter die Kiemen und gab mir einen dicken Daumen hoch. Dann verblasste er.
Der Roman wurde ein Erfolg. So ganz genießen konnte ich die Anerkennung jedoch nicht; ich wusste, dass ich es aus eigener Kraft nie so weit gebracht hätte. Und irgendwo in meinem Kopf, ganz leise, erscholl in meinen Träumen immer wieder eine Stimme: „Vergiss nie, dass ich dir geholfen habe!“
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BESTIAE MENTIS
Herausgeber: Christina Löw & Stefan Cernohuby
226 Seiten
ISBN: 978-3-96815-066-6
Erstveröffentlichung: Oktober 2023
Verlag: Edition Roter Drache
Mehr Infos zur Anthologie und zum Verlag findet ihr hier.
Kurzbio der Autorin der PAN-Kurzgeschichte JULI/AUGUST:
Jaana Redflower kommt ursprünglich aus Mülheim an der Ruhr, hat in Essen Kommunikationsdesign an der Uni Folkwang studiert (mit künstlerischem Schwerpunkt), lebt nun in Witten. Sie ist als Musikerin, Künstlerin und Autorin unterwegs, sowohl solo als auch mit Band, und unterrichtet Gitarre.
Mehr Infos über die Autorin findet ihr hier.
Kurzbio der Herausgeber der Anthologie:
Christina Löw und Stefan Cernohuby reisen durch märchenhafte oder zukünftige, aber immer phantastische Welten, geben außerdem mit anderen Schreibenden Anthologien heraus und engagieren sich im Vorstand des Phantastik-Autor*innen-Netzwerks (PAN).