Das wunderbar vielfältige und breite Genre der Phantastik hat auch im deutschsprachigen Raum viel zu bieten. Sei es im Film, im Comic, im illustrativen Bereich und natürlich auch in seiner literarischen Form.
Das PAN – Phantastik Autoren Netzwerk unterstützt Autor:innen, bietet Networking, Support rund ums Schreiben und vergibt seit 2021 Arbeits-Stipendien. Die beliebte Aktion „PAN-Kurzgeschichte“ soll einem breiten Publikum deutschsprachige Phantastik näherbringen – und Lust auf mehr machen. Als Kooperationspartner von PAN präsentieren wir euch seit Mai 2024 kurzen phantastischen Lesestoff. Alle zwei Monate eine andere Geschichte. In voller Länge. Auf unserer Website.
Die sechste Story stammt aus der Anthologie WENN DIE WELT KLEIN WIRD UND BEDROHLICH, in der 30 Schreibende aus der Phantastik den ersten Monat der Corona-Isolation begleiteten und 30 Perspektiven auf eine Welt im Krisenzustand lieferten.
Die Absonderung
von Julia A. Jorges
„Die Welt verblasst, daheim rückt nah …“
(frei nach J. R. R. Tolkien)
Am Freitag, den 20. März 2020 wurde ich unter häusliche Quarantäne gestellt. Frühlingsanfang, ein kalter, klarer Tag, der mies begann, indem mich ein Trottel in seiner SUV-Familienkutsche (zwei unbesetzte Kindersitze) in einen Auffahrunfall verwickelte, und der passenderweise mit der Aussicht endete, für die nächsten zwei Wochen auf direkten Kontakt zu den lieben Mitmenschen zu verzichten. Infolge besagten Unfalls kam ich zu spät zum wöchentlichen Meeting, anschließend erfuhr ich, dass ein wichtiger Kunde abgesprungen war und mein Vorgesetzter indirekt mich dafür verantwortlich machte. Kurz vor Feierabend erreichte mich dann der Anruf einer Doktor Krause, die sich als Mitarbeiterin des örtlichen Gesundheitsamtes vorstellte. Auf dem Rückflug von meinem Termin in München Anfang der Woche habe ich neben einer Person gesessen, die mit dem SARS-CoV-2-Erreger infiziert gewesen sei, was meine sofortige Absonderung erforderlich mache. Auch solle ich sämtliche engeren Kontakte für die Zeit dazwischen auflisten. Mit dieser Hausaufgabe im Gepäck verabschiedete ich mich von meinen Kollegen, die mich mitleidig bis misstrauisch musterten. Aus der Distanz versteht sich, bestimmt fragten sie sich, ob ich sie angesteckt hatte. Falls ich denn krank war, was ich insgeheim bezweifelte.
Während ich mit dem Leihwagen nach Hause fuhr, hörte ich Radio: Schul- und Kitaschließungen ab Montag (was mir eine gewisse Genugtuung verschaffte; der eilige Vater hatte die Früchte seiner Lenden heute zum vorerst letzten Mal herumkutschiert), Krankenhäuser am Limit, Kontaktverbote … Die Virusgeschichte war ernster als gedacht. Zuhause informierte ich pflichtgetreu den Abschleppdienst, der Wagen sei möglicherweise kontaminiert. Nachdem ich die geforderte Personenliste – sie war kurz – erstellt hatte, mailte ich sie an Doktor Krause, die mir nahelegte, ein Tagebuch zu führen über die Zeit, die ich allein in meiner 3-Zimmer-Wohnung verbringen sollte, im obersten Stockwerk des Mehrfamilienhauses, in das ich erst kürzlich eingezogen war. Ich steckte mir das Fieberthermometer in den Mund und notierte gewöhnliche 36,7 Grad. Meiner Zeit in Isolation sah ich gelassen entgegen. Ich besaß Vorräte, verfügte über Internet, Fernsehen und reichlich Lesestoff, außerdem genug Arbeit, die ich im Homeoffice erledigen würde, ungestört vom Geplapper der Kollegen. Meine Wohnung war noch nicht fertig eingerichtet, dafür konnte ich an die frische Luft gehen dank separaten Balkons.
In den folgenden zehn Tagen verlief mein Alltag so gleichförmig, dass mich fast das sprichwörtliche Murmeltier grüßte, aber immerhin blieb ich frei von Symptomen einer Infektion. Dann kam der letzte Märztag und mit ihm ein Morgen, der sich in anhaltende Dämmerung hüllte. Ich trat ans Schlafzimmerfenster und erkannte, dass neben der leidigen Umstellung auf Sommerzeit dichter Nebel für die Düsternis verantwortlich war. Grau und schwer hing er über den Dächern, senkte sich auf die Straße und verschleierte die Sicht auf die gegenüberliegende Häuserzeile. Obwohl mir das Wetter egal sein konnte, verbannt in meine fünfundsechzig Quadratmeter, die ich nicht mal verlassen durfte, um den Müll hinunterzubringen, bedrückte mich der Mangel an Tageslicht. Beim Zähneputzen malte ich mir aus, wie herrlich sich die Wärme auf der Haut anfühlte, wenn ich am Wochenende durch den Park schlendern oder im Sommer am Strand liegen würde. Wie jeden Morgen und Abend maß ich meine Körpertemperatur und wie immer lag sie im Normbereich. Trotzdem, irgendwie fühlte ich mich nicht gut. Keine direkten körperlichen Beschwerden, eher ein unbehagliches, leicht klaustrophobisches Gefühl. Womöglich machte sich die ungewohnte Situation doch allmählich bemerkbar.
Ich brühte mir Kaffee auf und arbeitete ein wenig. Als ich Mittagessen kochen wollte, klingelte das Telefon. Kontrollanruf von Doktor Krause. „Ganz gut“, fasste ich mein Befinden zusammen und hätte gern ein wenig mit ihr geplaudert, denn ich empfand ihre Stimme als angenehm, irgendwie beruhigend. Aber ihr war anzumerken, dass sie unter Zeitdruck stand, also verabschiedete ich mich. Kaum hatte ich aufgelegt, stellte ich mir die Frage, warum ich es plötzlich nötig hatte, mich beruhigen zu lassen. Schließlich deutete alles darauf hin, dass ich kerngesund war und der Spuk am Wochenende ein Ende hatte.
Lustlos stocherte ich in meinem Essen, während ich auf meinem bislang einzigen Möbelstück im Wohnzimmer, meinem alten Schaukelstuhl, saß und fernsah. Die Nachrichten begannen, wie üblich wurden sie von der Coronakrise dominiert. Die Verkehrslage sei ruhig, hieß es weiter, der Himmel überwiegend sonnig. Stirnrunzelnd blickte ich hinüber zum Balkon. Seit dem Morgen machte der Dunst keine Anstalten sich aufzulösen, ballte sich eher noch dichter zusammen. Ich stellte den halb leer gegessenen Teller auf den Boden und wandte meine Aufmerksamkeit wieder dem Fernseher zu, zog die Knie hoch und machte es mir in dem knarzenden Schaukelstuhl gemütlich. Das gute Stück hatte während meiner Beziehung mit Tom sein Dasein im Keller gefristet, weil es in den Augen meines Ex nicht zur übrigen Einrichtung gepasst und überdies zu viel Platz verbraucht hätte.
Ich nickte ein. Als ich erwachte, herrschte beinahe nächtliche Dunkelheit im Wohnzimmer, dabei war es erst kurz nach fünf. Der Nebel, erinnerte ich mich. In dichten Schwaden drängte er gegen die noch vorhanglose Tür und das benachbarte, ebenso nackte Fenster. Ich raffte mich auf, ging hinüber und sah – nichts. Nichts als graue Nebelsuppe, durch die ich das Geländer des Balkons nur mehr erahnen konnte, der wie der Bug eines Geisterschiffs ins Nebelmeer ragte. Ich öffnete die Tür und nahm einen merkwürdigen, stechenden Geruch wahr. Vor meinem inneren Auge entstand das Horrorszenario eines Chemieunfalls, woraufhin ich die Tür rasch wieder schloss. Vielleicht brachte der lokale Radiosender Klarheit. Ich schaltete das Gerät in der Küche ein und schaute, während ich zuhörte, aus dem Fenster. Auf dieser Seite war der Dunst nicht ganz so dicht. Vorläufer davon verfingen sich in den kahlen Zweigen der Birke, die in dem verwaisten Gemeinschaftsgarten wuchs, gekleidet in Nebelfetzen wie ein einsames Gespenst. Die Wipfel der Kiefern auf dem Nachbargrundstück hatte der Nebel bereits verschlungen. Er kroch die dunklen Stämme hinunter, während seine Finger sich durch den Maschendrahtzaun über den kurzen Rasen tasteten. Da keine Eilmeldung über einen verunfallten Gefahrguttransporter oder Ähnliches erfolgte, beschloss ich den Nebel als ungewöhnliches, aber harmloses Wetterphänomen zu ignorieren und legte mich schlafen.
Der erste Apriltag brachte kaum mehr Helligkeit als der scheidende März. Eine dicke Schicht hellgrauer Watte bedeckte die Scheibe des Schlafzimmerfensters. Der verdammte Nebel hatte sich nicht verzogen, sondern weiter verdichtet und einen Kokon um das Haus gewebt. Ich stellte mir vor, wenn ich das Fenster öffnete und in die Substanz hineingriffe, würde ich Fäden davon in der Hand halten. Ich unterließ es zu lüften. Aus dem Wohnzimmer war die Aussicht nicht besser, vom Balkon war kein Fitzelchen zu sehen, als sei er über Nacht verschwunden. Egal, aus welchem Fenster ich schaute, überall bot sich dasselbe Bild. Der Nebel hielt das Haus in seinem Klammergriff. Mir blieb die Luft weg. Das Gefühl, eingeschlossen zu sein, überwältigte mich. Mein Herz hämmerte in wilder Panik, ich verspürte den Impuls wegzulaufen, konnte mich aber nicht rühren. Abgesehen davon – wohin hätte ich laufen sollen? Keuchend hielt ich mich an der Lehne des Schaukelstuhls fest und stolperte, als dieser nachgab. Die hochschnellende Kufe erwischte mich am Schienbein.
Durch den Schmerz gewann ich meine Fassung zurück. Ich schritt zur Balkontür, um zu überprüfen, wie die Sicht von draußen sein mochte. Eisiger Schrecken durchfuhr mich, als ich die Hand an den Griff legte und dieser sich keinen Millimeter bewegte. Weder vermochte ich die Tür aufzuziehen noch in Kippstellung zu bringen, so sehr ich mich abmühte. Unbestimmte Zeit starrte ich durch das Glas auf die weißlich-graue Substanz. Endlich riss ich mich los. Der Reihe nach überprüfte ich die Fenster, nur um festzustellen, dass sich kein einziges öffnen ließ. Mir brach der Schweiß aus. Das konnte kein Zufall sein, jemand musste die Schließmechanismen manipuliert haben! Ich zwang mich zur Ruhe, versuchte die Angelegenheit sachlich zu durchdenken. Natürlich wäre es ein höchst ungewöhnlicher Zufall, wenn sich sechs Fenster plus Balkontür von einem Tag auf den anderen nicht mehr öffnen ließen. Aber dass sie jemand versperrt hatte, war noch viel ausgeschlossener, zumal bei einer Wohnung im dritten Stock. Vielleicht hatten ein oder zwei schon früher geklemmt und es war mir lediglich nicht aufgefallen in der kurzen Zeit, die ich hier wohnte. Ich erinnerte mich, dass ich meinen Pflichten noch nicht nachgekommen war, also ging ich ins Bad, um meine Temperatur zu messen. Auf dem Toilettendeckel sitzend, das Thermometer im Mund, hoffte ich beinahe, es möge 39 oder 40 Grad anzeigen, dann hätte ich das Ganze als Fieberwahn abtun und sogleich Doktor Krause anrufen können, aber wieder war der Wert normal.
Ratlos setzte ich mich in die Küche und wartete auf den täglichen Kontrollanruf der Ärztin. Mindestens ein Dutzend Mal überlegte ich, mich jemand anderem anzuvertrauen, aber mir fiel niemand ein. Meine Mutter würde sich übertriebene Sorgen machen, wie immer. Mein ohnehin überschaubarer Freundeskreis war als Folge der Trennung zerbröckelt. Und überhaupt: Was sollte ich sagen, das nicht vollkommen paranoid klang? Als das Telefon klingelte, verriet ich dementsprechend auch Doktor Krause nur so viel, dass ich mich nicht gut fühlte und unter Anfällen von Klaustrophobie litt. Sie beruhigte mich, so etwas komme unter den gegebenen Umständen schon mal vor, und gab mir die Nummer vom Sozialpsychiatrischen Dienst, die ich notierte, ohne die Absicht, dort um Beistand zu bitten. Schließlich war ich nicht verrückt.
Zum Arbeiten fehlte mir der Elan, Appetit hatte ich auch keinen. Die anhaltende Stille machte mir zu schaffen. Nicht mal die Geräusche vorüberfahrender Autos waren zu hören. Über die krakeelenden Kids aus der Wohnung unter mir hatte ich mich gleich nach meinem Einzug geärgert, nun vermisste ich sie. Warum hielt sich die Familie nicht zu Hause auf, wo doch die Schulen geschlossen waren? Ich schaltete den Fernseher ein, stellte den Ton laut, damit es nicht mehr so schrecklich still war. Dann nahm ich ein Bad, hinterher schenkte ich mir einen Gin ein. Den Rest des Tages verbrachte ich fernsehend auf meiner Luftmatratze, die ich hinüber ins Wohnzimmer gezogen hatte, in eine Decke gehüllt. Vor Fenster und Balkontür hingen weitere Decken, die ich kurzerhand an die Wand genagelt hatte; ich konnte den Anblick des Nichts dort draußen nicht länger ertragen. Am schlimmsten war, dass der Nebel durch unsichtbare Ritzen in mein Schlafzimmer drang und sich von dort aus in der Wohnung ausbreitete. Ich hielt die Schlafzimmertür verschlossen und versiegelte sämtliche Fugen und das Türschloss mit Klebeband.
Noch immer wusste der Wetterbericht nichts von hartnäckigen Nebelfeldern. Es folgte Big Brother. Diesen Schwachsinn tat ich mir normalerweise nicht an, aber irgendwie wirkte das Gebrabbel der zu Unterhaltungszwecken Kasernierten beruhigend, geradezu sedierend. Nichts wussten die von SARS-CoV-2, und raus durften sie auch nicht. Eine warme Welle der Solidarität überschwemmte mich. Ich holte die Flasche Gin nebst Glas an mein provisorisches Bett und trieb davon.
Donnerstag, 2. April. Erwachte frierend und mit mörderischen Kopfschmerzen. Überwand mich dennoch zur üblichen Routine: Zähneputzen, Fiebermessen. Das Thermometer zeigte bereits zum dritten Mal in Folge 37,0 Grad, dabei litt ich unter Schüttelfrost. Womöglich hatte mich das Virus doch erwischt. Behielt die Schlafsachen an, döste und wartete auf Doktor Krauses Anruf. Spät am Nachmittag endlich das erlösende Klingeln, auf dem Display die bekannte Telefonnummer. Enttäuschung, als eine unbekannte Person mir mitteilte, die Kollegin sei verhindert. Den Namen verstand ich nicht, die Stimme ließ nicht mal Rückschlüsse auf Mann oder Frau zu. Die Person schien selbst nicht ganz gesund zu sein dem heiseren Krächzen nach. Um ein Haar hätte ich losgeheult, so sehr vermisste ich Doktor Krause. Um Beherrschung kämpfend berichtete ich, mein Thermometer sei kaputt, ich fiebere und die Wohnung sei voller Nebel. Der oder die Fremde versicherte, es würde jemand vorbeikommen. Wann? Bald. Das Gespräch endete. Zum Trost und um mich aufzuwärmen, trank ich etwas Gin. Bald darauf schlief ich ein.
3. April, morgens, HEUTE: Zwei Wochen in häuslicher Absonderung. Niemand ist gekommen. Zwischen verquollenen Augenlidern erkenne ich: Der Nebel ist ins Wohnzimmer gedrungen, schlierige Schwaden umwabern den Fernseher. Ich springe auf, jede Vorschrift für null und nichtig erklärend. Nur raus hier! Die Tür zum Flur meiner Wohnung ist blockiert, Fenster und Balkontür sowieso. Nicht dass ich vorhätte, zu springen …
Nach fünf Minuten, vielleicht auch fünfzig, gebe ich das Rütteln an der Klinke auf, kehre zurück zu meiner Matratze, greife nach dem Telefon. Mehrere Anläufe brauche ich, bis es mir gelingt, Doktor Krauses Nummer einzutippen. Rauschen und Knistern in der Leitung. Auch als ich es mit der Notrufnummer und schließlich der meiner Mutter versuche. Das stumme Telefon entgleitet meinen Händen, ich kicke es mit der Fußspitze weg, wickele mich fest in meine Bettdecke. Der Fernseher lässt sich nicht einschalten, mein Laptop steht in der Küche. Alle Verbindungen zur Außenwelt – gekappt. Die ganze Zeit über friere ich erbärmlich, wenn mir nicht gerade der Schweiß ausbricht. Die Flasche mit dem Gin ist längst geleert, dafür verspüre ich einen Druck auf der Blase, der mir ins Gedächtnis ruft, dass das Bad für mich unerreichbar ist.
Aber das ist mein geringstes Problem. Immer mehr Nebel quillt ins Zimmer, von allen Seiten rückt er heran, als diffundiere er durch die Wände. Die Tapeten verschwinden unter der hellgrauen wattigen Substanz, die aussieht, als sei sie mit Händen greifbar, und die sowohl Kälte als auch diesen undefinierbaren, chemischen Geruch verströmt, der mir zu Anfang auffiel, den ich später jedoch kaum mehr bemerkte. Jetzt, da sich seine Quelle in unmittelbarer Nähe befindet, ist er intensiv, reizt meine Lunge und brennt in den Augen. Mein Hals ist rau und wund, jeder Atemzug fühlt sich an, als inhalierte ich feine Sandkörner, die wie Schmirgelpapier über die empfindlichen Schleimhäute reiben. Ich habe einen trockenen Husten entwickelt.
Mit Fäusten und Ellenbogen hämmere ich auf den Boden. Gleich darauf schnelle ich hoch, stampfe wie Rumpelstilzchen mit den Füßen auf, rufe, kreische, bettle um Hilfe. Einer der Mieter muss doch das Spektakel hören und die Polizei verständigen! Man würde die Tür aufbrechen, und alles wäre wieder gut … Meine Stimmbänder versagen, ich kann nur noch krächzen. Noch einmal greife ich nach dem Telefon. Noch einmal versuche ich den Fernseher einzuschalten. Eine dünne Schicht Nebel überzieht den Bildschirm wie Raureif. Erschöpft falle ich zurück auf die Matratze. Warum hört mich niemand? Nur das sanfte Wogen des Nebels antwortet mir. Meine Verzweiflung weicht Apathie. Es gibt nichts, was ich tun kann, nichts, außer abzuwarten, bis der Nebel mich verschlingt wie alles übrige.
Meine Welt schrumpft zusehends, die Begrenzungen meines Zimmers zählen nicht länger dazu. Stattdessen umragen mich majestätische Nebelwände wie das ewige Eis einer Gletscherspalte, hoch über mir treibt watteweicher Flaum. Auf Armlänge rückt die Nebelwand an den winzigen Punkt heran, in welchem ich auf meiner Matratze hocke, ein Atom im Zentrum eines leeren Universums. Nein, nicht ganz leer, ein ungewöhnliches Geräusch dringt von ferne an mein Ohr. Hufschlag. Aus dem weißgrauen Nichts schält sich lautlos ein fahles Pferd und darauf eine Gestalt, hoch aufgerichtet, gehüllt in Lumpen. Sie strahlt ein bleiches Licht aus, unmöglich darin ein Gesicht auszumachen. Im Gefolge Schatten, menschliche Umrisse. Der Reiter streckt seine Hand aus, winkt mich heran. Ich spüre Erleichterung, die Zeit meiner Absonderung ist vorbei. Ich stehe auf, um mich dem Zug der Schatten anzuschließen.
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WENN DIE WELT KLEIN WIRD UND BEDROHLICH
Felix Woitkowski (Hrsg.)
Anthologie, Taschenbuch
Seiten: 200
Oktober 2020
Mehr Infos zur Anthologie und zum Verlag findet ihr hier.
Kurzbio der Autorin der PAN-Kurzgeschichte MÄRZ/APRIL:
Julia A. Jorges lebt und schreibt in Braunschweig. Unheimliche Phantastik und übernatürlicher Horror faszinieren sie seit ihrer Kindheit. In Jorges’ Prosa verschmilzt Vertrautes mit Wahnhaftem und Traumgeschehen. Dabei greifen ihre Geschichten auch aktuelle Themen wie Mobbing oder den Klimawandel auf, die Charaktere sind zumeist gesellschaftliche Außenseiter.
Die Autorin hat bisher fünf Romane sowie zahlreiche Kurzgeschichten veröffentlicht, viele davon im Horrormagazin Zwielicht. Ihr jüngstes Werk Hochmoor steht in Tradition des von Howard P. Lovecraft, Robert E. Howard, August Derleth u. a. begründeten „Cosmic Horror“. Teil 2 erscheint im Herbst 2025 im Blitz-Verlag.
Mehr Infos findet ihr auf Julias Website