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DEADLINE präsentiert: DIE PAN-KURZGESCHICHTE Mai/Juni

Das wunderbar vielfältige und breite Genre der Phantastik hat auch im deutschsprachigen Raum viel zu bieten. Sei es im Film, im Comic, im illustrativen Bereich und natürlich auch in seiner literarischen Form.

Das PAN – Phantastik Autoren Netzwerk unterstützt Autor:innen, bietet Networking, Support rund ums Schreiben und vergibt seit 2021 Arbeits-Stipendien. Die beliebte Aktion „PAN-Kurzgeschichte“ soll einem breiten Publikum deutschsprachige Phantastik näherbringen – und Lust auf mehr machen. Als Kooperationspartner von PAN präsentieren wir euch seit Mai 2024 kurzen phantastischen Lesestoff. Alle zwei Monate eine andere Geschichte. In voller Länge. Auf unserer Website. 

Die siebte Story stammt aus der Anthologie GERMAN KAIJU – verDAMNt!, in der 12 Schreibende die Welt der Riesenmonster betreten, wo blutspritzende Riesenechsen Hubschrauber zum Absturz bringen, ein gewaltiger Hai Münster zerquetscht, liebestolle Monstereber wüten und erneut Bielefeld zerstört wird – dort, wo niemand dich schreien hört.

 

 

 

Die freundlichen Tentakel aus der Nachbarschaft

von Isa Theobald

 

 

»Wer ist der Tote?«

»Harald Peter Lühe, 48 Jahre alt, geschieden, keine Kinder. Wohnhaft in Bliesmengen-Bolchen, von Beruf Meeresbiologe.«

»Meeresbiologe? In Bliesmengen-Bolchen?«

»Ich weiß ja auch nicht!«

 

Wolle langweilte sich. HP hatte sich abends wie üblich verabschiedet, war aber, anders als sonst, schon seit sieben Fütterungszyklen nicht mehr aufgetaucht. Die anderen servierten ihm angemessene Mahlzeiten. Ansonsten beschäftigten sie sich wie immer wie besessen mit den Anzeigen, Knöpfchen und Hebeln, die, wie er im empirischen Experiment herausgefunden hatte, die Parameter seiner direkten Umgebung beeinflussten: Sauerstoff, Temperatur, Salzgehalt etc pp. Sie gaben sich alle Mühe, es ihm so behaglich wie möglich zu machen. Er honorierte ihre Anstrengungen, doch das half nicht gegen seine Langeweile. Nicht, dass er nicht schon versucht hätte, sie auf das Problem aufmerksam zu machen, und sie zum Spielen aufgefordert hätte, aber sie verstanden ihn einfach nicht. Statt ihn vor Herausforderungen zu stellen, die seinen gequälten Geist beschäftigen würden, machten sie ihm alles so bequem, wie sie konnten. Es war ein Elend!

Eine Erinnerung zupfte an seiner Aufmerksamkeit. Er zog sich in die Tiefe seines Reiches zurück, um ihr nachzugehen.

 

»Er frisst nicht!«

»Wahrscheinlich fragt er sich auch, wo Harry bleibt.«

»Als ob er imstande wäre, uns zu unterscheiden.«

»Natürlich unterscheidet er uns. Er ist ohne Zweifel dazu imstande, uns als Individuen wahrzunehmen.«

»Bullshit. Wenn wir für ihn irgendetwas sind, dann Futter.«

»Oh putain, du bist so ein unsensibler Klotz!«

»Hört auf zu streiten. Harry reißt uns den Kopf ab, wenn er zurückkommt und merkt, dass was nicht stimmt.«

»Was willst du machen? Das Mistvieh zum Essen zwingen?«

»Ta gueule! Nenn ihn nicht so. Er hat Gefühle.«

»Na klar. Jeder verdammte Tentakel seine Eigenen.«

»Du bist so ein Arsch!«

»Könnt ihr jetzt mal Ruhe geben? Harry war noch nie so lange weg. Heute ist der vierte Tag, an dem er nicht aufgetaucht ist. Das passt nicht zu ihm. Ich mache mir Sorgen.«

 

HP war der Einzige, der seine Antworten verstand. Sie waren weit davon entfernt, richtige Gespräche führen zu können, dafür war die Ausdrucksfähigkeit dieser Wesen mit ihren kümmerlichen Gliedmaßen einfach zu beschränkt. Er hatte die Theorie, dass sie so viel Lärm machten, um diese Behinderung auszugleichen. Aber HP war ein besonders kluges Exemplar und verstand zumindest in Grundzügen, was Wolle ihm zu sagen versuchte. Es hatte Monate gedauert, bis er verstanden hatte, dass HP versuchte, ihm mit seinen absonderlichen Lautäußerungen eine Bezeichnung zu geben. Geduldig hatte er versucht, dem kleinen rosa Kerl zu zeigen, wie man seinen Namen richtig anzeigt, doch HP war einfach nicht dazu imstande, die Bewegungen nachzuahmen. Und irgendwann hatte er begriffen, dass der seltsame Laut, den HP immer wieder machte, ein Ersatz für diesen Namen sein sollte. Anfänglich hatte es sich seltsam angefühlt, doch mittlerweile identifizierte er sich als Wolle. Es gab ja niemanden, der seinen richtigen Namen verstanden hätte, geschweige denn hätte anzeigen können. Anfänglich hatte es kleine Glaskästen gegeben, in denen winzige Verwandte zumindest aus der Ferne in unverständlichen Dialekten Grüße wedeln konnten, doch irgendwann waren die alle verschwunden. Er war allein mit den rosa Zwergen, die ihn nicht verstanden. Außer HP natürlich. Der verstand zumindest ein bisschen. Und Wolle begann, ihn zu verstehen. Zumindest ein bisschen.

 

»Herr Lühe war augenscheinlich auf dem Rückweg nach Bliesmengen-Bolchen, nachdem er in Saarbrücken mit einer Dame zu Abend gegessen hatte. Nach Aussage dieser Frau, einer Nicole Bergfried, hatte er auf die Weinbegleitung verzichtet und nur stilles Wasser getrunken. Das Date, das wohl ganz schön begonnen hatte, begann den Bach runterzugehen, als Herr Lühe den Koch verärgerte, indem er den Zwischengang unangetastet zurückgehen ließ. Herr Lühe war wohl auch ziemlich empört darüber, dass Frau Bergfried es ihm nicht gleichtun wollte und ihre Portion – nach eigener Aussage – nur mit großem Missfallen ebenfalls zurückgehen ließ.«

»War er Veganer?«

»Absolut nicht. Ich war selbst schon dort essen, die nehmen Rücksicht auf deine Befindlichkeiten. Laut Frau Bergfried waren sie zu Beginn des Essens auch gefragt worden, ob sie auf Fleisch oder Fisch verzichten wollten. Sie habe sich daraufhin als omnivor bezeichnet und Herr Lühe als pflegeleicht

»Wo war dann das Problem?«

»Anscheinend hat es Herrn Lühe zutiefst verstört, dass man auf die Idee kommen kann, Tintenfisch zu essen. Ging wohl nicht so oft aus. Er war regelrecht empört und hat dieser Empörung auch lautstark Ausdruck verliehen. Laut Aussage von Frau Bergfried hat er den Koch als Monster bezeichnet – und die ganzen restlichen Gäste noch dazu, denn, ich zitiere, es sei ja nicht anders zu erklären, dass diese Barbaren dumm grinsend ein Lebewesen verspeisen, das zumeist klüger ist als jeder von ihnen. Die ganze Situation eskalierte dann wohl sehr schnell. Frau Bergfried gab zu Protokoll, dass ihnen im Anschluss nahegelegt worden sei, das Restaurant zu verlassen. Eigentlich wollte sie ein Taxi nehmen, doch Herr Lühe hat darauf bestanden, sie nach Hause zu fahren. Anschließend hat er sich verabschiedet, ohne sich jedoch zu entschuldigen, und sei dann davongefahren.«

»Also hatte er nicht getrunken, war aber wohl ziemlich angepisst.«

»Was sich aber wohl nicht in seinem Fahrstil niederschlug. Zumindest ist er an drei Blitzern vorbeigefahren, ohne ein Foto zu kassieren.«

»Wie kam es dann zu dem Unfall? Ich meine, auf gerader Landstraße von der Strecke abzukommen und gegen den einzigen Baum im Umkreis von fünf Kilometern zu prallen, klingt ohne Alkoholeinfluss für mich nach Selbstmord. Haben wir irgendwas zu seiner beruflichen Tätigkeit herausfinden können?«

»Er steht auf der Gehaltsliste der Imrryr-Coperation. Offiziell ist das eine Unternehmensberatung, aber ich habe mal liebevoll bei einer Kollegin aus der Steuerfahndung nachgehakt.«

»Lass dir nicht die Würmer einzeln aus der Nase ziehen!«

»Imrryr gehört – um drölfzigtausend Ecken und Scheinfirmen – Paul Diehl.«

»Diesem irren, steinreichen Ami, der Säbelzahntiger klonen will?«

»Genau der.«

»Guck an.«

»Fand ich auch spannend. Also hab ich mal versucht herauszufinden, ob es irgendwelche anderen Firmen gibt, die mit ihm in Verbindung stehen und im Mandelbachtal sind.«

»Spar dir die Kunstpause und rück raus.«

»Du wirst es mir nicht glauben …«

 

Noch immer tief in seiner Höhle erinnerte sich Wolle an die Zeit vor der Zeit. Als die Welt noch keine Grenzen kannte und er noch nicht allein war. Jung war er gewesen und klein, so klein in dieser gewaltigen Welt. Und da waren andere gewesen, andere, die waren wie er. Mit denen er sich verständigen konnte, weil sie in seiner Sprache wedelten. Er erinnerte sich an Gespräche über den Salzgehalt und die seltsame Haptik des Wassers in der Nähe der Küsten. Er erinnerte sich an Jagden und Spiele, an glitzernde Schwärme und die Schönheit eines ganz bestimmten Fleckenmusters.

 

»Harry hat immer betont, dass ihm nicht langweilig werden darf. Vielleicht sollten wir ihn irgendwie beschäftigen?«

»Wie denn? Willst du da reinspringen und mit ihm schwimmen? Darwin Award Anwärterin des Jahres werden?«

»Mais non! Ich bin doch nicht blöd. Aber Harry hat ihm nie einfach so sein Essen gegeben. Er hat daraus immer eine Herausforderung gemacht.«

»Weil ihm sonst selbst langweilig geworden wäre. Was tun wir denn hier anderes, als auf ein überdimensioniertes Calamari achtzugeben?«

Einige der Wellen, die Wolle durch sein Erschrecken erzeugte, erreichten die Oberfläche des gigantischen Tanks, doch keiner der Anwesenden bemerkte sie.

 

Es tat ihm leid um die anderen, doch ihm war klar, dass sein Zuhause von Mauern umschlossen war. Der Weg nach unten würde ihn nicht zu HP führen. Und schwierig war er auch, der Schiefer war dick und hart. Aber da oben, da wo die rosa Wesen ihre Knöpfe und Hebel drückten, da waren die Mauern dünner. Dort, wo kein Wasser war. Das war ein Problem, das gründlicher Vorbereitung bedurfte. Andererseits war Eile geboten. Oder?

Wolle dachte nach. Er war sich sehr sicher, dass HP ihm mit seinen sinnlosen Lauten und den kaum verständlichen Minimalbewegungen seiner Gliedmaßen hatte sagen wollen, dass er ein Weibchen gefunden hatte. HP hatte sich paaren wollen. Wolle wusste, wie gefährlich Paarungen sein konnten. Er hatte gesehen, wie andere seiner Art verblasst und kraftlos vergingen, nachdem sie den Verlockungen der schönen Flecken erlegen waren. Was, wenn HPs Weibchen ihn fressen wollte nach der Paarung? Was, wenn sie ihn schon gefressen hatte? Wolle wedelte aufgeregt. Vielleicht konnte er das Schlimmste noch verhindern. Er musste HP nur finden. Außerhalb der Wasser. Er begann seine Vorbereitungen.

 

»Wo zur Hölle soll diese Forschungseinrichtung denn sein? Hier ist weit und breit nichts anderes als Feld und Wald!«

»Woher soll ich das wissen? Sie ist hier jedenfalls angemeldet.«

»Fahr mal in Richtung des Waldes. Auf dem Feld würden wir den Zugang doch sehen. Vielleicht steht etwas zwischen den Bäumen.«

»Willst du jetzt echt hier im Wald rumrennen? Es ist ganz schön dunkel.«

»Schau mal, da hinten! Das sieht doch aus wie ein Gebäude.«

»Aber auch nur, wenn man das Wort sehr großzügig auslegt. Erinnert mich eher an den Zugang zu einem unterirdischen Bunker.«

»Die nächsten Westwallbunker liegen aber ein ganzes Stück weit weg. Die fangen doch erst nach Heckendahlheim an!«

»Sag mal, spinn ich oder wackelt der Boden?«

 

Es war leicht, das Becken zu verlassen. Das Geschnatter der anderen, das ihm immer aggressiver vorgekommen war, hatte schmerzhafte Höhen erreicht, war aber recht schnell verklungen, als er mit den Armen eine Öffnung in die Decke geschlagen hatte. Er hatte das Hinabprasseln der Trümmer auf seinen Körper als unangenehm empfunden und hoffte, dass die Betonklumpen den kleinen rosa Wesen nicht geschadet hatten. Bedauerlicherweise hatte er keine Zeit, das zu überprüfen.

Als er sich dem Draußen entgegenreckte, bemerkte er verzückt, dass seine Haut dunkler wurde. Er machte sich so groß, wie es ihm möglich war, ohne das Becken komplett zu verlassen, und suchte nach Orientierungspunkten. Er hatte keine Vorstellung davon, was die Weibchen der rosa Wesen anzog, aber das machte wohl keinen großen Unterschied, da die Welt hier draußen so ganz anders war als die in den Wassern. In der Ferne glitzerten Lichter. Dort würde er als erstes nachsehen.

 

»Schau doch nur! Der Boden reißt auf! Fahr!«

»Ich fahr doch schon!«

»Schneller! Schneller! GIB GAS!«

 

Es war enervierend, sich im Draußen fortzubewegen. Vor allem, weil ihm ja nichts anderes übrig blieb, als die Blechbüchse, die HP ihm irgendwann als Schlafhöhle geschenkt hatte, hinter sich herzuschleppen, damit er genügend Wasser hatte, mit dem er seine Haut und Kiemen feucht halten konnte. Er stellte schnell fest, dass er dieses Ding nicht einfach vor sich her wuchten konnte, weil dann zu viel Wasser verloren ging. Stattdessen zog er es mit zwei Armen vorsichtig hinter sich her, was ihn deutlich verlangsamte. Das war schlecht, wenn das Weibchen tatsächlich versuchen sollte, HP aufzuessen, aber leider nicht zu ändern.

 

»Sag mir bitte, dass ich mir eben bei dem Gewackel die Rummel angeschlagen habe und jetzt halluziniere.«

»Warum?«

»Weil da hinter uns ein gigantischer Oktopus ist, der einen scheiß Swimmingpool hinter sich herzieht.«

»Was?«

»Nicht langsamer werden! Guck nach vorn und drück aufs Gas!«

 

Er zog seine Last geduldig über die Felder. Die ersten Lichter, die näher kamen, entpuppten sich als Hindernisse. Gebilde aus Stein und Glas, die innen leuchteten. Er versuchte gar nicht erst, seine Wasserbüchse darüber zu hieven, sondern schlug mit den vorderen Armen darauf ein, bis ein Korridor entstand, durch den er weiter vorankam. Zumindest, bis er durch Zufall entdeckte, dass diese Hindernisse offenbar von den rosa Wesen bewohnt waren. Er hatte eins davon zerschlagen, als ihm klar wurde, dass aus den Umstehenden jede Menge der HP-Verwandten gestürmt kamen, die alle wild mit den Gliedmaßen wedelten. Nichts von dem, was sie wedelten, ergab einen Sinn, aber es schien ihm, dass sie sehr aufgebracht waren. Was ja auch kein Wunder war, wenn er gerade fröhlich ihre Schlafhöhlen zertrümmerte! Bei allen Wassern, ihm war überhaupt nicht klar gewesen, dass es so viele von ihnen gab. Er hatte bestimmt den oder anderen davon versehentlich zerquetscht auf seinem Weg. Das würde HP ganz und gar nicht gefallen!

Die Narbe an seinem linken vorderen Arm juckte verräterisch. Er erinnerte sich daran, wie HP mit einem kleinen Gegenstand so zornig auf diesen Arm eingeschlagen hatte, nur, weil er den Arm um einen von den anderen gewickelt und zugedrückt hatte. Wie hätte er denn bitte damit rechnen können, dass die rosa Wesen so schnell platzten? Dass sie innen noch viel rosafarbener waren und voller rotem Wasser, hätte er gern näher untersucht. Aber HP war so wütend geworden, dass er ihm einen Saugnapf abgetrennt hatte. Das hatte wehgetan! Er war zurück in sein Becken gekrochen und hatte die Nahrung verweigert, so lange, bis ihm HP als Friedensangebot die neue Schlafhöhle gebracht hatte. Die, die er jetzt hinter sich herzog, und wegen der er schon wieder rosa Wesen zum Platzen gebracht hatte. Vorsichtig schob er das Wasserbecken zurück und suchte sich einen neuen Weg.

 

»Hallo? – Was? Ja, wir sind gerade im Mandelbachtal. – Was? Nein, die Leute sind nicht kollektiv verrückt geworden. – Ja. – Ja. – JA! Wir sehen es auch. Es ist wahr. – Nein, ich hab nicht gesoffen, du Arschloch. Hier marodiert wirklich gerade ein riesiger Oktopus herum. – Ja, er zieht ein Wasserbecken hinter sich her. – Was? Na ja, in Anbetracht der Tatsache, dass er gerade halb Bliesransbach zerlegt hat, würd ich schon davon ausgehen, dass Leute zu Schaden gekommen sind. – Was? Hast du einen Knall? Wir fahren auf gar keinen Fall näher ran! Das Vieh ist so groß wie ein verschissenes Hochhaus! Was soll ich denn machen? Ihm die Dienstpistole unter die Nase halten und es verhaften? Schick die scheiß Bundeswehr! Ruf die Amis an! – Was? Hallo? Hallo? Hallo?«

»Verbindung abgerissen?«

»Scheiße, ja. Das Netz hier taugt nix, auch ganz ohne durchgedrehte Riesenmonster.«

»Was wollte er?«

»Dass wir das Vieh aus den bewohnten Gegenden treiben.«

»Haha. Wie denn? Soll ich’s mit Fischen locken?«

»In der Größe müsstest du wahrscheinlich mit einem Buckelwal wedeln.«

»Was machen wir denn jetzt?«

»Aus ausreichendem Abstand beobachten. Schau mal, es wechselt die Richtung. Wo will es nur hin?«

»Ans Meer?«

»Na hoffentlich nicht! Was glaubst du, was die Franzosen sagen, wenn ein riesiger deutscher Oktopode das Département Moselle zerlegt?«

»Wär der direkte Weg zum Meer nicht eher durch Luxemburg und Belgien?«

»Das wär nicht besser, oder? Aber wenn es nicht zum Meer will und die Richtung beibehält, die es jetzt eingeschlagen hat …«

»Dann zerlegt es Ramstein!«

»Ob das ein internationaler Zwischenfa…?«

»Darüber will ich gar nicht nachdenken. Wir brauchen schweres Gerät.«

»Was willst du machen?«

»Frittierte Riesencalamari natürlich. Oder willst du mit dem Monster verhandeln?«

 

Wolle stand vor Problemen, mit dem er nicht gerechnet hatte. Zum einen war das Draußen deutlich größer, als er vermutet hatte. Und zum anderen war seine Wahrnehmung heftig eingeschränkt ohne die Wasser um ihn herum. Alles roch nach seiner Schlafhöhle, was ja kein Wunder war, weil das einzige Wasser aus ebenjener kam. Aber HP war nicht in der Schlafhöhle, er war irgendwo im Draußen. Und an seinem Geruch würde Wolle ihn so nicht erkennen können. Sicht würde ihm hier auch nicht weiterhelfen – unten, im Dunkel, waren seine Augen nützlich, aber hier war so viel Bewegung, dass sie ihn eher verwirrten. Er würde einen Bogen um die Steindinger machen und erst einmal nachdenken müssen.

 

»Hallo, hört ihr mich? – Okay, pass auf. Das Vieh hat den Rückwärtsgang eingelegt und sitzt nun kurz vorm Kappelberg auf einem Feld. Was machen wir? – Hm. – Okay.«

»Und?«

»Wir warten und beobachten. Sie schicken Hubschrauber und Panzer.«

»Panzer im Mandelbachtal? Wissen die Franzosen Bescheid?«

»Ich hoffe es. Es sind amerikanische Panzer.«

»Dir ist klar, dass wir am Arsch sind, oder?«

»Inwiefern?«

»Dieses Ding … das ist wohl kaum im Mandelbach gewachsen.«

»Das lässt sich ziemlich sicher ausschließen, Sherlock. Worauf willst du hinaus?«

»Wenn ein seltsamer amerikanischer Techmilliardär mit Weltherrschaftsfantasien in Bliesmengen-Bolchen godzillagroße Oktopoden züchtet, wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir es überleben, wenn wir irgendwem davon erzählen?«

»Du meinst …«

»Wir sind in einem schlechten Kinofilm, ja.«

»Fuck.«

»Genau das.«

»Also sagen wir nichts? Einfach gar nichts? Was, wenn die fragen, warum wir hier draußen waren?«

»Wir wollten noch mal zum Haus von Herrn Lühe, in der Hoffnung, dort einen Hinweis auf sein Umfeld zu finden. Leider kam uns der vollkommen überraschende Monsterangriff dazwischen und wir haben nicht den Hauch einer Ahnung, wo dieses Monster hergekommen sein könnte.«

 

Wolle trauerte. Ihm war klar geworden, dass er keine Chance hatte, HP inmitten des Draußens zu finden. Es war zu groß, zu trocken, zu laut, zu voll, zu viel. Einfach zu viel. Das Wasser in seinem Schlafhöhlentransportbecken neigte sich dem Ende zu, und er musste wohl einsehen, dass seine Rettungsmission gescheitert war. Wenn das Weibchen HP noch nicht gefressen hatte, dann würde es das wohl bald nachholen, und er konnte nichts dagegen unternehmen. Er würde einfach in sein Becken zurückkehren und hoffen, dass HP die Paarung überlebt hatte. Und wenn nicht, dann würde er sich wohl damit abfinden müssen, dass seine Ewigkeit aus Langeweile und Elend bestehen würde. Obwohl … vielleicht würden die rosa Wesen Ersatz für HP und die anderen schicken. Und vielleicht wäre unter denen einer, der so klug und possierlich wäre, wie es HP gewesen war, und den er dann dressieren konnte, bis er dazu imstande wäre, vernünftig für ihn zu sorgen. Er entschloss sich, so viel des verbliebenen Wassers wie möglich in seine Kiemen zu saugen und den Rest über sich zu kippen. Das sollte ihn lange genug feucht halten, bis er seine Höhle erreicht hatte. Frisch geduscht machte er sich auf den Rückweg. Dabei achtete er sorgfältig darauf, nicht versehentlich noch weitere der rosa Wesen zu zerquetschen.

 

»Was tut es denn jetzt?«

»Es kehrt um.«

»Das seh ich. Aber warum?«

»Vielleicht ist ihm klar geworden, dass das Meer zu weit weg ist?«

»Und deshalb nutzt es vorher das komplette ihm zur Verfügung stehende Wasser, bevor es den Weg zurückgeht, den es gekommen ist? Ist dir nicht klar, was das bedeutet?«

»Dass es jetzt viel schneller unterwegs ist, weil es den blöden Pool nicht mehr mitschleppen muss?«

»Das auch, aber das mein ich nicht, du Depp. Nein, das ist vorausschauendes Verhalten. Planung. Das ist ein eindeutiger Beweis für Intelligenz.«

»Du willst mir erzählen, dass Oktozilla da vorn ein Gehirn hat?«

»Der hat sogar mehrere, wenn er wirklich ein Oktopus ist. Die haben in jedem Arm ein eigenes, hab ich mal gelesen. Aber das ist grad gar nicht der Punkt. Der Punkt ist, wenn das Wesen intelligent ist, dann dürfen wir es nicht nur nicht mit Raketen beschießen, es könnte auch noch …«

»… eine echt beschissene Idee sein? Oh fuck. Sekunde. – Hallo? – Hallo? – Ruft die Amis zurück! – Was? Was soll das heißen, wie denn? Ruft halt da an, genauso wie ihr sie hergerufen habt. – Nein! – Nein, IHR versteht nicht. Das Vieh ist intelligent. Es kann vorausschauend handeln. – Was? OH FUCK. – Ja. – Ja, ich seh sie. Oh fuck. Oh fuck

 

Wolle eilte mit lang gestreckten Armen über die Weite des Draußens, immer am Geruch des heimischen Beckens entlang, als plötzlich helle Lichtstrahlen von oben das Dunkel durchdrangen. Er erinnerte sich an die Warnungen der Alten, damals, in der Zeit vor der Zeit: »Hüte dich vor dem Licht, dass das Dunkel von oben durchschneidet! Es bringt Schmerz und Leid mit sich.« Damals hatte er die Geschichte vom Licht von oben als Märchen abgetan, doch jetzt folgte den tanzenden Lichtstrahlen tatsächlich Schmerz. Ein scharfes, sirrendes Geräusch schoss an ihm vorbei und etwas traf mit einem lauten Knall einen seiner Arme. Er roch sein brennendes Fleisch und schrie so laut, wie er noch nie zuvor geschrien hatte – mit allen Armen gleichzeitig. Dabei traf er etwas, das in der Luft neben ihm schwebte. Eins der Lichter erlosch, und dann explodierte nicht weit von ihm entfernt ein Flammenball. Wolle verharrte. Flammen waren eine seltene Gefahr in den Wassern, aber jeder Bewohner der Tiefe wusste, dass man sich von denen besser fernhielt. Doch diese Flammen lagen zwischen ihm und seinem Becken. Er versuchte, dem flackernden Schein seitlich auszuweichen, als erneut das scharfe, sirrende Geräusch erklang. Instinktiv zog er all seine Arme an den Körper und machte sich so klein wie möglich. Die Explosion knallte hinter ihm. Also kamen die Flammen aus den fliegenden Dingern, die ihn umschwirrten. Und sie taten weh. Wolle griff nach oben, packte zwei der nervenden Dinger und knallte sie aneinander. Dabei zog er die Arme nicht schnell genug weg und verbrannte sich einen weiteren Tentakel. Langsam wurde er wütend.

 

»Du verstehst das nicht! Der nimmt die Helis einfach aus der Luft. Als ob er Äpfel pflücken würde. So kommen wir nicht weiter. – Was? – Wie meinst du das? – Oh mein Gott …«

»Was? Was? Um Himmels willen, was ist los?«

»Fahr los! Schnell! Ohne Licht! Richtung Saarbrücken! So schnell du kannst!«

»Warum? Was passiert denn hier? Wo bleiben denn die Panzer?«

»LOS!«

»Ja, ich fahr ja schon. Was …«

»Die Panzer kommen nicht. Fahr schneller.«

»Was meinst du mit die Panzer kommen nicht? Was wollen sie denn sonst machen? Das Vieh bombardieren?«

»Fahr schneller!«

 

Wolle erreichte sein Becken. Das immer noch perfekt temperierte Salzwasser legte sich wie Balsam um seine verletzten Tentakel. Er kroch an seinem Spielgerüst vorbei, tiefer, immer tiefer. Vorbei an seiner alten Schlafhöhle, tiefer und tiefer. Dorthin, wo HPs Geräte ihm niemals hatten folgen können. Dorthin, wo die Wasser nur wenig von den Schächten trennte, die die rosa Wesen in die Erde gebohrt hatten. Tief, so tief unter der Erde.

Als weit über ihm, ohne sein Wissen, die Piloten auf Befehl ihre explosive Last abwarfen, schlug er mit all dem Zorn, der sich in ihm angesammelt hatte, den Schiefer in Trümmer, der seine Becken von den Schächten trennte.

Die Freiheit wartete.

Freiheit und Rache.

 

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GERMAN KAIJU – verDAMNt°!

Markus Heitkamp (Hrsg.)
Anthologie, Taschenbuch
Seiten: 370
Mai 2023

Mehr Infos zur Anthologie und zum Verlag findet ihr hier.

 

Kurzbio der Autorin der PAN-Kurzgeschichte MÄRZ/APRIL:

Isa Theobald, Autorin, Lektorin und Übersetzerin, lebt  mit ihrer Familie im Saarland. Dort arbeitet sie noch nebenberuflich in der Buchhandlung Drachenwinkel, wo sie ebenso wie beim Buchmesse Saar Festival für die Programmplanung zuständig ist. Außerdem ist sie Erste Vorsitzende des PAN e.V., Mitglied im VS, dem Selfpublisher-Verband und dem VfLL und Mit-Initiatorin der Autor*innen gegen Rechts Initiative.

Mehr Infos findet ihr auf Isas Website

 

DEADLINE präsentiert: DIE PAN-KURZGESCHICHTE Mai/Juni