In Belgien erschütterte der Fall des Pädokriminellen und Kindermörders Marc Dutroux in den 90er-Jahren das Land. Er wurde 2004 zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Vier Jahre später gab es einen weiteren schockierenden Verlauf dieses Falls. Ausgerechnet der damalige Anwalt der Opferfamilien hatte selbst keine saubere Weste. Victor Hissel hatte zwischen 2005 und 2008 mehr als 7.500 kinderpornografische Bilder abgerufen, die in keiner Weise als «Recherchematerial» deklariert werden konnten, wie er selbst anfangs behauptete. Hissel wurde angeklagt und 2010 zu einer zehnmonatigen Gefängnisstrafe ohne Bewährung verurteilt. Daran geknüpft ist eine tragische Familiengeschichte, die Joachim Lafosses Film EIN SCHWEIGEN aufzufächern versucht.
Lafosse, der hier auch als Co-Drehbuchautor fungiert, zeigte schon in seinem aufrüttelnden Drama UNSERE KINDER von 2012, dass er ein Händchen für die intime filmische Aufarbeitung von Familientragödien aus dem wahren Leben hat. Ihn interessierte nicht die reißerische Schlagzeile, sondern die Frage, wie es dazu kam, dass eine psychisch kranke Mutter alle ihre fünf Kinder umbrachte. Auch in seinem neuen Film interessieren ihn deshalb eher die Ereignisse, die zu Hissels Verhaftung führten. Wie jahrzehntelang gehütete Geheimnisse zu einer schambehafteten, falsch verstandenen Loyalität und schließlich einer innerfamiliären Katastrophe führten.
Schuldig daran haben sich letztendlich fast alle Familienmitglieder gemacht, weil sich die Art, nicht miteinander zu kommunizieren, in der Art widerspiegelt, wie sie aneinander vorbeileben. Der Vater, der sich nur in seiner Arbeit vergräbt und darin, dass er meint, etwas Gutes zu bewirken, die eigene Täterschaft zu vertuschen sucht – vielleicht sogar zu entschuldigen. Die Mutter, die nichts sehen, hören oder fühlen und mit dieser Taktik ihren stillen Sohn beschützen will, der kurz vor einer emotionalen Eruption steht. Die Tochter, die der Familie schon lange den Rücken gekehrt hat und den Stein erst ins Rollen bringt.
EIN SCHWEIGEN urteilt aber nicht selbst, sondern überlässt dies dem Publikum. Stattdessen zeigt der Film in ruhigen Einstellungen, wie hier alle durch einen Alltag schlafwandeln, den das Leben schon lange verlassen hat. Lafosse verzichtet in seiner Erzählung auf allzu schockierende Bilder, die in Filmen mit dieser Thematik gerne herbeigezogen werden. Stattdessen hört man nur, was sich Daniel Auteuil, der den Anwalt François Schaar spielt, an seinem Computer ansieht. Zwar wirken alle Figuren nicht sonderlich sympathisch und seltsam entrückt, so als wisse man nie genau, was in ihnen vorgeht und wer sie eigentlich sind. Doch da sie sich selbst irgendwo auf dem Weg bereits verloren haben, spiegelt diese Unnahbarkeit sehr gut ihre innere Leere.
Dazu passt auch, dass der Film mit Astrid – der Mutter – (Emmanuelle Devos) beginnt und endet. Ihrem Gesicht, in dem nicht zu lesen ist, ob es Angst, Erleichterung oder Bedauern trägt. Lafosses kammerspielartige Dramaturgie hält keine einfachen Antworten parat und schickt das Publikum durch ein kaltes, erstarrtes Haus, das trotz der Weite der Räume das Atmen bis zum bitteren Schluss schwerfällig macht. (Sarah Stutte)
Blick in den realen Abgrund einer Familie