Vom 7. Bis 17. November fand das 73. Internationale Filmfestival Mannheim Heidelberg (IFFMH) statt und bot Filminteressierten ein vielseitiges Angebot, um in unterschiedliche cineastische Welten einzutauschen. Hochkarätige Gäste, spannende Panels und Raum zum Austausch rundeten die Festivaltage ab. Checkt das Reel und verschafft euch einen Eindruck vom Festival.
Jessica und Chris aus unserem Team waren ein paar Tage in Mannheim und Heidelberg unterwegs haben ihre Eindrücke mitgebracht: über Nostalgie mit ikonischen Klassikern, vielversprechende Newcomer, versierte Genre-Mixer und den Spaß, Filme zu machen und zu erleben.
Filmfestivals sind für Cineasten so etwas wie ein Schlaraffenland mit dem Luxusproblem der gelegentlichen Reizüberflutung: Man verbringt (soweit es der Zeitplan und die Aufnahmefähigkeit zulassen, den ganzen Tag damit, Filme zu schauen, über Filme nachzudenken und über Filme zu reden. Für mich (Jessica) war es das erste Filmfestival, das ich mehrere Tage besucht habe. Der Charme des IFFMH lag für mich an dem hervorragend kuratierten Programm sowie dem geselligen Miteinander ohne anstrengenden Netzwerk-Zwang. Hier treffen Filmemacher und Cast auf Besucher, Journalisten und Organisatoren. Alles vermischt sich und die gemeinsame Liebe zum Film liegt in der Luft wie der Popcornduft – denn auch das verspeist man an Festivaltagen ganz selbstverständlich schon morgens. Das einzige Manko und Luxusproblem: Solange man sich nicht vierteilen kann, muss man bei so einem tollen Festivalprogramm selektieren. Aber das Schöne ist ja, dass die meisten Filme erst noch ins Kino kommen oder im Stream, auf Blu-ray oder DVD erhältlich sind. Auch wenn das Festival-Flair natürlich nicht zu ersetzen ist.
Wir haben viele Filme gesehen und stellen euch hier eine Auswahl von jenen Werken zusammen, die uns – aus unterschiedlichsten Gründen – besonders gut gefallen haben. Über die Links könnt ihr direkt zu den entsprechenden Filmen springen.
NIGHT BITCH
SHARP CORNER
GAZER
DER TOD WIRD KOMMEN
DEAD MAIL
EMILIA PERÉZ
PAYING FOR IT
THEY WILL BE DUST
BOUND IN HEAVEN
BRING THEM DOWN
THE RETURN
FLOW
BIG BOYS
TERMINATOR 2: TAG DER ABRECHNUNG
Jessicas Highlights beim IFFMH 2024
NIGHT BITCH
Obwohl sie ihren Sohn liebt, fühlt sich die junge Mutter (Amy Adams) in NIGHT BITCH erschöpft und isoliert. Früher eine Künstlerin und Kuratorin in der Stadt, hat sie sich mit ihrem Mann darauf geeinigt, mit dem Kind im Vorort zu Hause zu bleiben. Doch der immergleiche Alltag aus Windeln wechseln, Bananenschneiden und Spielplatzbesuchen frustriert sie zusehends. Erst als eines Tages etwas Ursprüngliches und Wildes in ihr erwacht und sie sich schließlich in einen Hund verwandelt, stößt sie das Tor zur Freiheit auf. Urkomisch und originell erkundet Regisseurin Marielle Heller in dieser abgefahrenen Horrorkomödie die Herausforderungen des Mutterseins und die weibliche Identität. Amy Adams brilliert fernab von Hollywood-Glam als „normale“ Frau – uneitel, roh und mitreißend. Ein gelungener Mix aus Gesellschaftskritik und leichter Unterhaltung, bei der man herzlich lachen und nachdenken kann. Manchmal möchte man die Protagonistin schütteln, damit sie ihrem (zugegeben etwas überzeichnet dargestellten) passiven Mann endlich Kontra gibt. Das abgedrehte Moment der Verwandlung in einen Hund bietet zwar auch ein paar eklige und „WTF?!“-Momente, nimmt dem Film aber nichts von seiner Schlagkraft und Humor. Die Flucht in das Dasein als Tier steckt voller Symbolik, die jeder für sich selbst erörtern kann. So oder so ist der Film allein wegen Amy Adams mitreißenden Leistung sehenswert! Fun Fact: NIGHT BITCH der einzige Film, den wir gemeinsam geschaut haben. Von wegen vierteilen und so.
SHARP CORNER
SHARP CORNER, der diesjährige IFFMH-Eröffnungsfilm von Regisseur Jason Buxton wartet mit einer besonderen Story auf: Rachel (Cobie Smulders) und Josh (Ben Foster) erfüllen sich ihren Traum vom eigenen Haus und ziehen mit dem gemeinsamen Sohn raus aus der Stadt. Die Kartons sind noch nicht ganz ausgepackt, da hören sie plötzlich einen gewaltigen Krach im Vorgarten: Ein Auto ist gegen den Baum gerast, der Fahrer tot, die Beifahrer schwer verletzt. Und sosehr auch die anderen Familienmitglieder mit dem dramatischen Erlebnis ringen: Für Josh entwickelt es sich zum Trauma mit schwerwiegenden Folgen. Wie besessen ist er fortan von der Idee, weitere mögliche Opfer zu retten.
Im Q&A nach dem Film gab Regisseur Jason Buxton spannende Einblicke in die Produktion, unter anderem, dass er zunächst Michael Fassbender für die männliche Hauptrolle vorgesehen hatte. Der gebürtige Heidelberger hätte natürlich auch super in den Film und zum Festival gepasst. Er musste zwar ablehnen, empfahl das Drehbuch aber seiner Agentur, bei der auch Ben Foster unter Vertrag war. Ein glücklicher Zufall, denn Foster verleiht dem psychologischen, schwarzhumorigen Drama mit Hitchcock-Bezügen seine besondere Stimmung. SHARP CORNER wird so zu einer schrägen, aber ausdifferenzierten Charakterstudie. Vor allem gelingt es Jason Buxton durch die besondere Erzählweise, dass man sich mit dem Protagonisten und seinem Konflikt identifiziert und (hoffentlich?) erschrickt, wenn man sich genau wie dieser plötzlich den nächsten Unfall im Film herbeisehnt. Fazit: Nervenaufreibende und unterhaltsame Einblicke in die Psyche eines Mannes, der das Spektrum der Midlife-Crisis sprengt.
GAZER
Regelmäßige Blackouts und ein allgemeiner Verlust des Zeitgefühls gehören in GAZER von Regisseur Ryan J. Sloan zu Frankies (Ariella Mastroianni) Krankheit. Um trotz dieser sogenannten Dyschronometrie ihren Alltag zu bewältigen, behilft sich die junge Frau mit Audiokassetten, auf denen sie ihr Leben dokumentiert. Ihr Ehemann hat sich mutmaßlich das Leben genommen, die siebenjährige Tochter befindet sich in Obhut der Schwiegermutter. Eines Tages lernt Frankie in einer Selbsthilfegruppe Paige kennen, die ihr ein finanziell attraktives Angebot macht: Für 3000 Dollar soll sie deren Auto vom gewalttätigen Bruder zurückstehlen. So sehr sie das Geld allerdings benötigt, so schwierig gestaltet sich angesichts von Frankies Zustand die Ausführung. Und dann kommen auch noch zunehmende Zweifel an Paiges Version der Geschichte auf. Regisseur Ryan J. Sloan ist ein Elektriker und autodidaktischer Filmemacher aus New Jersey. Er ging mehreren Jobs gleichzeitig nach, um seinen ersten Film vollständig selbst zu finanzieren. In Cannes war er damit in diesem Jahr für die Caméra d’Or nominiert.
Ich hatte die Gelegenheit, in der Festivallounge kurz mit Ryan zu sprechen und war beeindruckt von dem jungen Regisseur und der Hingabe, die man in dieser Branche neben viel Mut und Investitionen (materiell wie ideell) zweifelsohne braucht. GAZER ist ein Debüt, das vor einen vor allem durch die eindrucksvolle Darbietung von Hauptdarstellerin Ariella Mastroianni gefangen nimmt. Der Kassettenrekorder als ständiger Begleiter passt als vermeintlicher Anachronismus perfekt zu den wunderbar körnigen 16-mm-Bildern mit Anklängen an New Hollywood und das Paranoia-Kino. Unweigerlich muss man beim Schauen an Christopher Nolans MEMENTO denken. Die Anleihen sind da, aber kopiert wird nichts. Der Film ist ein atmosphärisch dichter Neo-Noir-Thriller, der den Zuschauer immer ganz nah an der Protagonistin hält, einige Fragen offenlässt und bis zum Schluss spannend ist. Einziger kleiner Schwachpunkt aus meiner Sicht: Ein paar der Szenen gegen Ende (wenn auch als Traumsequenz) driften zu sehr in Richtung Bodyhorror und Fantasy ab und nehmen den Fokus von der emotionalen Stärke als klassischer Thriller. Hier hätte es aus meiner Sicht keine zusätzliche Genre-Anleihe gebraucht.
DER TOD WIRD KOMMEN
Um den Mord an einem seiner Kuriere zu rächen, heuert der mächtige Brüsseler Gangsterboss Charles Mahr (Louis-Do de Lencquesaing) in DER TOD WIRD KOMMEN (LA MORT VIENDRA) die hochprofessionelle Auftragskillerin Tez (Sophie Verbeeck) an. Doch die findet sich schon bald in einem Netz aus Lügen und Intrigen wieder. Wer hier wen manipuliert und benutzt, wird immer undurchschaubarer – und die Jägerin wird selbst zur Gejagten. Mit seinem neuesten Werk zeigt der gefeierte deutsche Autorenfilmer Christoph Hochhäusler einen spannenden Neo-Noir-Thriller in Anlehnung an den französischen Polizeifilm. Hauptdarstellerin Sophie Verbeeck steht als sinnlich-androgyne Killerin im Mittelpunkt und zieht das Publikum durch ein narratives Labyrinth aus immer mehr Abzweigungen und Twists. Die machen den Film an der einen oder anderen Stelle etwas unübersichtlich, was aber durch die starke Besetzung und die schön kühle, urbane Ästhetik aufgefangen wird und dem raffinierten Finale keinen Abbruch tut. Ich hatte während des Festivals Gelegenheit, mit Regisseur Christoph Hochhäusler über seinen Film und die TV- und Kinolandschaft allgemein zu sprechen. Hier geht’s zum Interview.
DEAD MAIL
DEAD MAIL von dem Regie- und Autorenduo Joe DeBoer und Kyle McConaghy besticht mit einer außergewöhnlichen Story, die sich zunächst um ein skurriles Berufsfeld dreht: Jasper (Tomas Boykin) arbeitet in einer Postfiliale als eine Art Detektiv, der die Empfänger unzustellbarer Briefe aufspürt. Als auf seinem Schreibtisch ein blutverschmierter Zettel landet, ist das der Auftakt für die diesen einfallsreichen Psychothriller in körnigen Bildern und 80er-Jahre-Gewand. Durch einen späteren Perspektivwechsel erzählt der Film die Geschichte, die zu dem Zettel geführt hat: Der Synthesizer-Ingenieur Josh (Sterling Macer Jr.) und ein von der Technik begeisterter Musikfan Trent (John Fleck), zwei Außenseiter, lassen sich auf eine Geschäftspartnerschaft miteinander ein. Nach vielversprechendem Beginn kommt es aber recht bald zu einer folgenschweren Enttäuschung und einer gefährlichen Wendung, sodass sich Josh als Gefangener wiederfindet. Als die Hoffnung auf einen Ausweg längst dahinschwindet, gibt die Hartnäckigkeit der Mitarbeiterinnen in der Postfiliale Ann (Micki Jackson) und Bess (Susan Priver) der Geschichte eine neue Wendung. Die Optik im Retro-Gewand, gepaart mit den Synthie-Sounds und der Liebe zum Skurrilen macht DEAD MAIL (gäbe es einen besseren doppeldeutigen Titel?) zu einer echten Genreperle, die mir ohne das IFFMH wahrscheinlich entgangen wäre. John Fleck spielt den Psychopathen eindrücklich, die Spannung ist in allen Teilen der Geschichte konstant. Und dann noch das Ende und die nervenaufreibende Frage: Beruht der Film auf wahren Begebenheiten? Hier nutzen die Macher nämlich so etwas wie eine doppelte Verneinung und die Frage ist damit (zumindest für mich) nicht eindeutig beantwortet.
EMILIA PERÉZ
Zwei weitere persönliche Highlights in Kürze: In EMILIA PERÉZ will ein mexikanischer Kartellboss durch eine heimliche Operation zur Frau werden und später Abbitte für seine Taten leisten. Musical meets Gangsterfilm. Klingt absurd, funktioniert aber und zwar vor allem wegen der herausragenden und meiner Meinung nach oscarverdächtigen Zoe Saldana.
PAYING FOR IT
PAYING FOR IT basiert auf der gleichnamigen Graphic Novel von Chester Brown. Als ihm seine Freundin eine offene Beziehung nahelegt, kommt Chester Brown kurzerhand auf die Idee, eine Sexarbeiterin aufzusuchen. Schreiend komisch und einfühlsam erzählt Regisseurin Sook-Yin Lee ihre eigene Geschichte und öffnet die Diskussion rund um Sexarbeit, Monogamie und das Glück des Einzelnen.
Chris‘ Highlights beim IFFMH 2024
Nachdem ihr hier schon über DEAD MAIL, NIGHT BITCH, DER TOD WIRD KOMMEN und SHARP CORNER gelesen habt, blicken wir jetzt weiter über den Genretellerrand hinaus.
THEY WILL BE DUST
In THEY WILL BE DUST (Polvo serán, 2024) lädt Carlos Marqués-Marcet zum Tanz mit und in den Tod ein. Im wahrsten Sinne des Wortes. Denn in seinem sechsten Spielfilm erzählt der Spanier (Regie, Drehbuch) eine traurig-schöne Geschichte vom Leben, Lieben und Leiden (auch) als Musical mit ausdrucksstarken Tanzeinlagen. Und behutsamem Witz. Es geht um das Künstlerpaar Claudia (Ángela Molina) und Flavio (Alfredo Castro), die sich auf ihr gemeinsames Ende vorbereiten: Claudia hat einen Gehirntumor und möchte in der Schweiz in Würde sterben, Flavio will nicht alleine weiterleben. Doch vor dem Tod soll der Bund fürs Leben geschlossen werden, die Familie trifft sich zur Hochzeitsfeier. Dort prallen die Emotionen aufeinander, denn die Kinder von Claudio und Flavio reagieren zunächst irritiert, verbittert und wütend auf den Todeswunsch der Eltern. Der beim Screening anwesende Marqués-Marcet versteht seinen Film klar als Musical und will mit der Geschichte eine Diskussion über das selbstbestimmte Lebensende anregen. Neben spektakulären Choreographieren und starkem Cast präsentiert er einen nüchternen Blick auf eine Freitodbegleitung – gedreht in einer entsprechenden Einrichtung in der Schweiz.
BOUND IN HEAVEN
Auch Huo Xin (Drehbuch für KUNG FU HUSTLE) nährt sich in ihrem Regiedebut BOUND IN HEAVEN (Kun bang shang tian tang) auf einfühlsame Weise dem Tod und schildert eine ungewöhnliche Romanze in herrlichen Bildern. Darin trifft die erfolgreiche Geschäftsfrau Xia Yo (Ni Ni) auf den Tagelöhner Xu Zitai (Zhou You). Sie droht einen Auftritt der von ihr vergötterten Sängering Faye Wong zu verpassen, er verhilft ihr zu einer einzigartigen und hoffnungslos romantischen Konzerterfahrung. Der Beginn einer großen Liebe zweier gebeutelter Schicksale. Xia Yo leidet unter ihrem gewalttätigen Verlobten, Xu Zitai hat nicht mehr lange zu leben – und will sich nicht behandeln lassen. Frei von jeder Gefühlsduselei lüftet sich mit jedem Frame eine Geschichte von kathartischer Schönheit, die nicht nur wegen der prominenten Musik von Faye Wong (CHUNGKING EXPRESS) an Wong Kar-wai erinnert. Den musikalischen Höhepunkt nimmt jedoch das Stück „Lights“ der englischen Band ARCHIVE ein, das als Leitmotiv mit den Bildern zu einem melancholischen Rausch verschmilzt.
BRING THEM DOWN
Nochmal Leben und Tod, jetzt aber düster, ruppig, böse. „Gewalt erzeugt Gegengewalt, hat man dir das nicht erklärt? Oder hast du da auch, wie so oft, einfach nicht genau zugehört?“ singen DIE ÄRZTE im Schunder-Song. Die zwei benachbarten irischen Bauernfamilien in Chris(topher) Andrews Langfilmdebut BRING THEM DOWN haben definitiv nicht zugehört. Als eine marode Brücke einstürzt, entwickelt sich aus einer von Patriarchat und verquerem Traditionsbewusstsein angefeuerten Fehde ein blutiger Wettstreit, den niemand gewinnen kann. Die inhaltlich konventionelle Geschichte bricht Regisseur und Drehbuchautor Andrews mit chronologischen Zeitsprüngen, die dem Film erfrischende Nuancen und Spannung verleihen. Christopher Abbott (POOR THINGS), Nora-Jane Noone (THE DESCENT) und Barry Keoghan (SALTBURN) verheddern sich in eine Spirale der Gewalt, die einigen Zuschauer:innen im Publikum sichtbar körperliches Unbehagen bereitete. BRING THEM DOWN ist eine deprimierende, toll gespielte Familiengeschichte voller verlorener Seelen mit so imposanten wie bedrohlichen Bildern der in Irlands Osten gelegenen Wicklow Mountains.
THE RETURN
Totgesagte leben länger. Niemand (hihihihi) weiß das besser als die griechische Sagengestalt Odysseus (Ralph Fiennes). Nach jahrzehntelangen Irrfahrten erreicht er als von Kriegsgräueltaten gebrochener Mann endlich seine Heimat Ithaka, wo zahlreiche Freier erst seine Frau Penelope (Juliette Binoche) und dann den Thron besteigen wollen. Niemand glaubt an die Rückkehr des Königs, auch nicht Sohnemann Telemachos (Charlie Plummer), der seinen Vater im Übrigen noch nie getroffen und nicht gerade die beste Meinung vom legendären Odysseus hat. Doch Penelope hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben. THE RETURN von Uberto Pasolini (produzierte GANZ ODER GAR NICHT) entmythologisiert Homers ODYSSEE und zeigt einen von Gewalt und Mord traumatisierten Helden, den Ralph Fiennes mit beeindruckender Physis – der Hauptdarsteller unterzog sich einer strengen Diät und Fitnessroutine – und wortkargem Schauspiel zum Leben erweckt. Auch Juliette Binoche agiert vor allem physisch, was den wenigen Worten zwischen dem Paar stärkeres Gewicht verleiht. THE RETURN ist großes Schauspielkino, das sich langsam entwickelt. Bis zum gewalttätigen Höhepunkt, bei dem sich Pasolini dann doch jene Actionfilmmomente gönnt, die man von einer konventionellen Adaption der ODYSSEE erwarten könnte. Festivalleiter Sascha Keilholz begrüßte das Publikum scherzhaft als Altphilologenverband und stellte den anwesenden Pasolini vor, der umfassend über die Entstehung des Films sprach, Fragen aus dem Publikum beantwortet und trotzt später Stunde an einem Sonntag gar nicht mehr gehen wollte („Das war jetzt der letzte Film des Tages, oder? Also habt ihr doch Zeit.“)
FLOW
Im Animationsfilm FLOW des Letten Gints Zilbalodis spielen Tiere die Hauptrolle, Menschen sind nur als Geister einer verlorenen Zivilisation spürbar. Atmosphärisch erinnert der Film an Spiele des Game Developers Thatgamecompany (FLOWER, JOURNEY) und besticht mit einer stets präsenten, doch unaufdringlicher Ökobotschaft. Eine kleine Katze lebt in einem verlassen Haus, ständig auf der Flucht vor einer Gruppe Hunde. Als eine verheerende Flut das Land überschwemmt, findet sie sich plötzlich auf einem Boot mit anderen Tieren wider, die gemeinsam ums Überleben kämpfen. Die Katze muss ihre anfänglichen Ängste ablegen und über sich hinauswachsen, gleichzeitig lernt sie mit den anderen Tieren und dem Publikum, dass auch angesichts großer Differenzen nur ein Miteinander zum Ziel führt. FLOW macht seinem Namen alle Ehren und präsentiert eine mitreißende Flut immersiver Bilder, die majestätische Landschaften in satten Farben präsentieren. FLOW kommt ohne Dialoge aus und lebt allein von seiner visuellen Kraft, stimmiger Musik und Tierlauten, die auch ein sehr junges Publikum versteht. Das IFFMH zeigte FLOW in der Reihe „Junges Filmfest“ und verzauberte beim Screening nicht nur die anwesenden Kinder. Fantastisch. Zum Verlieben.
BIG BOYS
Wie FLOW wurde auch die Coming-of-age-Geschichte BIG BOYS in der Reihe “Junges Filmfest” gezeigt. Die entsprechenden Filme zeigt das IFFMH auch um 10.00 Uhr morgends, sodass Schulklassen den Festivalbesuch in den Unterricht integrieren können. BIG BOYS erzählt eine unverfälschte Coming-of-Age-Geschichte eines Teenagers (stark: Isaac Krasner), der auf einem Campingtrip seine Gefühlswelt erforscht – mit unerwartetem Ausgang. Das Langfilmdebut von Corey Sherman behandelt Themen wie Pubertät, erste Liebe und sexuelle Identität auf entwaffned ehrliche und charmante Weise. Ein Wesenszug, die der Film mit seinem Regisseur gemeinsam hat. Der anwesende Sherman stellte sich als schwuler Filmemacher vor und freute sich, BIG BOYS mit einem Publikum zu schauen, das im Alter des Protagonisten ist. Während einige Schüler:innen zu Beginn des Films bei gezeigter Homosexualität noch verlegen kicherten oder Sprüche klopften, vermochte es der Film den Saal rasch in seien Bann zu ziehen. Kaum Rascheln, keine Smartphones, ungewöhnliche Ruhe. Frenetischer Applaus begleitete die Credits, danach beantwortete der Regisseur (vorbereitete und spontane) Fragen der Schüler:innen wie: “Was hat deine Familie gesagt, als du erzählt hast, dass du schwul bist? Wurdest du gemobbt, weil du schwul bist? Ist es schwer, so einen Film zu vermarkten?” Sherman nahm sich geduldig Zeit und kam auch nach dem Screening mit einigen Personen ins Gespräch.
TERMINATOR 2: TAG DER ABRECHNUNG
Im Rahmen der Retrospektive „Körper im Film“ widmete sich das IFFMH der vielfältigen Darstellung von Körpern in der Filmgeschichte. Neben THE RAID, VIDEODROME oder AUDITION wurde unter anderem TERMINATOR 2: TAG DER ABRECHNUNG (in der restaurierten 4K-Fassung) gezeigt. Vorab verwies ein Moderator des Festivals auf die filmhistorische Bedeutung des Films und betonte die Rolle der Körper: Schwarzenegger als Sinnbild für den muskulösen Archetypen des Actionkinos der 1980er und 1990 und die fluide Gestalt des T-1000 als Vorreiter des CGI-Blockbusters. Dass Regisseur James Cameron mit der AVATAR-Reihe mittlerweile dem Körper „abgeschworen“ hat beziehungsweise von Menschen erzählt, die ihre Körper tauschen, wurde als folgerichtige Entwicklung gedeutet. Schade, dass bei der kurzweiligen Fachsimpelei der martialische Körper von Linda Hamilton aka Sarah Conner nicht thematisiert wurde. Im Publikum war er präsent. Mehrfach hörte man während des Screenings Aussprüche wie „Badass“ oder „Alter, cooler geht es doch nicht.“
Spannendes Rahmenprogramm beim IFFMH 2024
Rahmenprogramm
Sehr sehenswert und wie erwartet gut besucht war die Masterclass mit Regisseurin Lynn Ramsay (u. a. RATCATCHER, A BEAUTIFUL DAY), die während des Festivals mit dem GRAND IFFMH AWARD ausgezeichnet wurde. Sie hat unter anderem über ihre Arbeitsweise und die Bedeutung von Trauma und Musik in ihren Filmen gesprochen. Ihre Antwort auf die Frage: „Warum hältst du manche Informationen von den Zuschauern zurück?“ so einfach wie universell wahr: „There’s no nation like imagination!“. Gerade hat Lynn Ramsay die Horrorkomödie DIE, MY LOVE mit Jennifer Lawrence und Robert Pattinson abgedreht, die für 2025 angekündigt ist.
Rund um das Festival gab es noch viele spannende Angebote, Panels, Diskussionen und auch Möglichkeiten, die Städte Mannheim und Heidelberg zu entdecken. Leider schafft man in der Kürze der Zeit nicht alles, ohne de Reizüberflutung zu erliegen – da wären wir wieder beim Luxusproblem. Gänsehaut gab es auf jeden Fall beim Konzert des Aramis Orchesters, ein eigeninitiatives Jugendorchester für Filmmusik und Neoklassik mit über 30 jungen Menschen, die ihre Musik eigenständig arrangieren und präsentieren. In Zusammenarbeit mit der Jüdischen Gemeinde transportierten sie beim Konzert in der Synagoge das, wofür auch das IFFMH steht: kultureller Austausch und die Kraft der Verbindung durch Musik, Kunst und Film.
Vielen Dank an das gesamte Festivalteam für die tolle Organisation und das hochkarätige Programm, das die Vielfalt und Schönheit des Kinos gezeigt hat. Wir kommen gerne nächstes Jahr wieder!
Weitere Infos unter www.iffmh.de
Texte: Jessica Wittmann Naun und Christian Daumann