Rachel (Emily Blunt) ist ein seelisches Wrack. Seit ihrer Scheidung ist ihr ohnehin starker Alkoholkonsum noch mehr ausgeufert, und ihr Leben driftet nur noch dahin. Auf den täglichen Zugfahrten zur und von der Arbeit beobachtet sie die junge Megan (Haley Bennett) auf ihrer Terrasse. Sie hat alles, was Rachel nicht mehr hat – ein schönes Haus, eine erfüllte Ehe, ein glückliches Leben. Doch Megan leidet unter ihrer Vergangenheit und unter ihrem dominanten Ehemann, der unbedingt ein Kind von ihr will. Sie geht regelmäßig zum Psychologen und arbeitet als Nanny für ihre Nachbarin Anna (Rebecca Ferguson), die ehemalige Geliebte und neue Frau von Rachels Ex-Mann. Mit ihm lebt sie in dem gleichen Haus, das er vor Jahren mit Rachel gekauft hat und an dem diese jeden Tag zweimal mit dem Zug vorbeifährt.
So sieht sie aus, die Personenkonstellation, die GIRL ON THE TRAIN in seinen ersten 20 Minuten aufstellt. Drei Frauen, die klar miteinander verbunden sind und deren Leben direkt aufeinander aufbauen. Dabei ist es die alkoholkranke Rachel, die im Zentrum der Handlung steht, das titelgebende „Mädchen“ im Zug, das still in die Leben der anderen beiden hineinsieht und somit auch Zeugin der entscheidenden Veränderungen darin wird. Ein unbekannter Mann, der Megan eines Tages auf ihrer Terrasse in den Armen hält, ist es, der zu einer Kurzschlussreaktion bei Rachel führt. Die heile Welt ihrer Fantasie bricht plötzlich in sich zusammen. Die Frau, die alles hat, was ihr verwehrt bleibt, wirft es leichtfertig weg, indem sie eine Affäre beginnt. Angefüllt mit Wut und Hochprozentigem steigt Rachel an diesem Abend aus dem Zug. Und wacht am nächsten Morgen ohne Erinnerung, aber blutverschmiert und von Prellungen übersät auf. Die Schlagzeilen des Tages werden vom Verschwinden Megans beherrscht.
GIRL ON THE TRAIN basiert auf dem Bestseller-Roman der US-Autorin Paula Hawkins, dessen Plot Regisseur Tate Taylor (THE HELP, GET ON UP) recht originalgetreu auf die große Leinwand überträgt. Leider hatte er dabei anscheinend sehr genaue Vorgaben, wie das Endprodukt auszusehen hat, denn wirklich alles an diesem Thriller lässt einen an David Finchers GONE GIRL denken – von der psychologischen Emanzipationsgeschichte und dem Verschwinden einer jungen Frau bis hin zu Bildsprache und Musik. Zu offensichtlich orientiert sich Taylor an dem Überraschungserfolg von 2014 nach der Buchvorlage von Gillian Flynn. Während das einerseits verhindert, dass GIRL ON THE TRAIN eine eigene filmische Identität entwickelt, ist es andererseits eine von Grund auf schlechte Idee gewesen, etwas als Vorlage zu nehmen, das derart perfekt ausgearbeitet ist. Denn dem direkten Vergleich mit Finchers Vision hält diese Fortsetzung im Geiste ganz einfach nicht stand.
Darüber hinaus gelingt es Taylor zu keiner Zeit, das zweifellos komplexe Basismaterial angemessen in das Medium Film zu transportieren. Gerade die halbstündige Exposition ist ziemlich verfahren ausgefallen, während die verschachtelte Erzählweise im späteren Verlauf mit ihren zahlreichen Zeitsprüngen eher ungelenk statt clever wirkt. Zu diesem Zeitpunkt bietet der Thriller auch kaum noch große Überraschungen, und die vorhandenen Wendungen sind bis auf ein, zwei Ausnahmen nicht schwer vorauszuahnen. Sicherlich ist das auch den recht beschränkten Lösungsoptionen geschuldet, die die Geschichte langfristig bietet, denn wo GONE GIRL einen jederzeit im Unklaren darüber lässt, was eigentlich gerade passiert, wird hier ständig noch einmal aufgerollt und von Rachel explizit zusammengefasst, was vor sich geht. Das nimmt viel Raum für Interpretation, weswegen GIRL ON THE TRAIN niemals die Intensität des großen Vorbilds erreicht.
Dafür ist der Film ein ganz hervorragendes Showreel für seine Hauptdarstellerin Emily Blunt (LIVE.DIE.REPEAT – EDGE OF TOMORROW, SICARIO), die als Alkoholikerin mit Erinnerungslücken eine echte Rundum-Performance abliefert. Ihre Rachel ist auf dem absoluten Tiefpunkt angekommen und versucht völlig verzweifelt, ihr Leben wieder zu sortieren, während sie andererseits aufgrund früherer Erfahrungen ungemein Angst vor sich selbst hat. Gerade in diesen schlimmsten Momenten Rachels ist Blunt am besten, und es wäre nicht verwunderlich, wenn sie dafür die eine oder andere Auszeichnung für sich verbuchen darf.
Auch Haley Bennett (HARDCORE, THE EQUALIZER) und Shooting-Star Rebecca Ferguson (MISSION: IMPOSSIBLE – ROGUE NATION) füllen ihre Rollen mit viel Leben, wobei vor allem Bennetts Megan mit Vielschichtigkeit glänzen darf. Dieses starke weibliche Cast wird ergänzt durch Allison Janney (JUNO, AMERICAN BEAUTY) als Polizistin, Laura Prepon (ORANGE IS THE NEW BLACK) als Rachels Mitbewohnerin und FRIENDS-Star Lisa Kudrow. Deren Besetzung könnten böse Zungen vorwerfen, dass sogar der Punkt „Sitcom-Liebling in einer Schlüsselrolle“ auf der GONE GIRL-Checkliste stand. Dort war es HOW I MET YOUR MOTHER-Darsteller Neil Patrick Harris, der in einem eher glücklosen Part die Story vorantrieb.
Zusammengefasst ist GIRL ON THE TRAIN ein durchwachsener und formelhafter Thriller geworden, dessen größter Fehler es ist, auf Sicherheit zu spielen. Wie viel Nervenkitzel einem der Film entlockt, hängt letztendlich davon ab, wie kitzlig die eigenen Nerven wirklich sind. Aber echte Genre-Aficionados, die PRISONERS oder eben GONE GIRL als Maßstab anlegen, werden sich ein Gähnen nicht verkneifen können. Für Fans von Emily Blunt ist GIRL ON THE TRAIN allerdings Pflicht. (Matthias Pasler)
Der Zug ist abgefahren