Für viele Menschen sind das Theater oder die Oper Orte, an denen nur die gehobene Gesellschaft sich versammelt, die ihnen verschlossen bleiben und in ihrem Leben keine große Rolle spielen. Das ist sehr schade, denn gerade die bekanntesten Bühnenautoren schrieben für jedermann und versammelten Menschen aller Schichten, Hautfarben und Geschlechter in ihren Theatern, um sie für ein paar Stunden in eine andere Welt zu entführen. William Shakespeare war ein solcher Autor, der es sich allein wirtschaftlich nicht leisten konnte, seine Stücke exklusiv für nur eine Zielgruppe zu machen, denn speziell die Arbeiterklasse des Südufers der Themse war es, die in sein Theater ging, und der musste er MACBETH und JULIUS CAESAR schmackhafter machen als die Bordelle, Pubs und Bärenkämpfe, die sonst noch in der Umgebung angeboten wurden. Shakespeare hätte es sicher auch begrüßt, neue Wege zu erforschen, die seine Stücke einem noch breiteren Publikum präsentieren würden, denn letztlich gehört zu der Zeitlosigkeit seiner Werke auch, dass sie jeden Zuschauer in seiner/ihrer jeweiligen Lebenssituation ansprechen. Das dachten sich vielleicht auch der Schauspieler Sam Crane und seine Frau, die Dokumentarfilmerin Pinny Grylls, als sie ausgerechnet in der Welt von GRAND THEFT AUTO ONLINE eine neue Bühne sahen, auf der man die Stücke des Barden aufführen könnte.
Inspiriert von den Geschichten ihres Sohnes, der ihnen immer wieder von den kreativen Wegen erzählte, mit denen MINECRAFT-Spieler die Welt des Spiels zu ihrer eigenen machten und ihr so neue Aspekte abgewinnen konnten, entstand die Idee zu GRAND THEFT HAMLET. Die Dokumentation, die bald auf dem Streamingdienst MUBI erscheinen wird, spielt komplett in der Welt des Videospiels und begleitet die Grylls, Crane und ihren gemeinsamen Freund Mark Oosterveen bei der Umsetzung ihrer Idee. Als Crane und Oosterveen während einer Session auf ein Theater mitten in Los Santos stoßen, das wie gemacht ist für eine Inszenierung, beginnen die beiden aus einer Laune heraus, ein paar Szenen aus HAMLET vorzutragen. In ihrer Heimat Großbritannien schreiben wir derweil das Jahr 2021, und das Land befindet sich im nunmehr dritten Lockdown, sodass die drei nicht viel mehr machen können, als sich die Zeit mit Videospielen zu vertreiben.
Das Herumalbern auf der virtuellen Bühne zeigt ihnen, was sie vermissen und endlich wiederhaben wollen: eine Rolle und natürlich ein Publikum, das ihnen aufmerksam zuhört. Aus der spontanen Idee wird Ernst, denn die beiden suchen von nun an Spieler von GTA ONLINE, die bei ihrem Projekt mitmachen wollen, während Cranes Ehefrau Grylls das Unternehmen filmt. Der Anfang ist hart, denn viele Proben werden durch die anderen Spieler zerstört, doch die drei geben nicht auf, und mit der Zeit finden sie Freiwillige, die aus verschiedenen Gründen auch einmal auf der Bühne stehen wollen, denen die Geschichte des Prinzen von Dänemark etwas bedeutet und die einfach wieder einmal etwas Kreatives machen wollen.
Es ist schon lange kein Geheimnis mehr, dass besonders Onlinespiele wie GTA ONLINE oder MINECRAFT sich durch eine sehr aktive und kreative Community auszeichnen, die das Spiel sehr viel weiter denkt, als von den Programmieren intendiert. Dennoch ist die Idee einer Theateraufführung in einer solchen Spielwelt ein Novum, auch für Crane und Grylls, die im Grunde Neuland betreten und mehr als einmal kurz vor dem Scheitern stehen, nicht nur wegen der Zerstörungswut mancher Mitspieler, sondern auch wegen Problemen in der wirklichen Welt. GRAND THEFT HAMLET erzählt von Menschen, die aufgrund des Lockdowns in einer kreativen und persönlichen Krise stecken und nach einem Ausweg suchen. Durch die Begegnung mit Gleichgesinnten, die ebenfalls Lust haben, an der Inszenierung von HAMLET teilzunehmen, wird die Dokumentation zugleich zu einem Spiegel der unterschiedlichen Facetten einer Community, die weitaus mehr kann als virtuelle Verbrechen begehen.
Die Tatsache, dass GRAND THEFT HAMLET (bis auf wenige Szenen gegen Ende hin) gänzlich in der Welt von GTA ONLINE erzählt wird, ist zunächst gewöhnungsbedürftig. Der vermeintliche Kontrast zwischen zwei Kreativen, die durch ihr Vorhaben der eigentlichen Intention des Videospiels widersprechen, und der von Armut, Verbrechen und Materialismus beherrschten Welt von GTA ONLINE gibt sich nach einer Weile. Vielmehr wird man überrascht sein, wie kreativ, humorvoll und intelligent die Akteure die unterschiedlichen Terrains von Los Santos für die einzelnen Szenen des Stückes nutzen. Der berühmte Barde aus Stratford-upon-Avon hätte mit Sicherheit Spaß gehabt an dieser Inszenierung und an der Geschichte, die GRAND THEFT HAMLET darüber hinaus zu erzählen hat über die Kraft der Kreativität und Gemeinschaft von Menschen. (Rouven Linnarz)
GTA ONLINE trifft auf William Shakespeare – amüsant, kurzweilig und überraschend berührend