THE J-HORROR VIRUS: Ein Gefühl existenzieller Bedrohung
Mit THE J-HORROR VIRUS spüren Sarah Appleton und Jasper Sharp einem Phänomen nach, das sein Publikum um die Jahrtausendwende wie kaum ein anderes in Schrecken versetzte. DEADLINE hat die beiden Filmwissenschaftler bei der Nippon Connection zum Gespräch getroffen, wo sie ihren Dokumentarfilm als Deutschlandpremiere präsentierten. Hier könnt ihr die Langversion der DEADLINE #106 lesen.
Beginnen wir doch gleich mit einer naheliegenden Frage: Warum ist J-Horror so verdammt Furcht einflößend?
Jasper Sharp: (lacht) Ich denke, J-Horror hat etwas Einzigartiges an sich. Als es damit losging, befand sich amerikanischer Horror in einer Sackgasse mit Slasherfilmen wie SCREAM, und es gab ständig Monster, die getötet werden mussten. Was ich an J-Horror wirklich mochte, war dieses Gefühl existenzieller Bedrohung. Die Idee, dass überall um uns herum Geister sind. Die Menschen, die in einem Film wie JU-ON sterben – das geschieht nicht, weil sie schuld daran sind, weil sie für etwas bestraft werden. Es geschieht, weil sie zur falschen Zeit am falschen Ort sind oder, wie etwa in RING, weil sie das falsche Video schauen. In dem, was man als Realität wahrnimmt, gibt es etwas, was man nicht greifen kann – das macht es Furcht einflößend.
Sarah Appleton: Für mich sind es das Unheimliche, die Stille und der Realismus. Vieles geschieht am helllichten Tag, das war etwas Neues. Gleichzeitig kam auch THE BLAIR WITCH PROJECT raus, und was wir von diesem Film ebenso wie von J-Horror gelernt haben, ist, dass Horror, der sich in der realen Welt abspielt, der unheimlichste von allen ist.
Ihr beschreibt J-Horror als Subgenre des japanischen Horrorkinos, das in einer spezifischen Zeit und von einer bestimmten Gruppe von Schlüsselpersonen entstanden ist. Wie ist das damals gewesen?
Jasper Sharp: Der Begriff J-Horror wurde auf viele verschiedene Weisen verwendet. Manche Leute nutzen den Begriff sehr allgemein für alles, was mit Japan und Horror zu tun hat, wie der Geisterfilm KWAIDAN aus den 50er-Jahren. Für mich ist es ein Ansatz, der im Kern von einer Basis an Menschen geteilt wurde, die den J-Horror begründet haben – unter ihnen Hideo Nakata und Hiroshi Takahashi, Regisseur und Drehbuchautor von RING, oder auch Norio Tsuruta, der die SCARY TRUE STORIES-Videoreihe gedreht hat. Alle diese Leute haben Ideen geteilt, diskutierten und kopierten sich untereinander und versuchten, die Arbeiten der anderen zu übertreffen.
Sarah Appleton: Takahashi sagt im Film, dass er sehr bewusst darüber nachgedacht hat, was Horror ausmacht, was wirklich gruselig ist. Diese Leute haben sich auf akademischem Niveau damit auseinandergesetzt, sie haben sich miteinander ausgetauscht und sich gefragt: Was ist Furcht einflößend, und warum ist es Furcht einflößend? Das haben sie zusammen analysiert und dabei ein gemeinsames Verständnis entwickelt.
Jasper Sharp: In der Generation von Kiyoshi Kurosawa und Hiroshi Takahashi gab es viele, die zugleich Filmemacher, Kritiker und Lehrer waren. Diese verschiedenen Ansätze nutzten sie dazu, ernsthaft über einen Ansatz des Filmemachens nachzudenken, der ihre technischen und ökonomischen Umstände widerspiegelte und der auch den japanischen Markt zu jener Zeit betrachtete. Weil J-Horror aus dem Straight-to-Video-Bereich entwachsen ist, hatten sie niedrige Budgets, sodass sie gar nicht über große Special Effects nachzudenken brauchten. Aber gerade im Videobild liegt auch etwas sehr Unheimliches verborgen: Du kannst nicht immer klar sehen, sodass es vielleicht irgendwo im Hintergrund ein kleines Detail gibt, eine kleine Bewegung, die den Zuschauern ins Auge sticht. Es ist nicht mal unbedingt ein Schock, es ist einfach da, und du denkst, dass du etwas gesehen hast, und das bleibt bei dir. Was wir mit dem Dokumentarfilm zeigen wollten, ist Folgendes: RING wird als der Anfang von J-Horror betrachtet, aber für uns ist es eine Art Endpunkt – oder mehr ein Mittelpunkt. Es ist ein Film mit einem relativ hohen Budget, in dem wirklich alles aus dem frühen J-Horror miteinander verschmilzt und der einen globalen Einfluss entwickelt hat.
Sarah Appleton: RING hatte weltweiten Erfolg, was es in der Form vorher nicht wirklich gab. Er zeigt, wie die Filmemacher untereinander auf ihr Werk aufbauten, bis sie dieses Level erreichten – alleine wäre ihnen das in der Form wohl niemals gelungen.
Wie würdet ihr J-Horror definieren, welche Elemente zeichnen ihn aus?
Sarah Appleton: J-Horror spielt meistens mit Geistern, die sich irgendwo im Hintergrund befinden, aber auch mit einer Angst vor gewissen Medien, z. B. einem Mobiltelefon in THE CALL, dem Tape in RING, und in PULSE ist es das Internet, dem etwas innewohnt. Generell geht es um eine unheilvolle, ruhige Stimmung, bei der die Angst im Alltäglichen liegt. Weitere Motive sind zum Beispiel verlassene Gebäude, Schulen, Krankenhäuser, Regen und allgemein hohe Feuchtigkeit.
Jasper Sharp: Und es sind keine bekannten Stellen in Tokio, sondern sehr neutrale Schauplätze, Vororte, reale Lebensverhältnisse, in denen man sich wiederfinden kann. In den 90ern ist die Bubble-Economy in Japan zusammengebrochen. Wenn man sich in dieser Zeit den Alltag in Tokio anschaute, sah alles genauso aus wie vorher – die Gebäude, die Menschen auf dem Weg zur Arbeit, sie nutzen dieselben Züge und fahren zurück in dieselben Häuser. Dennoch hat sich offensichtlich ein Pessimismus in Bezug auf die eigene Wirtschaft und auf die Stellung von Japan in der Welt ausgebreitet, es gab soziale Probleme. Diese Atmosphäre hat der J-Horror sehr gut eingefangen.
Sarah Appleton: Oft geht es auch um Missbrauch oder häusliche Gewalt, wie zum Beispiel in JU-ON, wo die Frau von ihrem Mann ermordet wurde. Es geht um das Grauen, das du in der Gesellschaft nicht siehst, Dinge, die Menschen mit sich herumtragen, Dinge, die sich zu Hause im Verborgenen abspielen und die ziemlich düster werden können. Alle diese Filme arbeiten mit diesen Motiven, und überall gibt es das Motiv des Mädchens mit den langen schwarzen Haaren, deshalb betrachten wir es als ein eigenständiges Phänomen.
Im Interview mit DEADLINE hat Kiyoshi Kurosawa einmal erklärt, dass Geister in Japan so etwas sind wie der Fortbestand des Menschen nach dem Tode, dass sie immer da sind und dass dies eine sehr japanische Art ist, über Geister und Geistergeschichten zu denken.
Sarah Appleton: In Japan sind die Menschen spiritueller. Dort gibt es die Idee, dass sich ein Geist in der Ecke eines Raumes befinden kann, so wie etwa der Mann, der sich in PULSE erhängt hat. An dieser Stelle tauchen noch immer Schatten an der Wand auf, weil er in seinem Tode ein unauslöschliches Zeichen hinterlassen hat und zu einem Geist wird. Das wird als normal akzeptiert, die meisten glauben in gewisser Weise an die Präsenz solche Geister, ganz im Gegenteil zu uns im Westen – wir glauben nicht an Geister. Shin‘ya Tsukamoto spricht das auch an und erzählt, dass er sich darüber wunderte, als J-Horror seinen Weg nach Amerika fand, weil die Amerikaner aus seiner Perspektive keine Angst vor Geistern hätten und die Geschichten deshalb auch nicht dieselbe kulturelle Wirkung entfalten.
In eurem Dokumentarfilm lasst ihr die Beteiligten von damals selbst zu Wort kommen, um aus ihrer Sicht zu erzählen, wie damals alles zustande gekommen ist. Könnt ihr uns etwas über euren Ansatz erzählen?
Sarah Appleton: Vor THE J-HORROR VIRUS habe ich die Doku THE FOUND FOOTAGE PHENOMENON gedreht. Dabei habe ich ebenfalls die Filmemacher interviewt, um ihre Sicht auf die Dinge festzuhalten, weil niemand besser weiß, was sie bewegte, als sie selbst. Für THE J-HORROR VIRUS wollten wir definitiv von den Meistern persönlich erfahren, was sie inspiriert hat, warum und woher das alles kam. Man muss auch bedenken, dass zahlreiche einflussreiche Werke vor RING niemals im Westen erschienen sind. Deshalb mussten wir mit ihnen sprechen.
Jasper Sharp: Wir arbeiten beide in der Produktion von Blu-ray-Bonusmaterial. Vor einigen Jahren habe ich für die RING-Box von Arrow Films ein Video-Essay beigesteuert, in dem 40 Minuten über die Geschichte von J-Horror gesprochen wird. Aber ich habe bemerkt, dass ich als Kritiker auch meine eigene Erzählung einfließen lasse. Deshalb dachten wir, dass es ein anderer Ansatz wäre, wenn die Filmemacher selbst ihre Geschichte erzählen. Es gab Verbindungen, die uns nicht bekannt waren, wir wussten nichts von JAGANREI. Uns wurde gesagt: „Ihr müsst euch mit dem Regisseur Teruyoshi Ishii unterhalten.“ Ich hatte vorher nicht mal von ihm gehört. (lacht) Kritiker denken außerdem häufig, dass der Regisseur alles ist. Wenn du dich aber mit Drehbuchautoren unterhältst, werden sie dir von völlig anderen Einflüssen und Ideen erzählen als der Regisseur. Eine der unbekannteren Figuren im J-Horror war Chiaki Konaka, der Drehbuchautor von JAGANREI, der sich später vor allem dem Anime gewidmet hat und der zum Beispiel SERIAL EXPERIMENTS: LAIN drehte, eine populäre Serie der späten 90er-Jahre, die man als so etwas wie Cyberpunk-Horror verstehen kann. Darin geht es um eine Art „Cyber-Geister“. Konaka nutzt Anime und Science-Fiction, um über ähnliche Dinge zu sprechen wie J-Horror, darüber, wie die nicht-materielle Welt in unsere Welt hineinwirkt.
JAGANREI ist also eine besondere Entdeckung, auf die ihr auf dem Weg zu THE J-HORROR VIRUS gestoßen seid. Was ist so besonders an diesem Film?
Jasper Sharp: JAGANREI ist eine Dokumentation über eine Idol-Popsängerin, die zu großen Teilen am Set einer Musikvideoaufnahme spielt und in der auf einer alten Musikkassette eine Stimme auftaucht. Das alles sind Dinge, die auch in späteren Filmen wieder aufgegriffen werden, wie etwa der Geist einer Schauspielerin in Hideo Nakatas DON’T LOOK UP, der in einem Filmstudio gedreht wurde. Auch ein Film wie EVIL DEAD TRAP, der im selben Jahr wie JAGANREI entstand und den ich nicht im engeren Sinne zum J-Horror zählen würde: Darin untersucht eine Reporterin einen Vorfall, der ihr auf Videotape geschickt wurde, bei dem es sich um einen Snufffilm zu handeln scheint. JAGANREI war letztlich nicht mal ein großer Film, es war vor allem die Tatsache, dass ihn jemand gesehen hat.
Sarah Appleton: Wenn du ihn im Kontext von J-Horror betrachtest, erkennst du darin zahlreiche Elemente, die später vertraut wurden, wie die Geistergestalt, die im Hintergrund steht. Vor allem anderen ist es einer der ersten Found-Footage-Filme, eine Mockumentary, die auf realistische Weise gedreht wurde und die dich durch ihren dokumentarischen Stil in die Story hineinzieht, und es ist auch einer der ersten Horrorfilme, die das auf diese Weise tun. In THE FOUND FOOTAGE PHENOMENON gehe ich zurück bis zu MCPHEARSON TAPE (1989) von Dean Alioto als ersten reinen Found-Footage-Horrorfilm ohne vierte Wand, in dem die Kamera vollständig Teil des Geschehens ist …
Jasper Sharp: … und JAGANREI, den wir entdeckt haben, entstand sogar noch ein Jahr zuvor. Das ist jetzt keine Frage von Einflüssen, aber es ist bemerkenswert, wie synchron das stattgefunden hat. In Japan scheint man alles immer früher als die anderen zu tun, aber man findet es erst später heraus.
Neben dem gesellschaftlichen Kontext, über den ihr schon gesprochen habt – unter welchen Produktionsbedingungen ist J-Horror entstanden?
Jasper Sharp: Straight to Video hatte sich in den späten 80ern zu einem ziemlich großen Markt entwickelt, und zunächst wurden normale Horrorfilme oder auch internationale Filme auf Video veröffentlicht. Seit 1989 wurden Filme eigens für Video gedreht, und zwar häufig sogar noch auf Filmmaterial. Diese Filme hatten damals noch relativ hohe Budgets, JAGANREI zum Beispiel sieht so aus, als hätte man relativ viel Geld zur Verfügung gehabt. Sie haben sich dann die Eigenheiten des Mediums zunutze gemacht – zum Beispiel eben die unscharfen Videobilder, auf denen du Gesichter nicht klar erkennen kannst. JAGANREI ist ein gutes Beispiel dafür – dort gibt es eine Szene, in der ein Geist irgendwo im Hintergrund steht und später einmal beim Hineinzoomen ganz verpixelt ist. So sind viele der Motive entstanden. In dieser Zeit, in den frühen 90ern, entstanden auch Kinofilme in Japan, aber die waren sehr konservativ, und die Besucherzahlen gingen zurück. Es war also keine sehr gute Zeit für junge Filmemacher. Wer nicht Straight to Video gedreht hat, der arbeitete für TV-Serien wie THE HAUNTED SCHOOL, die für einen regionalen Satellitenkanal in Kansai gedreht wurde und bei der alle großen Namen im J-Horror begannen.
Ihr habt jetzt viele Jahre später mit den meisten wesentlichen Akteuren des J-Horrors gesprochen. Wie blicken sie heute zurück auf diese Zeit?
Sarah Appleton: Eine Sache, die mir besonders auffiel, war, dass Kiyoshi Kurosawa sagte, dass er J-Horror nie wirklich als eine Sache für sich wahrgenommen hat und dass er nicht versteht, warum Menschen außerhalb Japans daran interessiert waren.
Jasper Sharp: Niemand weiß wirklich, woher dieses Label „J-Horror“ stammt, wir vermuten, dass es von amerikanischen Kritikern im Internet stammt und sich dann über Messageboards verbreitete und auf diesem Wege nach Japan zurückkam. Kurosawa erzählte, dass ihnen zu der Zeit, als sie gemeinsam aktiv waren, nicht bewusst war, dass sie gerade ein neues Subgenre entwerfen. Aber genau das taten sie, es gab eine ganze Reihe von Filmen mit denselben Eigenschaften, die zum J-Horror wurden.
In der Geschichte des japanischen Kinos gab es einige Filme, die fast im Alleingang Aufmerksamkeit auf Japan als Filmland gelenkt haben und die auch ein größeres Interesse nach sich zogen – Filme wie RASHOMON, TESTSUO oder AKIRA. Würdet RING zu der Liste hinzufügen?
Jasper Sharp: Ich würde sagen, dass es er noch bedeutender war als RASHOMON. RING war einer der profitabelsten japanischen Filme aller Zeiten. Betrachtet man J-Horror als Welle, gibt es, glaube ich, nichts Vergleichbares, was den globalen Einfluss anbelangt. Daher würde ich sagen, dass es das bedeutendste japanische Genre überhaupt gewesen ist, denn es gibt keinen anderen Stil, der so stark kopiert wurde und auch in Mainstreamproduktionen übernommen wurde. Als Tom Mes und ich 1999 mit unserer Website Midnight Eye an den Start gingen, war das noch bevor RING veröffentlicht wurde. Wir sahen in J-Horror einen Kanon an Filmen, mit dem wir uns auch beschäftigt haben, aber damals haben wir noch nicht erkannt, wie bedeutend das Vermächtnis einmal sein würde. Als JU-ON herauskam, dachte ich zum Beispiel längst, dass J-Horror tot wäre, aber das war der Film, der wirklich durchgestartet ist. Wir waren froh, dass wir zuvor mit Midnight Eye begonnen haben, denn weil diese Filme so populär waren, konnten wir Zeugen einer regelrechten Explosion von Interesse am japanischen Film sein. Ich denke dabei auch an Filme abseits des J-Horrors, wie BATTLE ROYALE, AUDITION oder die Studio-Ghibli-Filme. Es war die Geburt einer globalen Kultgemeinde rund ums japanische Kino.
Interview geführt und übersetzt von Sascha Schmidt