Bereits im Frühjahr 2020 hatten EISBRECHER ihr achtes Studioalbum LIEBE MACHT MONSTER abgeschlossen und eine Tour geplant. Aufgrund coronabedingter Auftrittsbeschränkungen beschloss die zwischen Metal/Rock und schwarzer Szene pendelnde Band, beides zu verschieben. Stattdessen wurde das Coveralbum SCHICKSALSMELODIEN veröffentlicht. Im März 2021 ist nun LIEBE MACHT MONSTER erschienen, auf dem EISBRECHER vertraute Muster in frische Klanggewänder kleiden. Dass die Songs vor Pandemie und Lockdown geschrieben wurden, mag man beim Blick auf die Tracklist kaum glauben. Zum Albumrelease haben wir uns mit dem so gut gelaunten wie nachdenklichen Frontmann Alexander „Alex“ Wesselsky (*1968) zum Plausch getroffen, aus dem ein fast zweistündiges Gespräch rund um Musikkultur, Pandemie und Filme wurde.
DEADLINE: Hi Alex, was treibst du gerade? Interviewmarathon, oder hast du sozusagen frei?
Alex: Ich habe frei. Das ist ja das Grundprinzip des Rockstardaseins. Frei haben und frei sein. Dank Corona haben wir jetzt mehr frei, als uns jemals lieb war. Ich bin dankbar für Interviews, die sind derzeit mein Fenster zur Welt. Mit Leuten zu sprechen finde ich in entsozialisierten Zeiten wahnsinnig angenehm, das kommt ja nicht mehr so oft vor. Insofern genieße ich jedes sympathische Gespräch mit guten Leuten. Kommunikation ist für uns Menschen wichtig – wie auch Kultur. Der Mensch lebt nicht nur von Luft. Man braucht so viel mehr, um nicht nur einfach zu existieren, sondern um zu leben. Das ist ein Unterschied. Ich möchte gerne leben und nicht nur vor mich hin existieren – dazu gehört auch Kommunikation.
DEADLINE: Wie erlebst du die Pandemie?
Alex: Wie alle anderen. So viele kluge Leute reden so viel unkluges Zeug, da halte ich mich zurück und denke mir: Hauptsache überleben. Als jemand, der in der Schule in Biologie und Chemie immer gern gepennt hat, muss ich mich nicht auch noch in den Vordergrund drängen, wenn selbst die klügsten Köpfe nicht wissen, was Sache ist. Hoffentlich ist dieser Kelch bald an uns vorübergegangen. Ich bin enttäuscht, wie wenig Stellenwert der Kultur beigemessen wird als das, was Menschen einfach ausmacht. Kunst unterscheidet den einfachen Existierer vom lebenden, denkenden Wesen. Was für eine Art Gesellschaft soll das sein, wenn die Kultur in Zeiten der Pandemie zu einem Gut zweiter Klasse wird? Wenn das Schule macht, freue ich mich wahrlich nicht so sehr auf die Zukunft. Als Mitte-links-Mensch finde ich die aktuelle Situation der Kulturlandschaft einigermaßen katastrophal. Aber was richtig und falsch ist – don’t ask me. Ich bin Rockstar geworden, kein Politiker.
DEADLINE: Haben Bands und Veranstalter keine Lobby, um Einfluss auf den Kulturbetrieb zu nehmen? Bleibt da wirklich nur zuschauen?
Alex: Zuschauen, entspannen, nachdenken. Wir haben keine Lobby. Das liegt vielleicht auch in der Sache selbst begründet. Wir sind alle Einzelkämpfer, jeder macht sein eigenes Kunstwerk und hat eine eigene Auffassung von Kunst. Das schließt so etwas wie Lobbyismus aus, das beißt sich mit dem Kunstbegriff. Und ein 18-jähriger Rapper sieht die Dinge womöglich anders als ein 75-jähriger Udo Lindenberg oder ein 53-jähriger Wesselsky. Wir sind bunt, und deswegen sind wir auch schlecht organisiert. Aber wir müssen uns auch gar nicht organisieren. Wenn die Menschen weiterhin Kunst, Konzerte, Kino und Theater wollen, müssen sie sich mitteilen und sagen, dass sie sich das nicht nehmen lassen wollen. Wenn ein Rolle Klopapier wichtiger ist als wir Kunstschaffende, dann können wir nicht viel machen. Das ist natürlich schade. Ich hoffe, dass die Menschen irgendwann merken, dass ihnen etwas fehlt.
DEADLINE: Jetzt habt ihr ein neues Album am Start und musstet eure Tour schon wieder verschieben. Wie reagieren eure Fans?
Alex: Die meisten Leute behalten ihre Tickets, das ist mittlerweile wie in Aktien investieren. Ich habe selbst noch so viele Tickets herumliegen. Die Leute wissen, dass wir Künstler nichts weiter tun können, als Touren zu verschieben. Sie haben Mitgefühl, geteilter Schmerz ist halber Schmerz. Die Europatour haben wir um ein Jahr verschoben, kann man sich das vorstellen? Das wäre unsere erste Europatour gewesen. Die wird vermutlich stattfinden, wenn ich 65 bin. Wir haben immer noch Hoffnung, dass das von uns veranstaltete Volle Kraft Voraus Festival im September steigen kann und wir im Herbst zum Album touren können. Vielleicht müssen wir in größere Hallen mit weniger Leute gehen. Dass wir im November und Dezember spielen können, glaube ich auf jeden Fall. Daher wiederhole ich meinen Aufruf: Leute, wenn ihr nicht wollt, dass die Kinos sterben, kauft Kinokarten. Wenn ihr nicht wollt, dass die Theater eingehen, kauft Abos. Und wenn ihr nicht wollt, dass all die Bands den Löffel abgeben, kauft Tickets. So absurd es klingt: Irgendwann geht’s wieder los. Ein Ticket ist eine gute Geldanlage, Kultur ist mehr wert als Gold.
DEADLINE: Habt ihr Streaming- oder Autokonzerte in Erwägung gezogen?
Alex: Wir wurden angefragt. Aber noch können wir uns erlauben abzulehnen und möchten gerne weiterhin Nein sagen. Vielleicht müssen wir es irgendwann machen, wenn uns das Wasser bis über beide Ohren steht. Wir wollen keine Auto- oder Strandkorbkonzerte spielen, auch nicht vor Booten oder Helikoptern. Das ist wie duschen mit Regenschirm oder Sex ohne Anfassen. Das ist Quatsch. Ich verstehe die Veranstalter, aber für uns ist das nichts. Streaming kann man mal machen. Es wäre eine Überlegung wert, LIEBE MACHT MONSTER einmal als Stream einzuspielen. Aber das ist kein Ersatz für ein Livekonzert. Schluss. Aus. Feierabend. Wer glaubt, dass Bits und Bytes ein Livekonzert ersetzen können, der hat was nicht verstanden. Das echte Gefühl holt man sich nur in der ersten, zweiten, dritten, 50.000. Reihe vor der Bühne. Das macht etwas mit dir, das ist Leben und Erleben. Streamingkonzerte sind maximal Notwehr. Ich will ja auch im Kino sitzen, Popcorn essen und einen Film auf der großen Leinwand erleben. Egal wie groß mein Fernseher zu Hause ist: Der kann mir nicht das Kino ersetzen.
DEADLINE: Wie seid ihr auf den Albumtitel LIEBE MACHT MONSTER gekommen, und warum habt ihr ausgerechnet diese Wortkombination gewählt?
Alex: Da hast du recht, das ließe sich auch anders kombinieren. Es könnten aber auch nur drei Worte nebeneinander sein, wie Freiheit, Soziales, Demokratie. Es kann auch ein politischer Claim sein, drei starke Worte für das Wahlplakat. Der Titel kommt vom gleichnamigen Song des Albums, der hat uns gefallen. Das Schöne an dem Satz ist, dass er so unglaublich viele semantische Möglichkeiten zulässt. Der alte Germanist in mir dreht da völlig hohl. Ist das ein Fragezeichen? Ist das ein Ausrufezeichen? Ist das überhaupt ein Satz? Oder ist das vielleicht, was die ganze Welt bedingt? Liebe, die Macht und das Monster – was kontrolliert was, was erschafft was? Das fand ich so stark, dass wir dann auch noch dieses Spermium-Logo für das Cover-Artwork entwickelt haben. Hier kommt das Leben. Bäm! Wir starten alle als süße Babys – und dann? Woraus entstehen der Ceaușescu, der Mussolini, der Napoleon, Stalin, Lenin und wie sie alle heißen, die Massenmörder unserer Zeit? War ein Baschar al-Assad schon immer scheiße? Welchen Einfluss haben Eltern und Gesellschaft? Mit LIEBE MACHT MONSTER macht man ein fast groteskes Fass auf. Wenn du das verfilmst, müsstest du es auf 300 Stunden anlegen. Da steckt für mich wahnsinnig viel drin, da ist Kopfkino angesagt für jeden, der Lust hat. Musik ist ja immer nur ein Angebot, keiner muss, jeder kann. Und wenn du Bock darauf hast: Willkommen in meiner Welt. Da kann man sich den Kopf zerdiskutieren.
DEADLINE: Für das Album sollt ihr eure gesammelten Sounds weggeschmissen haben. Was genau bedeutet das, und warum ausgerechnet für LIEBE MACHT MONSTER?
Alex: Das Album war im Februar 2020 Uhr fertig, mit der Pandemie hat es also nichts zu tun. Die Recordings waren abgeschlossen, bevor der ganze Zinnober losging. Viele Leute sagen: Hey, da habt ihr die richtigen Songs zur Pandemie geschrieben. Aber es gab ja schon komische Dinge vor Corona. Die Aussage mit den Sounds stammt von Pix (Gitarrist, Produzent/Programmer und Mit-Bandgründer Jochen „Noel Pix“ Seibert). Er wollte alle etablierten Sounds für das neue Album ignorieren, das heißt, alle Presets wegnehmen, mehr Analoges reinbringen, neues Schlagzeug, neuen Bass. Er wollte was anderes und die Produktionstechnik neu aufsetzen. Bei den ersten vier Songs ging es dann in eine völlig neue Richtung. Da hatte ich das Gefühl, dass ich gleich abgehängt werde, und musste mich fragen, ob das noch EISBRECHER ist und ob ich das will. Aber am Schluss wurde ein riesengroßer, geil bequemer Schuh daraus. „Leiserdrehen“, „Systemsprenger“, „Wer bin ich“ und „Es lohnt sich nicht, ein Mensch zu sein“ waren die ersten Songs, und das waren ganz schöne Brecher. Da war nicht mehr viel vom guten alten Gothic-Touch oder EBM. Das war ein ganz schönes Rock-Statement, und im Laufe der Produktion – da muss man Vertrauen in den Producer haben – wurde es innerhalb von zwei Jahren der altbekannte EISBRECHER-Mix. Aber alles startete mit einem neuen Ansatz, und ich meine ihn zu hören. Diese Platte ist angenehm anders. Für manche vielleicht unangenehm anders. Aber für mich hat es funktioniert, und ich verstehe, was der Pix meint. Einfach mal anders an die Sache herangehen. Die Mischung macht’s, das Album ist ein netter kleiner Warenkorb unterhaltsamer Melodien aus deutschen Landen geworden.
DEADLINE: Ihr klingt durchaus ein bisschen anders. Ich habe mich anfangs gefragt, ob sich nicht ein EISBRECHER-Sättigungsgefühl einstellt, da euer Coveralbum SCHICKSALSMELODIEN erst im Oktober 2020 erschienen ist.
Alex: Das Coveralbum hätte ja ursprünglich dieses Jahr kommen sollen. Aber dann kam es umgekehrt. Wir wollten das neue Studioalbum nicht im Oktober 2020 bringen, weil eine Tour unmöglich gewesen wäre. Album und Tour gehören einfach zusammen. Ein Film ohne Publikum ergibt ja auch keinen Sinn. Eine Platte gehört auf die Bühne, das soll ja die Leute zusammenbringen. Dein Livepublikum sagt dir: Diese Platte feiere ich oder scheiß drauf. Das Publikum liebt dich oder eben nicht. Und wir wollen natürlich auch wissen, ob wir den Nerv der Leute da draußen getroffen haben.
DEADLINE: Ihr pendelt zwischen Schwarze-Szene-Gothic und Metal/Rock. Wie nehmt ihr Unterschiede beim Publikum wahr, etwa zwischen Amphi Festival und Summer Breeze Open Air?
Alex: Die schwarze Szene habe ich erst im hohen Alter entdeckt, wobei die schwarze Szene eher uns entdeckt hat. Das kam mit dem Song „Schwarze Witwe“ (2004). Auf Metalfestivals wie dem Hellfest, Graspop, Wacken oder Summer Breeze hast du natürlich ein anderes Publikum als auf einem Gothic-Event wie dem Amphi. In der schwarzen Szene kannst du dir viel mehr herausnehmen, das Publikum lässt dir wahnsinnig viel durchgehen. Ich sage nur eins: Laptop-Bands. Bands bekommen nicht gleich den Stinkefinger gezeigt, sondern sie werden zumindest als Teil der Szene gesehen. Es wird immer freundlich geklatscht, in der schwarzen Szene herrscht ein anderer Umgang. Da werfen die Leute ja nicht einmal ihren Müll auf den Boden, alle gehen sehr gesittet miteinander um. In der Welt des Metal riecht es schon allein anders. Da brauchst du nur deiner Nase bis zum nächsten Dixi-Klo oder zu vollgepissten Bauzaun-Planen zu folgen. In der Metalszene musst du wirklich abliefern. Wenn du am Ende deiner Show vor weniger Leuten stehst als zu Beginn deiner Show, dann ist das auch ein Statement. Das ist uns bisher zum Glück erspart geblieben. Deswegen dürfen wir in den Slots immer weiter nach oben rutschen. In der schwarzen Szene ist der Toleranzrahmen also größer und breiter, aber das soll jetzt gar keine Bewertung sein. Ich mag beide Szenen und spiele gerne vor deren Publikum. Aber ich selbst bin ein alter Metalhead. Einmal Metal, immer Metal. Das heißt ja aber nicht, dass man nicht aufgeschlossen ist. Bei mir hat schon immer TRIO neben FRANKIE GOES TO HOLLYWOOD neben SPIDER MURPHY GANG neben JUDAS PRIEST funktioniert. Da bin ich ganz schmerzfrei. Aber für mich als Metalkind sind große Metalfestivals Sehnsuchtsorte, die man seit seinem zehnten Lebensjahr in sich herumschwurbeln hat. Das hat schon fast etwas Mythisch-Religiöses. Dennoch sind EISBRECHER sowohl schwarze Szene wie auch Rock/Metal. Wir brauchen beides, und ich finde beides super. Metal ist fetter und größer als Gothic und die schwarze Szene. Aber das kleine Feine – und zugleich unglaublich Liebenswerte – weiß ich genauso zu schätzen wie das große Fette.
DEADLINE: Inwiefern beeinflusst euch der Szenespagat stilistisch, wenn ihr ein neues Album angeht?
Alex: Natürlich überlegt man sich eine Dramaturgie und eine gewisse Dynamik. Am besten denkt man aber nicht daran. Du kannst keinen Hit schreiben, wenn du einen Hit schreiben willst. Es kann ja auch nicht jeder Film ein Blockbuster werden. Rainer Werner Fassbinder oder Kinski findet man entweder geil oder nicht. Tu, was du für richtig hältst, das ist die beste Grundvoraussetzung, um auch andere zu überzeugen. Da sind wir zum Glück immer entspannt gewesen. Vielleicht auch, weil wir schon älter und lange dabei sind.
DEADLINE: Fassbinder und Kinski? Ziehst du dir das gerne rein?
Alex: Wer schaut sich dann bitte gerne Fassbinder an? Ich komme super mit Fassbinder klar, aber gerne schaue ich mir DICK UND DOOF oder etwa MASTER AND COMMANDER an. Es gibt Sachen, die du nicht einfach wegpopcornen kannst, die musst du dir erarbeiten. Ich werde gerne gefordert, manchmal will ich aber auch abschalten und Raumschiffe vorbeifliegen lassen. Deswegen geht bei mir STAR WARS und Fassbinder. Wenn du dir nur schweren Stoff, Politisches und depressiven Kram gibst, bist du irgendwann selbst depressiv, wenn es dumm läuft.
DEADLINE: Viele Titel auf dem neuen Album klingen nach schwerem Stoff. Hattet ihr Wut im Bauch?
Alex: Offensichtlich. Ein Album spiegelt natürlich seine Entstehungszeit wider, viele Gedanken hast du aber schon länger im Kopf. Die Idee zum Titeltrack „Liebe Macht Monster“ etwa seit sieben oder sechs Jahren, aber jetzt erst hat es richtig gepasst. Es gibt immer etwas, das dich nervt, weil irgendwas falsch läuft mit unserer Gesellschaft. Einen Song wie „Dagegen“ hätten wir vor 40 oder 5 Jahren schreiben können, und in 30 Jahren wird der auch noch passen. Hier hatten wir übrigens entgegen unserer üblichen Arbeitsweise zuerst den Text, den hat Dero von OOMPH! geschrieben. „Ich denke, also bin ich – dagegen” (Zitat aus dem Song) finde ich in seiner Simplizität fast schon Oscar-verdächtig. Ansonsten kommen bei EISBRECHER aber immer zuerst Musik und Sounds, das wiederum kann Gefühle für die Texte auslösen. „FAKK“ ist etwa nicht so einfach entstanden, wie es der Titel vermuten lässt. Hatten wir eine wahnsinnige Wut im Bauch? Nicht mehr als sonst. Möge der Hörer entscheiden.
DEADLINE: Wie kam es zur Zusammenarbeit mit Dero?
Alex: Wir arbeiten ja gerne an verschiedenen Orten, und unser Bassist Rupert (Keplinger) saß damals in Hamburg und hat mit Dero an Songs gearbeitet. Ich glaube, für Ferris MC. Die schreiben also an Songs, und am Rande hat Dero ein paar Zeilen in sein Handy gequatscht, ich bekomme das, dachte nur, mega, finde ich supergeil, trifft mich genau. Das hatte was von RAGE AGAINST THE MACHINE, das wollte ich schon immer mal, einfach schön dagegen gehen – Widerstand. Das ist so ein altes Crossover-Thema von Anfang/Mitte der 90er-Jahre. CLAWFINGER, RAGE AGAINST THE MACHINE, URBAN DANCE SQUAD. Oder um mit Rio Reiser zu sprechen: „Wie kannst du erkennen, wie das System ist, und es nicht ändern wollen?“ Das trifft den Mitte-links-Menschen in mir. Man muss immer wieder am System arbeiten und muss es immer wieder verbessern. Und man muss als Bürger auch misstrauisch bleiben und nicht jeden Scheiß mitmachen. Aber wie gesagt, das Ganze ist vor Corona entstanden, solche Themen haben mich schon immer bewegt. Jedenfalls habe ich damals Dero angerufen und angefragt. „Dagegen“ ist ein schöner Song geworden, es muss ja kein Welthit sein. Aber es ist ein geiles Statement, und das ist mir wichtig. Man darf auch mal Flagge bekennen und eine Haltung zeigen. Ich muss nicht nur die ganze Zeit davon singen, was ich für ein geiler Stecher bin und wie mir die Weiber zu Füßen liegen. Das haben WHITESNAKE und AC/DC ganz gut erledigt. Den Finger in die Wunde zu legen haben wir natürlich nicht erfunden. Aber mal ein Statement raushauen tut gut. Wenn du laut „FAKK“ sagst, befreit das. Das ist auch eine schöne Buchstabenkombination, damit kann jeder mal spielen. Es lebe die semantische Ebene.
DEADLINE: Warum die eigenwillige Schreibweise und nicht „Fuck”?
Alex: Weil wir keine englische Band sind. Wir haben unsere eigene Lautschrift gebaut. Wir haben uns so aus einer Klemme gelöst. Denn das „FAKK“, das wir meinen, ist nicht das „Fuck”, das immer all die anderen sagen. „Come on, you motherfuckers, we wanna see the biggest fucking circle pit …” Jedes zweite Wort von jeder US-Rockband auf der Bühne ist „fuck”. Das meinen wir ja gar nicht, das ist uns eine Nummer zu scheiße. Wir meinen etwas anderes, und daher mussten wir es auch anders schreiben.
DEADLINE: Beim Video zu „FAKK“ kommt für mich euer Sinn für Humor durch. Ich denke an das durchaus prollige Gangster-Gehabe.
Alex: Was heißt denn hier prolliges Gangster-Gehabe, das ist ja eine bodenlose Unterstellung. Nur weil man einen Jogginganzug trägt? Unser Regisseur Mikis Fontagnier dreht sonst Hip-Hop-Videos (u. a. für KOOL SAVAS, SIDO), hat aber auch unsere „Skandal im Sperrbezirk”- und „Out of the Dark“-Videos gemacht. Ich habe im Übrigen eine Hip-Hop-Affinität. Ich sage nur: JUDGEMENT NIGHT-Soundtrack.
DEADLINE: Großartig!
Alex: Ja, Wahnsinn. Der Film is so na ja, aber was für ein Soundtrack! Viele Leute denken, wir hätten „FAKK” gemacht, um der Hip-Hop-Community eins reinzuwürgen. Natürlich nicht. Wir bedienen uns ihrer Stilmittel in einem Crossover-Song und visualisieren das. Wenn man das als Statement gegen Hip-Hop auslegen will, bitte schön. Da kann man aber auch extrem danebenliegen. Man muss immer auf den Text hören und die Bilder anschauen. Wir nehmen nirgends eine Szene aufs Korn, das kann man nirgends herauslesen oder -hören. Im Gegenteil: Am Ende sind da alle cool. Wir finden es einfach ganz geil, mal den Stinkefinger auszufahren.
DEADLINE: In den Kommentaren zu „FAKK“ auf YouTube lösen die zahlreichen russischen Beiträge offenbar Verwunderung unter euren deutschen Fans aus, obwohl ihr in Russland recht populär seid.
Alex: Geil, oder? Da habe ich auch schon gelacht.
DEADLINE: Wie kommt es, dass ihr – ähnlich wie OOMPH! – in Russland so populär seid? Ist es die Musik oder die Sprache?
Alex: Ich weiß es nicht. Vielleicht verbindet die deutsche und die russische Seele mehr, als man glaubt. Wir haben schon einige Male in Russland gespielt, und da gibt es eine große Verbundenheit. Aber ich weiß nicht, wie ich es erklären soll. Russland ist gar nicht so fremd, im Gegenteil. Man fühlt sich da schnell pudelwohl. Liegt es an RAMMSTEIN, ist es der Erfolg von OOMPH!, ist es die Musik an sich? Ich kann es dir nicht erklären. Was die Kommentare auf YouTube angeht: Wenn den Russen etwas gefällt, dann sagen sie das. Wegen der Musik: Es ist vielleicht die Theatralik, dass wir da eine gewisse Seelenverwandtschaft haben. RAMMSTEIN haben da eine Tür aufgetreten. Die Musik ist Stakkato, und die russische Sprache ist eine harte, wenn auch schöne Konsonantensprache, ähnlich wie das Deutsche. Bei Sprache kommt es auch immer drauf an, wer die spricht. Das macht immer den Unterschied zwischen assi und charmant. Ach, mich freut das einfach. Für mich sind die russischen Fans Menschen, und es freut mich, dass es dort einen Austausch gibt. Die Vorstellung vom bösen Russen kann ich nicht teilen. Ich bin froh, dass wir sowohl im Osten als auch im Westen funktionieren, da ist meine Welt wieder in Ordnung. Gegeneinander kommt mir nirgendwohin, außer in einer riesengroßen Bredouille.
DEADLINE: Du hast vorhin STAR WARS erwähnt und beschreibst den Zwiespalt im Song „Im Guten Im Bösen“ unter anderem mit „Vader vs. Skywalker“. Bist du STAR WARS-Fan?
Alex: Na klar! Den habe ich mit neun gesehen. STAR WARS ist eines dieser Erweckungserlebnisse, das hat etwas mit mir gemacht. Ich bin seit Kindestagen ein Science-Fiction-Fan. Also ich bin immer noch ein Kind, Männer werden ja nur größer. STAR WARS vereint alles. Han Solo war mein Held. Die Stiefel, dieses Western-Outfit, dieses geile Getue mit Weste. Wahrscheinlich kommt daher mein Stiefel- und Hosenfetisch. Danach musste ich wegen Harrison Ford auch INDIANA JONES hinterherrennen. STAR WARS hat all das, was die große Bühne braucht. Das Gute, das Böse, das Helle und das Dunkle. Die ganze Welt von Heavy Metal und Gothic hast du drin. Vielleicht ein bisschen kitschig aus heutiger Sicht, aber mit diesem Film ging das Medium Kino für mich los. Ich habe mir Bücher gekauft, um mehr zu erfahren, und wollte mehr Filme sehen. Mit 18 durfte man dann endlich auch ins Pornokino am Bahnhof. Ich war in jeder Art Kino und habe wirklich jede Art Film schon gesehen. Und ich bin und bleibe STAR WARS-Fan. Und das Böse, also Darth Vader, ist immer geiler als das Gute. Alle finden doch Darth Vader cooler als Luke Skywalker. Warum ist das so?
DEADLINE: Die Bösen dürfen alles.
Alex: Ja, böse sein hat schon was. Sie dürfen alles, müssen es aber auch meistens teuer bezahlen.
DEADLINE: Sind Filme eine Inspiration für EISBRECHER?
Alex: Klar. Das Album ANTIKÖRPER (2006) hat seinen Titel, weil ich am Kinoplakat des gleichnamigen Films (Christian Alvart, 2005) vorbeigefahren bin. Filme beeinflussen auch unsere Videoclips. Unser POWERWOLF-Cover „Stoßgebet“ ist zum Beispiel mein Film. Da blitzt schon etwas Sergei Eisenstein oder Fritz Lang durch. Musik ist Kino für die Ohren. Die Geschichten und Emotionen sind dieselben, ich könnte ohne beides nicht leben, und ich liebe das Kino. Ich habe auch keinen Bock auf Netflix. Ich will mir nicht von irgendwelchen Plattformen vorschlagen lassen, was ich schauen soll, und gebe mich nicht damit zufrieden, wenn dort ein Film nicht zu finden ist. Neulich habe ich eine Doku über Hardy Krüger gesehen, darin ging es auch um LE FRANCISCAIN DE BOURGES (Claude Autant-Lara, 1967), den ich noch nicht kannte. Darauf habe ich Bock und freue mich, weil ich so ziemlich jeden Film mit Hardy Krüger gesehen habe. Aber den nicht. Den Film gibt es nur in Frankreich, also habe ich mir die DVD für viel Geld bestellt. Filme und Bücher sammeln ist für mich eine Leidenschaft. Theater, Film und die Musik anderer Leute inspirieren mich, das ist ein immerwährender Kreis. Ohne das verödet mein Herz oder verblödet mein Geist.
DEADLINE: Kennst du den Animationsfilm HEAVY METAL FAKK 2? An den musste ich jetzt wegen „FAKK” denken.
Alex: Na klar. Hat aber nichts damit zu tun. Als Cineast und Musikliebhaber brauchst du dicke Eier. Wie viele Filme gibt es, die einen großartigen Soundtrack haben und der eigentliche Film ist eher eine Enttäuschung. Nimm den QUEEN-Soundtrack zu FLASH GORDON. Wie viele Filme gibt es, bei denen du denkst, meine Güte, was hätte das werden können? Jetzt fällt mir David Bowie ein, was ein geiler Typ und auch Schauspieler. Aber geil, dass du HEAVY METAL FAKK 2 ansprichst, den muss ich mal wieder heraussuchen und anschauen.
DEADLINE: Den habe ich, glaube ich, noch als Video herumstehen – will heißen: Ich bin schon älter.
Alex: Wie alt bist du denn?
DEADLINE: Ich bin 40.
Alex: Pff, alt. Mit 40. Genieße es. Ich hatte danach zehn Jahre lang eine Midlife-Crisis, und als es wieder richtig losging, kam Corona.
DEADLINE: Zu deinem 44. Geburtstag bist du als WESSELSKY unter anderem auf dem Amphi aufgetreten und hast Songs von deiner ehemaligen Band MEGAHERZ gespielt.
Alex: Richtig! Ich hatte mir, jetzt sind wir wieder beim Film, SOUND CITY von Dave Grohl (FOO FIGHTERS) angeschaut. Die Dokumentation zeigt, wie er quasi das Studio übernimmt, das mit reichlich analoger Aufnahmetechnik ausgestattet ist. Er gibt einen Haufen Geld dafür aus und fragt sich, was er mit dem Studio anfangen soll. Er lädt alle seine Kumpels ein, von Lemmy (Kilmister, MOTÖRHEAD) über Trent Reznor (NINE INCH NAILS) bin hin zu den QUEENS OF THE STONE AGE. Alle kommen sie vorbei und spielen mit. Der Film war so geil gemacht, die Musik analog, und ich wusste, dass ich das auch machen muss. Also habe ich für einige Shows, darunter das Amphi, zehn Lieder bestehend aus MEGAHERZ-Songs und Covernummern von FALCO zusammengestellt und diese Gigs ohne Keyboards und Programming gespielt. Alles handgemacht. Das hat so einen Spaß gemacht. Es gab keine Backing Vocals, keinerlei Add-ons, kein Dies und kein Das. Bei solchen Shows kannst du dann auch improvisieren. Die Inspiration war SOUND CITY. Es ist toll, in einem dreckigen kleinen Club zu spielen und einfach mal loszulegen. Mit EISBRECHER ist das nicht mehr möglich, aber das darf man jetzt bitte nicht falsch verstehen. EISBRECHER sind eine Inszenierung, ein komplett durchgestyltes Ding, und das weiß ich sehr zu schätzen.
DEADLINE: Bei besagtem Amphi-Auftritt hast du den Text von „Kopfschuss” vom Blatt abgelesen und gewitzelt, dass du mit so einem langen Text drei EISBRECHER-Songs schreiben könntest. Weißt du noch, was du damit gemeint hast? Findest du EISBRECHER-Lyrics simpel?
Alex: Absolut nicht! Sie klingen vielleicht simpel, aber wir machen es uns nicht einfach. Was ich an uns schätze: Wenn wir von uns sprechen, meinen wir auch uns. Wenn wir den Stinkefinger ausfahren und auf Fehler im System hinweisen, ist uns klar, dass wir auch ein Teil des Systems sind. Das macht diese Band greifbar und sympathisch. Wasser predigen und Wein trinken kann ich nicht haben. Ich mag den Oberlehrer nicht, vielleicht, weil ich Lehramt studiert habe. Wir machen es uns nicht einfach. Klar ist auch: Manches gelingt einem besser, anderes nicht. Die deutsche Sprache kann ein unglaublicher Motherfucker sein, wenn du wieder einmal Ferne auf Sterne reimen musst. Frag Pumuckl: Was sich reimt, ist gut. Aber vielleicht klingt es dann manchmal platt. Schade, dass es im Deutschen nicht so viele Metaphern wie im Englischen gibt. Derweil kürzen wir im Deutschen immer mehr, Wortendungen werden verschluckt. Das gefällt mir nicht immer, denn ich mag unsere Sprache. Gleichzeitig wird sie flexibler, wenn wir schlampiger sprechen. Es muss ja nicht immer Schiller und Goethe sein. Aber bitte auch nicht Mario Barth.
DEADLINE: Stichwort Metaphern. Zur zweiten Singleauskopplung „Im Guten Im Bösen“ heißt es im Pressematerial: „Ein klassischer Eisbrecher-Rock-Pop-Song mit […] der berühmten ,Einer gegen alle und sich selbst’-Metapher.“ Neben diesem Thema tauchen auch gesellschaftliche Missstände wie etwa Machtmissbrauch und Heuchelei immer wieder in euren Texten an. Sind euch diese Motive einfach wichtig, oder glaubt ihr, dass man es nicht oft genug ansprechen kann?
Alex: Nee, da haben wir wieder das, was ich vorhin angesprochen habe. Die Musik gibt den Takt vor. Wenn ein Song zwingend ein Thema fordert, singen wir davon. Zur Melodie von „FAKK“ kannst du nicht über schönes Wetter singen. Wir landen über die Musik bei unseren Themen, und wenn wir feststellen, dass wir die schon einmal gepredigt haben, ist das überhaupt kein Problem. Das Thema „Wer bin ich“ hatten wir schon zu MEGAHERZ-Zeiten mit dem Album WER BIST DU (1997), darauf war der Song „Gott sein“ mit der Zeile „Es ist nicht leicht, ein Gott zu sein“. Die Antwort darauf könnte „Es lohnt sich nicht, ein Mensch zu sein“ von LIEBE MACHT MONSTER sein. Manche Themen kommen einfach immer wieder oder sind allgegenwärtig. Liebe, Wahnsinn, Krieg, die Zerrissenheit des Ichs, die Unfähigkeit des Menschen. Über all das kannst du eine Million Geschichten erzählen, solange die Welt sich dreht. Neulich hat mich jemand nach dem Sinn des Lebens gefragt. Den kenne ich nicht, aber knapp zusammengefasst: morgen etwas weniger scheiße sein als gestern. Man kann zumindest versuchen, so wenig wie möglich falsch zu machen. Das ist der Anspruch. Mit unserer Musik und unseren Texten wollen wir wenigstens versuchen, anderen und uns selbst auf die Sprünge zu helfen. Wenn wir dazu beitragen können, dass die Welt ein bisschen weniger scheiße ist, dann haben wir doch etwas erreicht. Zu Musik und Texten soll man ja auch Dampf ablassen können. Warum sollten sonst Leute nach Konzerten zu uns sagen, dass wir ihnen Kraft geben und gegeben haben? Deswegen ist Interaktion wichtig, und deswegen fehlen mir die Liveauftritte so sehr. Damit schließt sich der Kreis. Manchmal musst du es nicht einmal von den Leuten hören, ich sehe es ihnen an. Ich kenne doch meine erste Reihe. Wenn sie alle „FAKK“ sagen können, gibt ihnen das etwas, es verbindet alle miteinander. Ich bin gleichermaßen Philanthrop wie Misanthrop, die Interaktion mit den Menschen bei Livekonzerten bringt das in Balance. Vielleicht bin ich ja manisch, keine Ahnung. Ich kann es nur noch einmal sagen: Eine Welt ohne Kino, Theater und Livekonzerte ist für mich keine Welt, in der ich leben möchte. Was haben Menschen gemacht, nachdem sie gelernt hatten, den Mitmenschen nicht in die Suppe zu scheißen? Sie haben gemalt, geschnitzt, Instrumente gebaut und Theater gespielt. Das ist doch erstaunlich. Und gerade tut man einfach so, als wäre Kunst nicht so wichtig.
DEADLINE: Mir fehlen Konzerte und Musikfestivals. Eine Sache vermisse ich jedoch gar nicht: Smartphones vorm Gesicht. Du hast bei Konzerten auch schon gesagt: Leute, wir posen jetzt, ihr macht ein Foto, und dann packt ihr die Dinger weg. Wie ist das, wenn man als Künstler ständig in ein Meer aus Smartphones schaut?
Alex: Alex: Ja, das ist so. Wir als EISBRECHER haben Glück, unsere Fans sind gut erzogen. Wenn ich schimpfe, habe ich sogar noch ein bisschen Durchsetzungsvermögen. Trotzdem stehen da einige Leute direkt vor deiner Nase und filmen weiter. Ich gehe nicht auf ein Konzert, um es durch einen Bildschirm zu verfolgen. Ich will den Moment erleben. Selbst von meinen Urlauben habe ich kaum Bilder. Als ob man nicht existieren könnte, ohne sein Leben ständig zu dokumentieren – für wen denn eigentlich? Wenn im Publikum ständig alle nur auf ihre Bildschirme starren oder Gadgets hochhalten, könnten wir als Band davon ausgehen, dass wir ganz schön beschissen und langweilig sind. Handys vor dem Gig abgeben und danach abholen, das wäre was. Oder: Wer hier knipst, geht nach Hause. Natürlich gibt es dann fairerweise auch das Geld zurück. Statt Smartphones würde ich lieber Feuerzeuge in der Luft sehen, das ist ein tolles Licht. Als Konzertbesucher im Publikum ist das Handydisplay des Vordermanns für mich Sinnbild einer komplett fehlverstandenen Unterhaltungs- oder Respektkultur. Es ist der Gipfel der Unverschämtheit, wenn Leute komplette Konzerte an ihrem Smartphone verbringen und anderen Besuchern die Sicht nehmen. Das bringt mich so schlecht drauf, dass ich am liebsten nach Hause gehen will. Oder meinem Vordermann Display samt Handy quer in den Arsch rammen. Ich habe da null Verständnis, und das muss ich auch nicht. Ich finde es respektlos, und zwar allen gegenüber: der Band, dem Veranstalter, den Mitmenschen. Wer sich so verhält, ist ein Arsch. Punkt.
DEADLINE: Ich wünsche mir eine Fernbedienung, um Smartphone-Kameras auszuschalten.
Alex: Ja, eine schöne EMP-Bombe. Ping und alles aus. Und erst wenn man den Konzertbereich verlässt, gehen die Kameras wieder. Geile Idee. Vermutlich würden viele weinend rausrennen. Weil man kann ja nicht das Konzert anschauen, ohne es zu filmen. Was machen die Leute überhaupt mit ihren Videos?
DEADLINE: Das frage ich mich auch immer.
Alex: Schauen die sich das wirklich selber an? Als Nächstes kommt dann das berühmte Selfie. Weil sich der Herr Wesselsky ja glücklich schätzen kann, wenn er mit jemandem auf Instagram landet. Früher gab es Autogrammkarten, die will heute niemand mehr, also muss das Selfie her. Gleich vorweg: Wenn sich jemand traut und nach einem Foto fragt, überhaupt kein Problem. Sehr gerne! Wenn jemand mal ein Foto macht, ist doch nice. Das mache ich ja auch selbst. Es kommt aber immer darauf an, wie die Leute auf dich zugehen. Es gibt Situationen, da würde jeder wohlerzogene Drittklässler erkennen, dass es eben unangebracht ist, in diesem Moment nach einem Bild zu fragen. Zum Beispiel wegen der Band, die gerade spielt, und wegen jener Menschen, die sich ebendiese Band ansehen möchten. Das ist eine Frage von Kinderstube, und ich habe das Gefühl, dass die im Digitalzeitalter immer mehr verloren geht. Da muss man sich ja nur die Kommentare in sozialen Netzwerken anschauen. Beispiel: Ich wollte mir beim Rock in Vienna Festival BIFFY CLYRO ansehen, es war nicht so viel los, also kam man leicht vor die Bühne. Ständig wollte jemand ein Bild von oder mit mir machen. Klickklickklick. Kaum hatte ich mich umgedreht, stand da eine zehn Meter lange Schlange. Ich freue mich über die Aufmerksamkeit, aber muss das sein, wenn da oben auf der Bühne gerade eine Band spielt? Wie sieht das für die Band aus, wenn da im Publikum einer steht, der ständig fotografiert wird, am besten noch mit dem Rücken zur Bühne? Während eben BIFFY CLYRO spielen. Aber noch einmal: Ich bin ein ungeduldiger Mensch, aber für unsere Fans und Freunde nehme ich mir Zeit, da habe ich eine Engelsgeduld. Deswegen finde ich Autogrammstunden voll okay. Künstler und Fans kommen zu diesem Zweck zusammen, beide Seiten nehmen sich Zeit. Und irgendwann ist aber auch Ruhe. Denn leider erkennen nicht alle Menschen gewisse Grenzen. Bei einem Konzert wollte ein Elternpaar, dass ich ihrer Tochter einen Geburtstagsgruß einspreche. Das habe ich freundlich verneint, weil ich nicht einfach in ein Handy spreche, das man mir unter die Nase hält. Die waren extrem enttäuscht und meinten, dass jetzt auch die Tochter extrem enttäuscht sei. Da bin ich dann weitergegangen, da merkst du einfach, wie dir die Halsschlagader platzt. Und eigentlich willst du fragen: Was glaubt ihr denn, wer ihr seid, was ihr mit eurem Ticket gelöst habt? Dass ihr bei mir zu Hause in die Badewanne steigen dürft?
DEADLINE: Du hast anfangs erwähnt, dass du noch ganz viele Konzerttickets im Schrank liegen hast. Auf welche Konzerte freust du dich, wenn es endlich wieder welche gibt?
Alex: AGENT SIDE GRINDER zum Beispiel finde ich total geil, über die bin ich beim Amphi Festival gestolpert. COMBICHRIST will ich auch mal wieder gerne sehen, weil man auch bekumpelt und befreundet ist. Und Udo Dirkschneider, weil ich mir diese ACCEPT-Vollbedienung gerne abhole. Zu meiner Ehrenrettung muss ich natürlich sagen, dass ich für Konzerte meistens nichts bezahle. Sehr, sehr gerne möchte ich CLAWFINGER wieder sehen. Weil ich die sehen wollte, haben wir sie 2017 für sehr, sehr viel Geld zu uns ins Vorprogramm geholt, das war beim Abschlusskonzert in Oberhausen. Nicht allen unserer Fans hat es gefallen, aber ich fand es geil. Jedenfalls haben CLAWFINGER deswegen wieder angefangen zu touren. Die haben bei uns Blut geleckt und wollten nach langer Bühnenabstinenz wieder spielen. CLAWFINGER ist eine meiner Lieblingsbands der 90er, die ich total gefeiert habe. Dass die jetzt wieder spielen und gebucht werden, hat mich stolz gemacht. Warum habe ich das jetzt erzählt? Ach so. CLAWFINGER. Die will ich wieder sehen. Ich sage dir, was mein letztes Konzert war, und diesen Eindruck will ich wieder loswerden: LINDEMANN im Zenit in München. Ich hatte nicht damit gerechnet, vielleicht weil ich dumm bin, dass man mir die ganze Zeit irgendwelche Schwänze per Videoleinwand ins Gesicht hält. So eine maue Performance, aber viel Schwanzporno. Und Fische ins Publikum geschmissen. Alle fanden es geil, ich nicht. Punkt. Ich wollte eine Band sehen und kein Kasperletheater. Und das war mein letztes Konzert. (jammert scherzhaft) Sobald Konzerte wieder möglich sind, renne ich in jede Vorstellung, egal wer spielt. Ich will meinen Horizont aufreißen, ich werde versuchen, die ganze Zeit unterwegs zu sein, weil der nächste Lockdown bestimmt nicht fern ist. Ich bin echt nicht zimperlich, aber ich will diesen LINDEMANN-Pornofilm aus meinem Gedächtnis tilgen. Ich gehe nicht auf eine Rockshow, um mir am Schluss einen Porno mit einem hässlichen, alten, untersetzten Mann anzuschauen. Darauf war ich nicht vorbereitet. Eigentlich wollte ich eine Band sehen.
DEADLINE: Dann hoffe ich, dass ihr bald wieder auf die Bühne kommt, mit weniger Schwänzen und mehr Konzert.
Alex: Wenn schon Schwanz, dann bitte der eigene. Aber hey, Geschmäcker sind verschieden, alles entspannt. Das war jedenfalls die letzte Show. Straaaaaange. Wobei ich mit The Heimatdamisch im Kurhaus Bad Tölz für ein Streamingkonzert auf der Bühne stand, ein Streamingkonzert habe ich also doch schon gemacht. Aber ich kann dir sagen: Ohne Publikum nur in eine Kamera zu performen, das ist wie mit einem 500-PS-Auto mit angezogener Handbremse zu fahren. Das zusätzliche Pfund ist immer das Publikum. Wenn du wissen willst, ob es geil ist, brauchst du ein Publikum und Applaus. Emotionen lassen sich nicht konservieren. Daran sollten sich auch jene Leute erinnern, die bei Konzerten ständig am Smartphone herumspielen. Egal wie viele Klicks du bekommst: Die echten Emotionen sind nicht auf deinem Foto oder Video. Es ist nur eine Erinnerungsstütze. Aber statt 100 Erinnerungsstützen sollte man lieber einmal leben.
DEADLINE: Das ist ein gutes Fazit. Herzlichen Dank für das Gespräch, Alex.
Alex: Danke und gerne. Wie gesagt, du bist ein Fenster zur Welt für mich. Das Album ist gemacht, die Tour abgesagt. Wenn ich mich mit netten Leuten unterhalten kann, ist das sehr angenehm. Natürlich hat so ein Interview auch einen Zweck, das ist dein Job, das ist mein Job. Aber das Schöne an unseren Jobs ist ja, dass es eine Gemengelage gibt. Ich weiß auch gar nicht, wo die Pflicht aufhört oder anfängt. Das ist nicht immer so, aber wenn es so angenehm verläuft wie jetzt, muss ich sagen: Geil, da haben wir ja was richtig gemacht.
DEADLINE: Nochmals vielen Dank und viel Erfolg mit dem neuen Album.
Interview geführt von Christian Daumann
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