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Jay Ness - Dark Cloud

INTERVIEW MIT DARK CLOUD-REGISSEUR JAY NESS

Regie: Jay Ness / USA 2021 / 90 Min.

Besetzung: Alexys Gabrielle, Emily Atack, Hugo Armstrong, Brittany Benjamin, Amanda Day, Justen Jones, Toussaint Morrison

Produktion: Jay Ness, Michael Kraetzer, Nicolás Onetti

Freigabe: FSK 16

Vertrieb: I-On New Media

Start: Bereits erhältlich

„Wir sind eine Spezies, die immer wieder die gleichen schrecklichen Fehler macht“ (Jay Ness)

Jay Ness ist Regisseur und Produzent des dystopischen Kammerspiels DARK CLOUD. Der in Saint Paul, Minnesota, geborene US-Amerikaner begeisterte sich bereits in jungen Jahren für das Geschichtenerzählen. Zum Film kam der Monsterfilm-Fan jedoch über die Musik. DARK CLOUD ist sein erster Langfilm. Wir haben uns mit dem ausgesprochen auskunftsfreudigen Künstler zum Interview getroffen, um mehr über ihn und sein Verhältnis zu Film und Technologie zu erfahren.

Dieses Interview enthält Spoiler!

 

DEADLINE: Wie bist du Filmgeschäft gelandet? War das immer dein Plan?

Jay Ness: Von einem Plan zu sprechen wäre zu viel. Ich habe schon immer gerne Geschichten erzählt. Das war bei mir eng mit dem Schreiben und Illustrieren von Büchern verbunden. Ersteres hat dazu beigetragen, dass ich irgendwann Stop-Motion-Filme mit einem VHS-Camcorder gemacht habe. Natürlich mussten meine Freunde als Darsteller herhalten und nicht irgendwelche Actionfiguren. Meine Freunde haben es gehasst. Da ich aus dem Mittleren Westen der USA stamme, erschien die Welt des Filmemachens unerreichbar. Los Angeles war wie ein anderer Planet. Als Teenager konzentrierte ich mich auf Musik. Ich habe versucht, Gitarre zu spielen, bin aber eher gescheitert. Gesang und Percussion waren mein Ding. Nachdem ich jahrelang gespielt hatte, unterschrieben Freunde bei Indie- und Major-Labels. Und ich dachte: „Das sind meine langjährigen Kumpels, echte Musiker, und wir haben alle etwas zu sagen. Wie kann ich ihnen in dieser Szene als Künstler einen Mehrwert bieten? Sie werden Musikvideos brauchen. Das kann ich machen.“ Den Leuten haben meine Ideen gefallen, und wir haben überlegt, wie wir sie umsetzen können. So hat das alles auf professioneller Ebene angefangen.

DEADLINE: Dein erster Kurzfilm war eine Adaption der Videospielserie SILENT HILL (2012) und du hast auch einen Kurzfilm namens CURSE OF THE INVISIBLE WEREWOLF (2017) dreht. Bist du Horrorfan?

Jay Ness: Ich bin sehr, sehr wählerisch, wenn es um Horror geht. Vieles davon spricht mich nicht an, psychologischer Horror und Thriller gehen mir aber gut rein. SILENT HILL ist genau meine Art von Horror. Für die Unwissenden: Die Stadt Silent Hill beschwört das Trauma einer Person herauf, indem sie ihre inneren Dämonen hervorruft und den Protagonisten zwingt, sich ihnen zu stellen. Jeder erlebt die Stadt anders, da sich unsere Psyche unterscheidet. Tragischerweise verstarb unser leitender VFX-Künstler [Pawel Galazka] bei CURSE OF THE INVISIBLE WEREWOLF, während der Postproduktion. Überhaupt ist bei diesem Projekt damals viel passiert, das unsere Pläne 2015/16 durchkreuzt hat. Wir mussten Pick-Up-Aufnahmen und eine neue Einführung drehen, damit der Film nun mit einem Zeitsprung beginnt, da wir ihn vor sieben Jahren gedreht haben. Es ist nicht mehr das gleiche Projekt, wenn man bedenkt, dass ich meinen langjährigen Mitarbeiter Pawel „Apaczos“ Galazka verloren habe. Ich mag den Film immer noch, aber im Moment würde ich ihn lieber anders würdigen. Ich habe mit der Idee gespielt, die [inhaltlich bedingt in schwarz-weiß gedrehte] Geschichte zeitlich in der Technicolor-Ära anzusiedeln. Mal sehen.

DEADLINE: John J. Kaiser, der CURSE OF THE INVISIBLE WEREWOLF geschrieben hat, ist für das Drehbuch von DARK CLOUD verantwortlich. Seid ihr befreundet?

Jay Ness: John und ich sind wirklich gute Freunde geworden, als wir uns 2014 zum ersten Mal über den Weg gelaufen sind. Wir waren beide an einer Reihe von Filmen beteiligt, aus denen dann nichts wurde. John und ich haben weiterhin Ideen ausgetauscht und festgestellt, dass wir beide die alten Universal-Monsterfilme lieben. Die Faszination, die ich für den originalen GODZILLA empfinde, hat mich ebenfalls beeinflusst. Johns Dialoge sind extrem stilisiert, sie sind mein absoluter Lieblingsteil seiner künstlerischen Arbeit. Damit war er ein großartiger Kollaborateur für DARK CLOUD. Lange Rede, kurzer Sinn: Für CURSE OF THE INVISIBLE WEREWOLF haben wir die Produktionsfirma CutJawFilm Co. gegründet und arbeiten unter dieser LLC [Limited Liability Company, Unternehmen mit beschränkter Haftung], wenn es um ein gemeinsamen Projekt von John und Jay geht.

DEADLINE: Wie hat sich die Pandemie auf die Produktion und den Dreh von DARK CLOUD ausgewirkt?

Jay Ness: Wir konnten uns besser orientieren. Einige Elemente des Films wollten anfangs nicht so recht funktionieren. Durch die Pandemie hatte die Postproduktion mehr Zeit und konnte neu ansetzen. Etwa 85 Prozent der Aufnahmen in DARK CLOUD sind Visual FX. Wenn der Antagonist (AIDA) in deinem Film ein digitaler Spezialeffekt ist, gibt es keinen schnellen Weg, um ihn wirklich echt aussehen zu lassen. Während der Drehpause konnte ich einige Szenen überarbeiten und neu schreiben, während unser Cutter/Produzent Jeremy Wanek sich die nötige Zeit nahm, um 3D-Elemente für mehr als 1.000 Aufnahmen zu erstellen.

DEADLINE: Der Titel des Films erinnert an die Gefahren der modernen Technologie. Was ist deine Einstellung zum digitalen Fortschritt: Fluch oder ein Segen? Warum neigen wir dazu, den Fortschritt als etwas Gefährliches darzustellen?

Jay Ness: Es sieht so aus, als ob die Menschheit mit jedem technologischen Schritt nach vorne auch einen Schritt zurück geht. Zunächst merken wir das nicht, und dann wird plötzlich klar, wie sehr uns diese sogenannten „Fortschritte“ schaden. Sie beeinträchtigen unsere Beziehungen, unsere sozialen Fähigkeiten und die natürliche Funktionsweise unseres Gehirns. Es ist beängstigend, wie sehr wir uns darauf verlassen. Langfristig werden wir die Schäden bemerken, die unsere Generation davongetragen hat.

DEADLINE: Sind wir zu abhängig von Technik?

Jay Ness: Ja, zu hundert Prozent.

DEADLINE: Könntest du ohne ein Smartphone leben?

Jay Ness: Ich sehne mich nach der Zeit zurück, als man nicht von mir erwartet hat, dass ich immer erreichbar bin. Könnte ich ohne ein Smartphone leben? Ja, da bin ich mir sicher. Aber ich glaube nicht, dass es unsere Gegenwart zulassen würde, dass wir einfach abschalten. Wie wir alle habe auch ich Schuldgefühle mit Blick auf die Zeit, die ich mit Technik verbringe – und meine Abhängigkeit von ihr. Das ist ein persönlicher Aspekt von DARK CLOUD: die Hassliebe zu den Mechanismen unserer Realität und wie sie uns vorschreibt zu existieren.

DEADLINE: Es gibt viele Filme über abtrünnige oder böse KIs. Inwiefern bietet DARK CLOUD hier etwas Neues? Der Film hat mich übrigens an die Serie BLACK MIRROR erinnert.

Jay Ness: Mega, dass dich unser Film an die meisterliche Serie BLACK MIRROR erinnert. DARK CLOUD ist auf jeden Fall ein Kommentar über künstliche Intelligenz und dass sie die Menschheit nur nachahmen, aber nicht wirklich verstehen kann. Das fasziniert mich. Ich glaube, dass das auf die Gegenwart zutrifft. Es gibt Grauzonen des Menschseins, in denen sich Technologie nicht moralisch verhalten oder Anstand berücksichtigen kann. Wenn AIDA beispielsweise Chloe zum Schutz vor der Außenwelt im Haus einsperrt, ist das aus mehreren Gründen nicht tragbar. Theoretisch mag AIDAs Pflegeplan einleuchten, wenn man bedenkt, wie gefährlich das Leben ist. Wir sind eine Spezies, die immer wieder die gleichen schrecklichen Fehler macht: Wir ziehen immer wieder in den Krieg, bauen immer wieder Mauern zwischen uns. Tagtäglich sagen wir die schlimmsten Dinge zu den Menschen, die wir lieben, und tun ihnen Schreckliches an.

DEADLINE: Welche KI aus einem anderen Film magst du?

Jay Ness: Rachel aus BLADE RUNNER. Sie ist sich ihres Selbsts bewusst, gleichzeitig ist sie aber unwissend. Sie kann spüren, sie kann fühlen, sie kann sich verlieben, sie kann Angst empfinden. Für mich ist absolut klar, warum sie nicht versteht, dass sie kein Mensch ist.

DEADLINE: Die Protagonistin des Films, Chloe, wird therapeutisch behandelt und leidet an Gedächtnisverlust. Hast du zu diesem Thema recherchiert?

Jay Ness: Das Kopftrauma ist für mich tatsächlich sehr real, da ich 2011 brutal überfallen wurde und eine lähmende Gehirnerschütterung davontrug. Ich zog zurück zu meinen Eltern, kämpfte mit Gedächtnisproblemen, Verwirrung, Schwindel und Übelkeit. Es war furchtbar.

DEADLINE: Das glaube ich dir. Chloes Gedächtnisverlust suggeriert dem Publikum, dass es ihrer Wahrnehmung womöglich nicht trauen kann. Es gibt Bilder vom Meer, und das Unternehmen hinter AIDA heißt Aquarius. Spielst du mit dem Publikum?

Jay Ness: Die Visionen des Ozeans und die Szenen mit Chloes Schwester in einem Umfeld endloser Gelassenheit sind das, was AIDA für Chloes Pflegeplan erschafft. Und das liebe ich. AIDA führt aus, wozu sie programmiert wurde, Chloes Seinszustand funktioniert. Ob der real ist oder nicht, spielt für sie keine Rolle.

DEADLINE: AIDA erinnert an HAL 9000 aus 2001: ODYSSEE IM WELTRAUM. Wie hat dich dieser Film beeinflusst?

Jay Ness: Ich muss ein Geständnis machen: Ich habe 2001: ODYSSEE IM WELTRAUM noch nie gesehen. Stanley Kubricks Arbeit beeinflusst mich, aber das ist sein einziger Film, den ich nicht geschaut habe. Trotzdem weiß ich natürlich, wer HAL ist und wie er aussieht. Er ist Kult. Während der ersten eineinhalb Jahre der Produktion sollte AIDA als menschlicher Avatar zu sehen sein. Wir filmten Darstellerin Emily Atack, das Ergebnis erzeugte jedoch einen Uncanny-Valley-Effekt. Diese AIDA lenkte völlig von der Geschichte ab. Also wurde es eine Kugel. Die Kugelform war sinnvoll, weil auch die anderen Netzwerkelemente im Haus kreisförmig sind. Wir haben auch über eine Dreiecksform nachgedacht, aber das hätte zu sehr nach dem Aquarius-Logo und der Servermaschine im dritten Akt ausgesehen. Was jetzt wie eine Kopie von HAL wahrgenommen wird, war also gar nicht geplant.

 

DEADLINE: Alexys Gabrielle als Chloe ist in den meisten Szenen allein zu sehen, sie trägt den Film. Wie bist du die Szenen zwischen ihr und AIDA angegangen?

Jay Ness: Alexys und ich haben in der Vorproduktion ausgiebig darüber gesprochen, wie Chloe auf AIDA reagieren würde. Beim Dreh war AIDA allerdings ein quadratisches Stück schwarzes Bastelpapier, das an die Wand geklebt wurde. Anna Stranz, die Chloes Schwester Lucy spielt, war am Set und hat für AIDA gelesen. Alexys gilt meine größte Anerkennung. Sie hat uns eine wahrhaft dynamische Performance geliefert – und das im Gespräch mit einem Blatt Papier.

DEADLINE: Was ist dir beim Casting von Schauspieler:innen wichtig?

Jay Ness: Wenn möglich, lerne ich die Darsteller:innen gerne vor der Produktion kennen. Ein Luxus, den man sich nicht immer leisten kann. Aber wenn man ihn genießt, kann man Sprachbarrieren überwinden, gemeinsam improvisieren, den natürlichen Rhythmus des anderen studieren und Wege finden, dessen Stärken zu nutzen. Kommunikation ist das A und O, die musst du vor dem Dreh in den Griff bekommen. Wenn es um Cast und Crew geht, frage ich mich: Möchte ich mit dieser Person an meiner Seite in den Krieg ziehen? Kann ich ihr vertrauen?

DEADLINE: Die Optik von DARK CLOUD ist interessant. Was kannst du uns über die Ästhetik des Films, die Beleuchtung und das Produktionsdesign erzählen?

Jay Ness: Das Color Grading (Farbgebung) war eine heftige Diskussion zwischen Art Department, Kostümabteilung und Lichtgestaltung. Wir haben das Haus so gestaltet, dass es immer anders aussieht. Wir haben verschiedene Gebäude miteinander vermischt, um die Illusion eines einzigen Hauses zu erschaffen. Das war der Schlüssel, um jede Szene frisch wirken zu lassen. Wir haben es als alternative Realität behandelt und weniger als futuristischen Gegenentwurf zur Gegenwart. Wir haben absichtlich etablierte Technologien einbezogen und hatten unseren Spaß damit: Kontaktlinsen, die sich mit Smart Devices verbinden, Touchscreens auf allen flachen Oberflächen, automatisierte Sensortechnologie.

DEADLINE: Mir hat die Synth-lastige Musik des Films gut gefallen. Inwiefern warst du am Soundtrack beteiligt?

Jay Ness: Die Filmmusik und der Soundtrack liegen mir sehr am Herzen. Musik ist ein großer Teil meines Lebens, und sie spielt natürlich auch in meiner Kunst eine wichtige Rolle. Komponist Chad Fjerstad ist ein guter Freund von mir, den ich seit meiner Kindheit kenne. Wir sind zusammen aufgewachsen und teilen unsere Begeisterung für Videospiele, Filme und Musik. Mit Chad habe ich auch als Kind Filme gemacht. Es ist etwas ganz Besonderes und schlüssig, dass er meinen ersten Spielfilm komponiert hat. In einigen Bereichen haben wir gemeinsam an der Musik gearbeitet. Chad hat mir die Audio-Stems geschickt, ich habe die Tracks neu gemischt oder an meine eigenen Kompositionen angepasst. Vieles davon ist im Film gelandet, und wir sind mit dem Ergebnis sehr zufrieden.

DEADLINE: Musikkassetten erleben derzeit ein Comeback und kommen auch in DARK CLOUD vor. Haben Kassetten eine besondere Bedeutung für dich?

Jay Ness: Ich liebe analoge Medien, ich kaufe immer noch Kassetten und VHS-Kassetten, zusätzlich zu 4K-Blu-rays und DVDs. Das hat etwas Sentimentales, diese Dinger sind ja eigentlich Zeitkapseln. Das Leben fühlt sich einfach interaktiv und echt an, wenn du in Händen halten kannst, wofür du dein hart verdientes Geld ausgegeben hast. Das ist etwas Besonderes.

DEADLINE: Was kannst du uns über das Projekt verraten, an dem du gerade arbeitest?

Jay Ness: Ich befinde mich in der Vorproduktion für einen Kurzfilm, und bisher läuft es super. Ein paar enge Freund:innen haben die Produktionsfirma Lost Forty Studios in Minnesota gegründet, und das zusammen mit Karl Gajdusek (unter anderem Executive Producer und Showrunner der ersten STRANGER THINGS-Staffel). Gemeinsam werden sie Spielfilme und Serienpiloten machen, außerdem meinen Kurzfilm mit Upper Midwest Film Office (UMFO) produzieren. Parallel zum Kurzfilm organisieren wir einen Workshop für angehende Filmemacher in Nord-Minnesota. Das dürfte ein Riesenspaß werden.

DEADLINE: Das letzte Wort gehört dir. Hast du noch eine Botschaft für dein deutsches Publikum?

Jay Ness: Danke! (auf Deutsch) Danke, dass ihr dem Indiefilm DARK CLOUD 90 Minuten Aufmerksamkeit schenkt. Und das in einer Zeit, in der es eine überwältigende Menge an fantastischen Produktionen gibt, die man sich reinziehen kann. Wir hoffen, dass euch unser Film die Möglichkeit zum Abschalten gibt und von all der schrecklichen Scheiße ablenkt, die gerade um uns herum passiert – und euch ein wenig zum Nachdenken anregt.

DEADLINE: Vielen Dank, Jay! Wir wünschen dir alles Gute für die Zukunft.

 

Interview geführt und übersetzt von Christian Daumann

 

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