Die Faszination am wahren Verbrechen
True Crime ist nicht mehr länger nur ein Hobby, sondern ein Geschäft für viele. Immer mehr Dokus und Podcasts bedienen einen immer größer werdenden Markt, wobei man sich fragen muss, woher eigentlich diese Faszination um Serienkiller und andere Verbrecher herrührt und ob dieses Phänomen nicht auch etwas über uns selbst sagt. Diese Frage ist der Ausgangspunkt von RED ROOMS – ZEUGIN DES BÖSEN des kanadischen Drehbuchautors und Regisseurs Pascal Plante, der in Deutschland am 7. November in den Kinos startete. Im Zentrum steht eine junge Frau namens Kelly-Anne, die beim Prozess gegen einen Mann zuschaut, der wegen Mordes an drei Jugendlichen verurteilt werden soll. Während es im Gerichtssaal um die Details der schrecklichen Taten und das Leid der Hinterbliebenen geht, werden wir als Zuschauer Zeuge, wie die Protagonistin immer mehr abtaucht in die dunkle Welt, in der sich diese Taten zugetragen haben. Ein Review findet ihr in der aktuellen DEADLINE #108.
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Gespielt wird Kelly-Anne von der kanadischen Schauspielerin Juliette Gariépy, die im DEADLINE-Interview über die Dreharbeiten, die Themen von RED ROOMS und ihre Wünsche für Frauen im Filmgeschäft spricht.
DEADLINE: RED ROOMS – ZEUGIN DES BÖSEN zeichnet sich meiner Meinung nach besonders dadurch aus, dass er vieles der Vorstellungskraft des Zuschauers überlässt, besonders, wenn es um Gewalt geht. Wie waren diese Momente für dich während des Drehs?
JULIETTE GARIÉPY: Mich hat dieser Ansatz von Pascal Plante schon interessiert, als er mir das Projekt vorstellte, weil ich finde, dass man dem Zuschauer in vielen Filmen viel zu viel abnimmt und zeigt, anstatt es vielleicht nur anzudeuten. Beim Drehen dieser Szenen, würde ich sagen, hat es keinen Unterschied gemacht, ob wir die Gewalt tatsächlich sehen oder nicht. Natürlich bin ich froh darüber, dass wir dies nicht sehen mussten, denn Gewalt in jeglicher Form lehne ich ab.
Ich denke, dieser Ansatz hat sehr viel damit zu tun, was RED ROOMS eigentlich aussagen will. Bei True Crime geht es immer um den Killer oder den Verbrecher, seine oder ihre Taten und dann auch darum, wie blutig oder abscheulich diese waren. Die Betroffenen sind dabei nur eine Randnotiz, oder so kommt es mir manchmal vor.
Der Film beginnt aber mit den Folgen der Tat, und wir befassen uns mit den Angehörigen der Opfer, ihrem Leid, ihrer Ungewissheit und ihrer Trauer. Ich finde es sogar interessanter, darüber zu sprechen, wie man ein solches Verbrechen verarbeitet als Familienmitglied oder Freund oder ob das überhaupt geht. Dann zeigt der Film, wie eine Gemeinschaft und letztlich die Medien mit einer solchen Tat und ihren Folgen umgehen. Die Frage, wie über ein Verbrechen berichtet wird, finde ich ebenso interessant wie die Aspekte einer Tat, die dann schließlich bei der Berichterstattung im Vordergrund stehen.
Vor RED ROOMS habe ich sehr oft True-Crime-Podcasts gehört, meistens abends vor dem Schlafengehen. Die Geschichten von den eigentlich netten Menschen, die sich nach einer Weile als wahre Monster herausstellen, kenne ich deswegen zur Genüge. Nach einer Weile fand ich, dass man das eigentlich Monströse, die Gewalt und die Verbrechen bis zu einem gewissen Grad normalisierte und man als Zuhörer bis zu einem gewissen Grad desensibilisiert wurde. Besonders schade finde ich im Nachhinein, dass die Betroffenen wenig oder gar nicht erwähnt wurden. Als ich das verstanden hatte, habe ich aufgehört, True Crime zu konsumieren.
Bei Filmen oder Kriminalromanen ist es meist nicht viel anders. Bis zum Ende wartet man darauf, dass man nun endlich das eigentliche Verbrechen sehen kann, was schon irgendwie abartig ist. Man muss sich doch fragen, warum man das denn sehen will. Zur Unterhaltung etwa?
DEADLINE: Du hast einmal gesagt, dass deine Tätigkeit als Model dir dabei helfe, in andere Rollen zu schlüpfen. Trifft das auch im Falle von RED ROOMS zu?
JULIETTE GARIÉPY: Ich bin mir nicht sicher, ob ich so gut als Model bin. Dabei musst du den Mund halten und einfach nur gut aussehen, was ich einfach nicht kann. Besonders nicht den Mund halten. (lacht)
Für meine Rolle als Kelly-Anne in RED ROOMS hat mir das aber sehr geholfen, weil sie gut darin ist, nichts an sich heranzulassen. Sie schaltet all ihre Emotionen einfach aus, aber das geht dann auch weit über die Fotosessions hinaus und geht in ihr Leben außerhalb über. Kelly-Anne hat eine sehr neutrale Denkweise, was ihren Beruf angeht, sie sieht ihn wirklich nur als eine Arbeit und ist dabei sehr professionell. Ich glaube, das macht sie nicht wegen des Geldes oder wegen der Anerkennung, sondern weil sie sich sehen will in der Flut der Bilder, die das Internet seinen Nutzern bietet. Dafür hat sie alles andere in ihrem Leben ausgeblendet, hat weder Kontakt zu ihren Eltern noch irgendwelche Freunde.
DEADLINE: Kelly-Anne ist das Gegenteil vom transparenten Menschen der sozialen Medien, weil man als Zuschauer nichts über sie weiß und sie einen stets überrascht. Dadurch hinterlässt sie einen bleibenden Eindruck beim Zuschauer. Wie viel von diesem Effekt ist deiner Meinung nach abhängig davon, dass die für das Publikum eine Chiffre ist?
JULIETTE GARIÉPY: Ich denke, wir sind es gewohnt, über eine Figur gleich zu Beginn einer Geschichte alles zu wissen. Eine Exposition dient heutzutage dazu, dass keine Leerstellen mehr bleiben bei einer Figur, man also direkt über ihre Probleme und Ängste Bescheid weiß oder sie zumindest von bestimmten Verhaltensweisen ableiten kann. Das kommt dann der Küchenpsychologie sehr nahe, beispielsweise, wenn jemand in seiner Kindheit und Jugend sehr viele Videospiele gespielt hat und nun ein Faible für Gewalt hat. Dass dies nicht stimmt, weiß doch jeder.
Das ist bei einer Figur wie Kelly-Anne nicht der Fall. Sie hat keine Freunde und keinen Kontakt zu ihrer Familie. Sie verbringt Stunden im Darkweb, in ihrem kleinen, aber luxuriösen Apartment, das sie gegen Abend aber wieder verlässt, um die Nacht in einer Seitengasse in der Nähe des Gerichts zu verbringen, in dem der Prozess stattfindet. Sie scheint auch keinerlei Empathie zu haben, was jeden Zuschauer erst einmal vor den Kopf stößt. Wir verstehen aber nach einer Weile, dass sie so sein muss, wenn sie jene Prüfung bestehen will, die sie sich auferlegt hat. Auf mich wirkt es fast so, als wäre sie nur zur Welt gekommen, um diese eine Aufgabe zu erledigen und dann wieder zu verschwinden.
DEADLINE: Pascal Plante hat in einem Interview gesagt, er habe für RED ROOMS eigens ein, wie er es nennt, „musikalisches Mood-Board“ entwickelt. Was hatte es damit auf sich, und wie kam es beim Dreh zum Einsatz?
JULIETTE GARIÉPY: Beim Dreh selbst nicht, aber als ich mich auf die Rolle vorbereitete, schickte Pascal mir sehr viel Material. Neben Musik umfasste es Filme und Bücher, aber auch sehr viele Kunstwerke. Ich finde es spannend, einerseits zu sehen, wie sehr ihn die Thematik des Filmes und die Figuren beschäftigten und andererseits seine Vision für den Film zu verstehen. Je mehr ich in die Welt von RED ROOMS eintauchte, desto besser verstand ich diese und ging sogar dazu über, meine eigene Playlist für Kelly-Anne zu erstellen.
Musik ist generell sehr wichtig für mich, wenn es um die Stimmung einer Szene geht. Selbst wenn ich nur kurz die Kopfhörer aufhabe vorm Drehen einer Szene, bleibt etwas von dem Song, den ich gerade gehört habe, bei mir, zumindest für eine Weile. Dieses Echo überträgt sich auf die Szene, die dann auf dem Plan steht.
DEADLINE: Was waren denn für Songs auf deiner Playlist? Hast du dir spezielle Songs für bestimmte Szenen ausgesucht?
JULIETTE GARIÉPY: Das waren sehr unterschiedliche Songs. Es ging mir darum, so etwas wie eine Stimmung zu erzeugen oder eine solche zu unterstreichen. Gegen Ende von RED ROOMS gibt es eine Szene, in der Kelly-Anne sehr euphorisch ist, und dies wollte ich mittels der Musik noch hervorheben. Wenn ich so zurückdenke, waren es zum Beispiel Bands wie ALT-J oder Lana Del Rey, die auf dieser Playlist waren. Ich konnte so vor dem Dreh einer Szene alles ausblenden und mich auf eine Stimmung konzentrieren, anstatt etwas zu machen, was mich ablenkte. Es war fast wie eine Meditation.
DEADLINE: Wie war die Kollaboration mit Laurie Babin, die in RED ROOMS die Rolle der Clémentine spielt?
JULIETTE GARIÉPY: Wir haben uns hauptsächlich darüber unterhalten, was diese beiden Frauen an dem Verbrecher und seinen Taten so interessiert. Wir hatten sehr unterschiedliche Theorien zu diesem Thema, was ich sehr spannend fand. Laurie ist ganz anders als ich, auch ihre Rolle ist das Gegenteil von Kelly-Anne. Sie ist sehr organisiert und ruhig, während ich manchmal sehr chaotisch und wild sein kann.
DEADLINE: Du hast in Interviews davon gesprochen, dass es für eine Schauspielerin nicht viele solche Rollen wie die der Kelly-Anne in RED ROOMS gibt. Was würdest du dir als Schauspielerin von der Filmindustrie wünschen?
JULIETTE GARIÉPY: Ich finde die weiblichen Figuren in vielen Geschichten sehr einseitig und vorhersehbar. Da gibt es zum einen das Klischee der braven Hausfrau von nebenan und zum anderen das der bösen Verführerin, die den Helden von seinem Weg abbringt, zumindest zeitweise. Charaktere, männliche wie weibliche, können so viel komplexer sein, doch stattdessen gibt man sich zufrieden mit den immer gleichen langweiligen Stereotypen. Deswegen finde ich eine Figur wie Kelly-Anne erfrischend, weil sie nicht in diese Rollenbilder passt und auch Dinge tut, die nicht perfekt sind oder sie sogar unsympathisch machen.
Darüber hinaus finde ich viele der Frauenfiguren in Filmen unglaubwürdig. Dabei geht es nicht um die Rolle an sich, sondern eher um das Körperliche, wie sie sich bewegen oder wie sie reden. Das hat nichts damit zu tun, wie Frauen wirklich sind. Wenn ich eine Frau im Film sehe, die schon lange Zeit auf der Straße lebt, glaube ich einfach nicht, dass sie eine ordentliche Frisur hat oder auf eine bestimmte Art spricht. Wenn es doch darum gehen soll, dass man als Zuschauer etwas von seiner Realität im Film wiedererkennt, haben solche Figuren damit überhaupt nichts zu tun. Der Film soll doch mit uns etwas machen, uns etwas fühlen lassen, aber wenn man solche Figuren sieht, findet das bei mir leider nicht statt. In einer Filmindustrie, die nur auf Besucherzahlen und Ticketpreise schaut, ist das aber wahrscheinlich nicht möglich.
DEADLINE: Wäre das nicht ein interessantes Thema für eine Dokumentation? Ich habe gehört, dass du neben deiner Karriere als Model und Schauspielerin gerne einen Dokumentarfilm drehen würdest.
JULIETTE GARIÉPY: Das stimmt, doch im Moment arbeite ich an einem anderen, auch sehr spannenden Thema. Mich interessiert diese neue Art der Scammer, die im Internet ihr Unwesen treiben. Diese Menschen leiden an einer Art kognitiver Dissonanz, bei der sie sich einreden und daran glauben, dass sie ihren Mitmenschen einen Dienst erweisen, während sie diese in Wahrheit nur ausnehmen. Früher war es für die Betroffenen noch einfach, diese Betrüger zu erkennen, doch nun sind sie so gut geworden, dass das unmöglich geworden ist.
Diese Scammer sind gut gekleidet, gesund und sehen wohlhabend aus. Sie werben für Programme und Kurse, die einem ebenso schnellen Reichtum versprechen, und es gibt nicht wenige, die darauf reinfallen. Interessanterweise geht es dabei nicht immer um Reichtum, sondern bisweilen darum, Freunde zu haben oder Teil einer Gemeinschaft zu sein. In einer Zeit, in der sich so viele Menschen sehr einsam fühlen, machen diese Betrüger das große Geschäft.
Während der Dreharbeiten zu RED ROOMS habe ich sehr viel von Pascal gelernt. Einen Film zu machen, ist ein stressiger Job, der einem sehr viel abverlangt, aber davon ließ er sich nichts anmerken. Er nimmt sich viel Zeit, ist stets sehr höflich und sehr verbunden mit seinem Team. So sollte es immer sein. Er hatte RED ROOMS so geplant, dass wir während des Drehs Zeit hatten, Dinge auszuprobieren, eine Szene noch einmal zu drehen, bei anderem Licht oder aus einer anderen Kameraperspektive. Diese Weitsicht finde ich sehr bewundernswert.
DEADLINE: Danke für das tolle Gespräch.
Interview geführt von Rouven Linnarz