IM ZEUGENSTAND
Interview mit Regisseur und Hauptdarsteller Bernd Michael Lade
Ex-TATORT-Kommissar Bernd Michael Lade liefert mit DER ZEUGE einen bewegenden Film über Carl Schrade, der im Zweiten Weltkrieg mehrere Konzentrationslager überlebte. In einem ebenso exklusiven wie denkwürdigen Interview spricht Lade über seine Sicht auf den Nationalsozialismus. Zugleich merkt man dem Schauspieler und Filmemacher stark an, wie sehr ihn sein Leben in der ehemaligen DDR geprägt hat und ihn aktuell Kriegsangst umtreibt. DER ZEUGE startet am 03. März in den Kinos
DEADLINE: Wie bist du auf das Schicksal von Carl Schrade aufmerksam geworden?
Bernd Michael Lade: Als Kind habe ich in der DDR einen Pioniernachmittag besucht, und da gab es jemanden, der das Moorsoldatenlied gespielt hat. Darüber wollte ich dann immer einen Film machen. Ich hatte auch schon einen Plan, wie der aussehen sollte. Doch als schließlich NACKT UNTER WÖLFEN gedreht wurde, war die Idee, die ich hatte, geplatzt. Später wurde ich zu einer Lesung eingeladen, die von der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas veranstaltet wurde. Dort habe ich jemanden kennengelernt, der von Carl Schrade gerettet wurde, als er 15 Jahre alt war. Das fing an, mich total zu interessieren, und ich dachte, dem muss man ein Denkmal bauen. Denn das, was ich durch das Buch zu Carl Schrade erst so richtig gelernt habe, ist, wie genau so ein Konzentrationslager funktionierte. Eine echte Horrorvorstellung. Die habe ich mit DER ZEUGE nun verfilmt. Ich bin an sich ein sehr angstvoller Mensch, gerade auch, was gesellschaftliche Vorgänge angeht. Ich habe in meinem Film letztlich lauter Charaktere entwickelt, die um ihr Leben kämpfen.
DEADLINE: Das heißt, unabhängig von Carl Schrade hattest du schon immer die Intention, einen Film zum Zweiten Weltkrieg zu machen?
Lade: Immer. Der Film ist ein großer Schritt in meinem Leben. Ich habe an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch studiert. Ich habe an der „Konrad Wolf“ studiert. Insgesamt neun Jahre war ich an diesen Schulen. Und obwohl ich nach der Wende an der „Konrad Wolf“ war, hat man in allen Ecken noch den miefigen, stalinistischen Gestank bei den Regisseuren gespürt. Das war wirklich extrem. Zuvor an der Schauspielschule hatte man es etwas lockerer. Ich konnte da mit meinem Enzensberger, der eigentlich verboten war, herumrennen und meinen, dass ich ein Anarchist sei. Die haben mich trotzdem nicht exmatrikuliert. An jeder anderen Schule in der DDR wäre ich rausgeflogen. Ich habe das auch in meiner Stasiakte gelesen, wo der Philosophieprofessor explizit gesagt hat, ich sei nicht gefährlich, ich sei nur ein literarischer Anarchist. Und meine Band, das sei fortschrittliche Musik. Da habe ich wirklich gestaunt, was der Typ für einen Charakter hatte, denn andere haben einen oft einfach nur angeschissen. Ich will die DDR aber auf keinen Fall mit dem Nationalsozialismus vergleichen – das fand ich schon immer hinkend. Ich finde es auch problematisch, wer heute alles als Nazi beschimpft wird. Das ist schon ziemlich extrem.
DEADLINE: Weshalb hast du dich auf den Prozess und noch spezieller auf die Zeugenaussage von Carl Schrade fokussiert?
Lade: Das dröselt alles noch mal auf, was das für eine Maschinerie war. Viele Dinge sind auch aus dem Film herausgeschnitten. Die Urfassung dauerte 2,5 Stunden. Ich mache den Film insofern für die Aufklärung, und das ganz alleine. Natürlich helfen mir die Leute, die bei DER ZEUGE mitmachen. Aber ich habe ja kein Geld für den Film bekommen, sondern alles aus eigener Tasche bezahlt. Deshalb bin ich jetzt auch pleite, da ich alles selbst aus dem Boden gestampft habe. Gerade jetzt ist auch eine Zeit, wo jeder sehen muss, dass er sich auch als aufklärender Künstler behauptet. Ich will mit meinem Film zeigen: Leute, guckt mal: Das passiert nach dem Krieg! Nach dem Krieg wird abgerechnet. Da kommen Gerichte, und es wird unweigerlich abgerechnet, egal ob der Krieg morgen vorbei ist oder in zwei Jahren. Es wird kommen, und es wird immer schlimmer für diejenigen, je länger er dauert.
DEADLINE: Der Film ist nicht nur vom Schauplatz her sehr minimalistisch. Zusätzlich liegt bei den Darstellenden der Fokus vor allem auf Mimik und Sprache. Bewegung gibt es kaum. Was war die Intention dahinter?
Lade: Es geht ja um Leben und Tod. Da kann man sich nicht groß bewegen. Ich halte dies auch für eine interessante cineastische Frage. Denn wenn du kein Geld hast und dann so einen Film machen willst, musst du auch für alles eine Motivation haben, wofür du Geld hergibst. Es geht ja auch um die Objektive, mit denen man dreht. Wenn sich die Darsteller viel bewegen würden, wären sie ja sofort aus der Schärfe raus. Es ist auch sehr streitbar, was ich da gemacht habe. Ist das überhaupt ein Film oder „nur“ Theater? DER ZEUGE ist eher ein Kunstfilm, denn all meine Figuren sind auch ein Stück weit überhöht und nicht realistisch gespielt. Ich mag so ein Schauspiel mehr. Ich bin kein Fan von unterspanntem realistischen Spiel. Fritz Wepper meinte mal zu mir, ich sei ein Wächter der Schauspielkunst. Ich versuche immer einen Weg zu finden, um meine Vorstellungen zu realisieren. Ich möchte als Nächstes auch versuchen, eine kleine Schule zu gründen, um meine Technik den Schauspielern zu vermitteln. Das würde ich gerne tun. Da bin ich schon seit Jahren dran. Das wäre ein Traum für mich, so ein Seminar zu gründen.
DEADLINE: Wie würdest du deine Technik beschreiben?
Lade: Das weiß ich nicht genau. Auf jeden Fall authentizitär. (lacht) Man verwechselt ja immer authentisch und Authentizität. Authentizität zeigt der Schauspieler, der in der Szene agiert. Und bei Authentizität spielt alles mit rein, was da ist. Auch der Beleuchter, der dahinter steht. Es ist eine Situation, in der man eine andere Situation spielt und dreht. Die Dinge, die dann da sind, muss man berücksichtigen. Das andere ist burschikos authentisch. Der spielt dann nur so halb den Rechtsanwalt. Dazu passend gab es wohl auch mal eine Auseinandersetzung zwischen Manfred Krug und Armin Mueller-Stahl. Armin Mueller-Stahl ist ein ganz klassischer Schauspieler, Manfred Krug hingegen war eher ein Persönlichkeitsdarsteller. Das war einfach seine Haltung, viel seiner eigenen Persönlichkeit in sein Spiel hineinzulegen. Er meinte dann zu Mueller-Stahl: „Du immer mit deiner Schauspielerei. Ich bin Manfred Krug, und damit ist gut.“ Das fand ich nicht so gut, da hat mir die ernsthafte Seite von Armin Mueller-Stahl besser gefallen.
DEADLINE: Meine Interpretation in Sachen Minimalismus ging gar nicht so in die Kostenecke, sondern dahin, dass man durch den Minimalismus gar nicht anders kann, als sich auf die Zeugenaussagen einzulassen.
Lade: Das ist richtig. Ich bin sehr erfreut darüber, wie sie entstanden sind. Die Art zu drehen hat es nicht anders hergegeben, aber auch inhaltlich hätte es nicht anders sein können. Der Regisseur John Ford ist bei Premieren immer mit einer Augenklappe aufgetreten als Folge einer Kriegsverletzung. Über den gibt es eine Geschichte, dass ihn ein Kameramann mal gefragt hat: „Verdammt noch mal, was soll ich hier drehen?“ Da hat er dann gesagt: „Das Interessanteste, was es auf der Welt gibt: ein menschliches Gesicht.“ Das ist auch für mich das Leitbild für die Kammerspiele, die ich immer versuche zu machen. Das sind also nicht nur Kostengründe.
DEADLINE: Wie darf ich mir die Dreharbeiten zu DER ZEUGE vorstellen?
Lade: Ich schließe mich zwölf Tage mit den Leuten ein, und dabei kommt dann so ein Film heraus. Wenn man sich wirklich auf DER ZEUGE einlässt, ihn sieht und dann noch ein zweites Mal, dann merkt man erst, was ich da geschrieben habe. Ich habe sogar ein klein wenig Humor mit reingebracht, wenn einzelne Zeugen beginnen, darin zu wetteifern, wer nun der Gehorsamste von allen war. Ich finde es auch immer interessant, wie Menschen mit anderen Menschen umgehen. Ich habe in Pankow gelebt, und da bin ich jeden Tag an dem Carl-von-Ossietzky-Denkmal vorbei. Das war ein jüdisch-deutscher Schriftsteller, und den haben die Nazis im KZ immer so geschlagen. Wenn ich an so etwas denke, kommen mir die Tränen, und ich entwickle eine unglaubliche Wut auf Leute, die so etwas machen. Den lassen sie sich ins Büro holen und hauen den zu dritt zusammen. Ich bin in der DDR ja in der Armee gewesen und war als Punk verschrien, der Befehle eher nur widerwillig über sich ergehen ließ. Nach einer Schlägerei hatten sie mich zudem total auf dem Kieker. Eines Tages waren dann drei von den Offizieren so besoffen, die holten mich ins Zimmer, und auf dem Tisch sah ich dann einen Kamm sowie eine Schere, und sie wollten sich den Spaß machen, mir die Haare zu schneiden. In der Situation damals habe ich dann gesagt: „Der Erste, der auch nur einen Schritt auf mich zugeht …“ Das ist auch der Unterschied zwischen der DDR und den Nazis. Bei den Nationalsozialisten hätte ich mir das nicht erlauben können. In der DDR hatten sie hingegen Schiss, wirklich tätig zu werden und mir eine reinzuhauen.
DEADLINE: Gab es bei den Dreharbeiten viel Improvisation? Oder wurde vieles bereits im Drehbuch festgelegt – zum Beispiel, wie die Stimme jeweils einzusetzen ist?
Lade: Meine Drehbücher sehen immer ein wenig anders aus. Die Regieanweisungen sind ganz klein notiert, ansonsten schreibe ich nur Texte. Diese sind alle in Großbuchstaben und ohne Punkt und Komma, fast wie ein Vers, sodass der Schauspieler schon ein wenig den Rhythmus für den Stoff bekommt. Da macht mir die Arbeit mit den Kollegen viel Spaß, das alles so hinzukriegen, wie man es sich vorstellt. Deshalb kann man sich nicht wirklich Improvisation leisten. Das gibt es bei mir eigentlich nicht. Ich halte Improvisation nur für das Entstehen einer Szene für wichtig. Ansonsten wird Improvisation überschätzt. Interessant war, dass wir bei den Dreharbeiten nur an einem Tag wirklich alle Beteiligten da hatten, 30 oder 40 Leute. Ansonsten haben die sich alle gar nicht gesehen, natürlich zum Teil auch aufgrund von Corona, als der Film vor drei Jahren gedreht wurde. Es gibt ja auch diesen Western mit Marlon Brando und Jack Nicholson namens DUELL AM MISSOURI. Nicholson ist da ein Outlaw, der von Brando gejagt wird. Man sagt, dass die beiden sich am Set nie gesehen hätten, weil sie angeblich nicht miteinander spielen wollten, da sie zu großen schauspielerischen Respekt voreinander hatten. Da habe ich mir unter diesem Aspekt den Film noch mal angesehen und habe mir gedacht, dass das mit der Geschichte echt stimmen könnte. Die Einstellungen sind alle so, dass es sein könnte, dass sie sich wirklich nie gesehen haben. Das finde ich sowohl das Faszinierende als auch das Gefährliche an Filmen, wie manipulativ man da agieren kann.
DEADLINE: Gab es für DER ZEUGE je den Gedanken, diesen als TV-Produktion oder über einen Streaminganbieter zu realisieren?
Lade: Nein. Denn DER ZEUGE wirkt erst im Kino richtig. Für den Film kann die Leinwand gar nicht groß genug sein, da man dann ganz anders und viel tiefer in dem Film drin ist durch diese Großaufnahmen. Die Augen. Daran halte ich mich ja richtig fest.
DEADLINE: Wie siehst du allgemein das Streaming?
Lade: Was Netflix betrifft, finde ich, dass da für Deutschland die völlig falschen Leute arbeiten. Das scheinen die bei Netflix nicht zu merken. Sie scheinen zu denken, dass sie sich für Deutschland keine Mühe machen müssen. Das ist so ein wenig mein Eindruck. Ich will damit gar nicht diffamieren, denn ich habe da auch schon echt tolle Sachen gesehen. Wer einmal HELL ON WHEELS gesehen hat oder ORPHAN BLACK – einfach unfassbar. Da muss man schon fast keine Filme mehr machen, denn in solchen Formaten ist schon alles drin. Aber trotzdem: Streaming macht das Kino kaputt. In meiner Theorie ist Kino wie ein Theaterbesuch. In der Zukunft wird das nur noch ein Event sein. Dazu gibt es ein tolles Zitat von Heiner Müller: „Unser Hafen war ein totes Kino. Auf der Leinwand verfaulten die Stars in Konkurrenz. Im Kassenraum würgt Fritz Lang Boris Karloff. Der Südwind spielte mit alten Plakaten.“ Es kann schon sein, dass das Kino im Rahmen der ganzen Digitalisierung irgendwann so eine Situation erreicht. Es wird Probleme geben, die großen Räume zu heizen. Und wer weiß, ob jemand in ein paar Jahren abends überhaupt noch gerne auf die Straße geht oder das überhaupt noch kann. Denn wir wissen ja nicht, wie sich die Dinge in Zukunft entwickeln. Es sieht ja gerade alles nicht so rosig aus. Das ganze Kriegszeug hängt immer wie ein Damoklesschwert über uns.
DEADLINE: Vielen Dank für deine Zeit.
Interview geführt von Heiko Thiele
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