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Filmerlebnisse vom 54. Karlovy Vary International Film Festival

Zur Festivaleröffnung am Freitag, dem 28. Juli, wie immer großes Tamtam mit rotem Teppich, aufwendig choreografierter Zeremonie und anschließendem Konzert – diesmal des Tschechischen Sinfonieorchesters, das Songs der Beatles anlässlich von Danny Boyles YESTERDAY interpretiert. Karlovy Vary, zu Deutsch Karlsbad, ist proppenvoll, im ganzen Ort gibt es Happenings, und in hippen Clubs und klassischen Jazzbars wird bis zum Morgengrauen gefeiert. Nicht jeder ist wegen der Filme hier, was auch gut so ist, denn die elf Spielstätten mit je sechs Filmen täglich (also bis Festivalende rund 1.000 Vorführungen und 130.000 vergebene Kinosessel!) sind immer voll und Tickets heiß begehrt. Aus der gigantischen Filmauswahl aus aktuellen Filmen, die in verschiedensten Wettbewerben konkurrieren, Retrospektiven und nachzuholenden Klassikern stelle ich mir ein kleines Programm zusammen, mit DEADLINE-Genre-Fokus und dem Ziel, auch gerade kleine Perlen zu entdecken, die man außerhalb eines Festivals wohl kaum zu Gesicht bekommen würde.

 

Samstag, 29. Juni

 

NOVA LITUANIA (Karolis Kaupinis)

 

Langfilmdebüt des litauischen Regisseurs, in 4:3 und Schwarz-Weiß. Die Zeit scheinen die späten 30er zu sein, es bleibt aber vage. Es steht ein großer Krieg bevor, in dem Litauens Existenz bedroht wird: Das Land ist zu unbedeutend und spärlich besiedelt und muss zwangsläufig in deutsche oder russische Hände fallen. Geografielehrer Feliksas hat die zündende Idee: Litauen auf einer exotischen Insel fernab des Kriegsgetöses neu erschaffen. NOVA LITUANIA stellt mit seinem Protagonisten die These auf, dass freier Raum fremde Besetzung anzieht – das widerfährt sowohl Feliksas’ Heimatland als auch seiner Ehe, in der aufgrund seiner Unfruchtbarkeit seine Stelle zunehmend vakant wird. Ein grotesker Film, stilistisch klar und einfach, in der Story aufwendig konstruiert, mit hervorragendem Text. Lässt ob seines absurden Witzes, der aber voll von Wahrheit ist, unvermittelt laut auflachen.
****/5

 

MISS HANOI (Zdenek Viktora)

 

Zweiter Film des tschechischen Regisseurs. In der Tschechischen Republik, nahe der deutschen Grenze, existiert ein vietnamesischer Mikrokosmos. Anh, eine junge Polizistin mit vietnamesischen Wurzeln, hat vor Jahren ihre beste Freundin verloren. Der Fall wird wieder aufgerollt, als ihr damals noch minderjähriger Mörder, gerade aus dem Gefängnis entlassen, tot aufgefunden wird. Die Ermittlungen leitet der unkonventionelle Kommissar Kriz, der auf die ungleiche Anh angewiesen ist, um ins Milieu eintauchen zu können. MISS HANOI beginnt als Mysterythriller, als tschechischer DIE PURPURNEN FLÜSSE, verliert jedoch sofort an Reiz. Was auf dem Papier spannend klingt, ist vorhersehbar und klischeebeladen erzählt. Die Handkamera schafft keinen Realismus, sondern stellt die Unerfahrenheit des Filmemachers heraus. Der in seinem Heimatland geschätzte Schauspieler David Novotńy sorgt als Kriz für den einen oder anderen Lacher, bewegt sich jedoch unangenehm an der Grenze zum Rassisten. Gelungen sind die Einblicke in die vietnamesische Enklave.
**/5

 

IN FABRIC (Peter Strickland)

 

Der neueste Streich des Giallo-Liebhabers Strickland (BERBERIAN SOUND STUDIO, THE DUKE OF BURGUNDY). Ein rotes Kleid führt ein Eigenleben und bringt Unheil über dessen wechselnde Besitzer. Stilistisch ein Genuss: körniges Bild, satte Farben, Split-Screens, Zeitlupen, meisterlicher Schnitt, ein detailliertes Sounddesign und Megasoundtrack von CAVERN OF ANTI-MATTER (ich will JETZT die LP). Man hat tatsächlich das Gefühl, einen 70er-Giallo zu sehen – das ist gerade bei verschiedenen Indie-Regisseuren Mode, aber Strickland versteht das Genre am besten. Cattet/Forzani sind noch stärker, aber auch experimenteller, und damit ihre Filme dekonstruierter. IN FABRIC ist blutige Erotik, Fetische tropfen aus jedem Filmbild. Vor allem die erste halbe Stunde löst Begeisterungsstürme aus – danach schwächelt er leider inhaltlich und wird – ungewollt – fragmentarisch. Der Film hat einen hervorragenden sprachlichen Witz durch aufwendigen Text, stilsicher von den Mimen vorgetragen. Damit unterwandert er aber seinen seriösen Grundtenor und kann die anfängliche Dichte nicht halten. Trotzdem will man, dass dieser Filmrausch kein Ende nimmt. Audiovisuell vereinnahmend. Im weiteren Verlauf des Festivals habe ich die erfreuliche Gelegenheit, Regisseur Peter Strickland zu interviewen – das Niedergeschriebene seines kreativen Geists findet ihr anbei.
****/5

Regisseur Peter Strickland (IN FABRIC)
Regisseur Peter Strickland (IN FABRIC)

Bei der Pressekonferenz zum Film AFTER THE WEDDING mit Oscar-Preisträgerin Julianne Moore, ihrem Ehemann und Regisseur Bart Freundlich und Schauspieler Billy Crudup (WATCHMEN) nutze ich die Gelegenheit, mir von Moore meine LaserDisc von VERGESSENE WELT: JURASSIC PARK signieren zu lassen. Bestimmt ihr Lieblingsfilm! Im Festivalshop erstehe ich für gerade mal vier (!) Euro ein wunderschönes Buch, das zum 50-jährigen KVIFF-Jubiläum herausgegeben wurde. Illustriert mit zahlreichen Fotos ehemaliger Gäste wie Claudia Cardinale, Henry Fonda, Gregory Peck, Michael Douglas, Leonardo DiCaprio, Robert De Niro, Roman Polanski u. v. a., wird die turbulente Geschichte des größten osteuropäischen Festivals – zwischen West und Ost – erzählt – und auf einer Aufnahme mit Fanny Ardant und Franco Nero entdecke ich mich schemenhaft im Hintergrund. Quasi Geschichte.

Bart Freundlich, Julianne Moore und Billy Crudup

 

Sonntag, 30. Juni

 

OLD-TIMERS (Martin Dusek und Ondrej Provaznik)

 

Vlasta fliegt aus den USA in sein Heimatland Tschechien, um seinen Freund Tonda zu besuchen – beide sind schon jenseits des Rentnerdaseins, und Vlasta sitzt im Rollstuhl. Sie treffen sich jedoch nicht, um in den alten Zeiten zu schwelgen – ganz im Gegenteil: Sie wollen sich aufmachen und den brutalen Kommunisten Mraz, der sie in den 50ern ins Gefängnis werfen ließ, aufspüren und töten. OLD-TIMERS ist ein gemächlich und mit Bedacht erzähltes Roadmovie. Damit hält es sich an seine zwei gebrechlichen Hauptfiguren und lässt den Zuschauer ihre Anstrengungen und Langsamkeit nacherleben. Unweigerlich wird der Film auch zur Komödie, wenn man die körperlichen Unzulänglichkeiten der beiden beobachtet oder etwa die Art, wie die wenig gesprächigen Käuze miteinander kommunizieren. Der Kern ist jedoch ernst und weniger politisch als persönlich. Eine eindringliche Studie über den Umgang mit der Vergangenheit und psychisch nicht abgeschlossenen Ereignissen sowie dem Dualismus von Starrsinn und Beharrlichkeit.
****/5

 

IL CAMPIONE (Leonardo D‘Agostini)

 

WHEN SATURDAY COMES mit Sean Bean und Danny JUDGE DREDD Cannons GOAL gehören zu den wenigen guten Fußballfilmen. Selten sind Filmemacher auch große Fußballanhänger, und das merkt ein eingefleischter Fan sofort. Der Materie immanente Details werden ungenau dargestellt, die Szene nur oberflächlich betrachtet, und es krankt vor allem an den Spielszenen. Regisseur Leonardo D’Agostini geht mit seinem IL CAMPIONE den richtigen Weg, indem er sich auf einen Aspekt fokussiert: das Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler. Das aufstrebende Supertalent vom AS Rom, Christian Ferro, ist auf dem Platz der King, lässt aber Disziplin vermissen. Der Clubpräsident bindet zukünftige Einsätze an ein erfolgreiches Abitur. Dazu wird ihm Lehrer Valerio zur Seite gestellt, der vom Calcio gar nichts weiß und keinen Schimmer von seinem weltbekannten Schüler hat. Als Modell für Christian Ferro fungierte Mario Balotelli: Bling-Bling, schnelle Autos, PlayStation, leichte Mädchen und außer Fußball sonst nichts. Doch Valerio und Christian finden zueinander, Lehrer und Schüler erreichen eine gemeinsame Ebene: Während Christian früh seine Mutter verloren hat, lebt Valerio von seiner Frau getrennt, nachdem sie ihr gemeinsames Kind verloren haben. Der Austausch über Einsamkeit und Verlustängste lässt beide zueinander- und zu sich selbst finden. Im Stile von LA GRANDE BELLEZZA wird der Prunk von Christians Leben inszeniert, führt beim Zuschauer zu neidischem Staunen und gleichzeitig Gelächter ob der Absurdität des Alltags eines Jungmillionärs. Doch der Kern sind die ruhigen Momente, nicht plakativ gespielt von den Schauspielern Andrea Carpenzano und Stefano Accorsi. Und so wird IL CAMPIONE von einem unterhaltsamen Fußballfilm überzeugend zu einer Geschichte über – zugegebenermaßen – Männerfreundschaften und die Wichtigkeit des Festhaltens und des Glaubens an eigene Ziele. Egal, was um einen herum passiert.
****/5

 

KILLING (Shin‘ya Tsukamoto)

 

Der Japaner Shin‘ya Tsukamoto betritt gern gleichermaßen als Regisseur und Schauspieler die Filmbühne – so auch in seinem bekanntesten Werk TETSUO, einem Cyberpunkfilm über einen Mann, der sich in ein Metallmonster verwandelt. In seinem neusten Film KILLING spielt er einen alternden Samurai, der auf der Suche nach Mitstreitern ist, um für seinen Shōgun zu kämpfen. Er findet einen jungen Katana-Schwinger, der jedoch just krank wird und zunächst nicht mit ihm reisen kann. So wartet man gemeinsam auf die Genesung, denn dieser wünscht sich nichts mehr, als endlich ein richtiger Samurai zu sein und für das Gute (?) töten zu können. Als seine Siedlung von Landstreichern bedroht wird, kommt ihnen der Samurai zu Hilfe und tötet für sie die Eindringlinge – nur um damit das Blutbad zu beginnen und weitere Bedrohung anzuziehen. Der junge Krieger wird so erstmals tatsächlich mit den Schrecken des Kämpfens konfrontiert und will geschwind seinem Wunsch abschwören, was vom Samurai unter Androhung der Todesstrafe abgelehnt wird. KILLING ist mit einfachen Mitteln, intuitiver Kamera und nur grob klassischem Samurai-Setting inszeniert. Der Text der Figuren ist überraschend nah an unserer Zeit, was im Kontrast zur Handlung zu (gewollten?) Lachern führt. Außerdem sehen wir eine für das Genre ungewohnte Erotik und auch männliche Selbstbefriedigung. Man ist sich nicht immer sicher, ob die Einfachheit der Inszenierung Unzulänglichkeit ist, aus schmalem Budget folgt oder bewusste Fokussierung auf einen einzigen, wichtigen Aspekt ist. Da der Regisseur Tsukamoto heißt, tendiere ich zu Letzterem, und in jedem Fall ist es ihm eindrucksvoll gelungen, den Terror des Tötens und die Entwicklung zur Abkehr von jenem darzustellen. Eine im Kleinen angelegte Studie über die Unsinnigkeit von Gewalt als Lösungsmittel. Sollte man jedem jungen angehenden Soldaten mal zeigen.
****/5

 

Montag, 1. Juli

 

THE MIRACLE OF THE SARGASSO SEA (Syllas Tzoumerkas)

 

Regisseur Tzoumerkas schwimmt auf der Welle des neuen griechischen Kino-Surrealismus, deren bester Surfer Yorgos Lanthimos ist, driftet aber in trübere Gewässer, die noch schwerer zu durchschauen sind. In THE MIRACLE OF THE SARGASSO SEA verschlägt es die strikte und rigorose griechische Hautkommissarin Elisabeth, die rabiat gegen junge Staatsfeinde vorgeht, auf eine Stelle in einem Kaff in einer Seenlandschaft. Einerseits faszinierende, andererseits unwirtliche und zivilisationsfeindliche Natur. Dies wirkt auf die Bewohner, die alle in ein Netz aus Intrigen, Drogen, Erotik und vor allem Feindseligkeit verstrickt sind. Elisabeth sollte Recht und Ordnung in diese undurchschaubare Gesellschaft bringen, trägt jedoch selbst genug Widersprüche in sich, um sich stattdessen in das Verquere einzugliedern. Lanthimos, Noé, Tzoumerkas? Zunächst glauben wir, einem recht konventionellen Drama zu folgen, haben dann Zweifel an der Qualität des Films, bis wir verstehen, dass die Dekonstruktion Programm ist und etwas Neues, Eigenes schafft, das uns mehr bereichern kann als das konventionelle Kino. Tzoumerkas verzichtet noch mehr als seine zuvor genannten prominenteren Regiekollegen auf Verständlichkeit. Menschliche Beziehungen bleiben unergründbar, sein Film mahnt zum Ablassen vom Erzählen prosaischer Geschichten. Der Wunsch nach Befriedigung und eine Erwartungshaltung sind hier fehl am Platz. Und doch gibt es Genuss, wenn man sich vom Film treiben lässt, nicht am Text festhält. Hauptdarstellerin Angeliki Papoulia spielte mehrfach auch für Lanthimos, und unser Blick haftet an ihr. Wir hassen sie. Wir lieben sie. Sie ist anziehend und abstoßend, Gefühlsausbrüche und Gleichgültigkeit bleiben für uns gleichermaßen unverständlich, und doch empfinden wir eine Art Mitgefühl für ihr wirres Wesen. Dennoch ist sie kein Spielball. Plötzlich kann auch sie zur Macherin werden. Wie auch seine Protagonistin ist der Film voll von neugierig machenden Widersprüchen. Wunderschöne Naturaufnahmen wechseln sich mit rohem Sex und Gewalt ab. Eine detailliert ausgetüftelte Spirale des Unsinns. Eine Studie der menschlichen Reaktion.
****/5

Sexier als der Oscar
Sexier als der Oscar

THE PROJECTIONIST (Yuriy Shilov)

 

Über vier Jahre gedrehte Dokumentation über Kiews ältestes Kino. Der junge Regisseur Shilov interessiert sich jedoch mehr als für die Spielstätte für die Arbeit und das Privatleben des Filmvorführers Valentin, der hier seit 44 Jahren arbeitet. Heute kommen Menschen weniger zum Filmeschauen als vielmehr, um eine kleine Filmrolle zu ergattern – in einem der Gebäude sitzt eine kleine Castingagentur. Gemeinsam mit seinem Kollegen ist das Zeigen analoger Filme für Valentin schon lange Routine, dem ausbleibenden Publikum steht er machtlos und (vielleicht) entsprechend fast gleichgültig gegenüber. Seine ganze Kraft fordert die Pflege seiner kranken Mutter, die in seiner kleinen und einfachen Wohnung mehr liegt als lebt und auf ihn angewiesen ist. THE PROJECTIONIST gewann auf dem letztjährigen KVIFF den Preis als „work in progress“-Doku-Projekt und dokumentiert sehr zurückhaltend. Man muss schon genau hinsehen, um die Aktionen und Gefühlsregungen der Figuren beobachten zu können. Ist man jedoch zu dieser Konzentration bereit, erlebt man einen unserem Wohlstand fernen Alltag in einem aussterbenden Kino – und damit (leider) einen Vorboten des Schicksals der Filmtempel bei uns.
****/5

 

GHOST TOWN ANTHOLOGY (Denis Côté)

 

Eine dünn besiedelte kanadische Kleinstadt, eiskalter Winter, karge Umgebung. Ein junger Mann verstirbt bei einem Autounfall. Ein unkommentierter Beigeschmack bleibt, wie es dazu kam. Danach kämpfen seine Eltern und vor allem sein Bruder mit dem Umgang mit dem Verlust. In der Folge erscheinen ihm und auch anderen Einwohnern Tote. Doch nicht in gewohnter Weise als erschreckende Geister oder Zombies, die nur schwer greifbar sind. Nein, sie stehen still und ruhig. In der Natur und in den Häusern, die sie früher bewohnt haben. Sie sprechen nicht, doch ihr Blick hat etwas Anklagendes. Sie scheinen etwas einzufordern – doch was? Regisseur Denis Côté filmte auf 16 mm, extra körnig, wenige, aber kalte Farbkorrektur. Er spielt mit klassischen Genreregeln, aber sein Film wird nie diesen hörig. Er ist naturalistisch, allein das beunruhigende Sounddesign vermag Horror zu erzeugen. Vereinzelt gibt es Schockmomente, aber ohne Voyeurismus. Das Fantastische hält sich zurück, nur eine Szene sticht diesbezüglich hervor, die damit gleichzeitig zum stärksten Moment wird. Wie auch die Einwohner des Ortes akzeptieren wir die Untoten, die in ihr vorheriges Leben zurückkehren, doch sie bereiten uns Unbehagen. Sind sie wissender, stärker als wir? Man bekommt kaum Antworten, doch allein die Fragen, die man sich stellt, schaffen eine Bewusstseinserweiterung. Côté unterstreicht im anschließenden Publikumsgespräch die Absicht, seinen Film als magisch-realistische Parabel auf Migration inszeniert zu haben. Doch auch wenn man ihn existenzialistischer oder doch als Genrebeitrag sieht, funktioniert er gleichermaßen. Ein in seiner Offenheit wahnsinnig präziser Film mit taktiler Bildsprache, wie man sie im digitalen Gemisch so oft vermisst. Ein in seiner Rauheit makelloser Film. Côté hat bereits eine umfangreiche Filmografie vorzuweisen, die man unbedingt studieren und in Zukunft genauer verfolgen sollte.
*****/5

Leo und Regisseur Denis Côté (GHOST TOWN ANTHOLOGY)
Leo und Regisseur Denis Côté (GHOST TOWN ANTHOLOGY)

Dienstag, 2. Juli

 

HALF-SISTER (Damjan Kozole)

 

Zwei ungleiche Halbschwestern finden durch die Unwegsamkeiten des Lebens schlussendlich doch zueinander. So klischeebeladen, wie sich diese Synopsis liest, ist leider auch der Film. Und dies stößt umso negativer auf, weil er doch offensichtlich eben keine seichte Komödie (dann wäre es dem Regisseur zu verzeihen), sondern ein unbequemes Drama sein will. Und das ist er zu keinem Zeitpunkt. Die Figuren, vor allem eine der Schwestern, sollen unkonventionell wirken, aber in ihrem ruppigen Gehabe und ihrer künstlich aggressiven Sprache wirken sie zu keinem Zeitpunkt glaubhaft. Eine runde Figur muss natürlich nicht den Erwartungen des Zuschauers entsprechen – ganz im Gegenteil –, aber sie sollte Interesse für ihre Person erzeugen und in sich funktionieren. Die Halbschwestern wirken wie plakative Pappaufsteller, die beim Zuschauer überraschende Lacher provozieren sollen, aber beim regelmäßigen Kinogänger nur Fassungslosigkeit ob so viel unberechtigter Selbstüberschätzung seitens der Filmemacher zurücklassen.
*/5

 

SPIDER-MAN: FAR FROM HOME (Jon Watts)

 

Tom Hollands jugendlichen Spider-Man verschlägt es auf einem Highschool-Trip nach Europa. Prag, Berlin und London sind die Reiseziele. Natürlich kommt ihm und seinem geplanten Liebesgeständnis gegenüber Mary Jane etwas dazwischen: Gigantische Elementarwesen, die sich aus unserer Natur speisen, verwüsten die Metropolen der alten Welt. Als letzter verbleibender Avenger ist Spidey gefordert, doch ein gewisser Mysterio stiehlt ihm die Show und wird so zum Helden anstelle des Spinnenmanns. Marvel-Kenner wissen, in welche Richtung sich der Plot entwickelt, und diese Vorhersehbarkeit ist sowieso ja das große Problem aller aktuellen Comicverfilmungen. Regisseur Jon Watts machte vor ein paar Jahren den tollen und positiv üblen CLOWN. Große Freude, dass ein so talentierter und noch weitestgehend unbekannter Regisseur sich zukünftig um Spidey kümmern sollte. Doch Jon Watts‘ Interpretation ist sogar weniger düster und ernst als etwa die gesponnenen Filme mit Andrew Garfield und spricht ein noch jüngeres Publikum mit seiner Farbgestaltung und seinem Humor an. Damit orientiert er sich durchaus an der Form einiger Comics, scheint aber nur wenig von seinem persönlichen, potenziell bereichernden Genre-Hintergrund einbringen zu können. FAR FROM HOME macht Spaß, die Szenen mit Mysterio sind das Highlight, die dem Film für Momente gar eine zweite Ebene geben, doch nach gut zwei Stunden Spielzeit wird man den Film sofort wieder vergessen. Teilweise erschreckend schwache digitale Effekte.
**/5

 

Mittwoch, 3. Juli

 

DER VERRÄTER (Marco Bellocchio)

 

Der italienische Regieveteran Bellocchio dokumentiert in seinem Spielfilm das Leben von Tommaso Buscetta, einstiger Mafiaboss zweier verschiedener Clans, der als Erster gegen seine eigene kriminelle Organisation vor Gericht umfassend aussagte und damit zum gejagten Verräter wurde. In seiner aufwendigen Inszenierung schafft es der Film leider nicht, die stillen Momente intensiv nacherleben werden zu lassen, und geht damit nur selten unter seine Oberfläche. Dies mag auch an der Wahl von Pierfrancesco Favino für die Hauptrolle liegen, der zwar physisch präsent ist, aber über kaum spielerisches Repertoire für einfühlsame Momente verfügt. DER VERRÄTER deckt einen Zeitraum von über 40 Jahren ab, und gerade hier ist Favino sowohl äußerlich als auch vor allem im Wandel seines Charakters über die Zeit zu keinem Zeitpunkt glaubhaft. Er wirkt überfordert. Somit ist der Film eine relevante Chronologie der viel Aufmerksamkeit erregenden Ereignisse und Ermittlungen, aber als Spielfilm kaum berührend – das ist allein Nicola Piovanis Musik.
**/5

 

EHEMÄNNER (John Cassavetes, 1970)

 

Festivalzeit lässt auch Klassiker nachholen. Ben Gazzara, Peter Falk und John Cassavetes spielen ein eingeschworenes Trio von Freunden, das gerade den vierten im Boot an den Tod verloren hat. Direkt nach seiner Beerdigung ziehen sie Tag und Nacht ohne Schlaf um die Häuser und verlieren sich (vermeintlich) in Alkohol und (scheinbar) existenzialistischen Gesprächen. Wie verändert der Tod eines engen Freundes den eigenen Sinn des Lebens? Wie macht das Wissen um Sterblichkeit konventionelles Verhalten unsinnig? Legendär ist die 40-minütige Szene, in der die drei sich mit anderen an einer langen Tafel betrinken. Man scheint hier den Privatleuten Gazzara/Falk/Cassavetes beim Zechen beizuwohnen, so gekonnt ist ihre Improvisation zwischen Doku und Fiktion. Dabei sind sie nur selten liebenswert – mitnichten –, aber immer auf einer höheren Stufe der Genialität. EHEMÄNNER altert nie, noch viele Generationen werden sich in Rausch und Gedanken – und Schicksal – der drei wiederfinden.

 

DER LEICHENVERBRENNER (Juraj Herz, 1969)

 

Juraj Herz‘ poetischster und zugleich bedrückendster Film wurde nun endlich meisterlich restauriert und wird bald auch die Heimkinos füllen können. Vorwehen des 2. Weltkriegs: Wir verfolgen Herrn Kopfrkingl (beeindruckend: Rudolf Hrusínsky), der uns in poetischer Sprache an seinem Leben teilhaben lässt. Er leitet ein Krematorium, das sich wie ein tibetanischer Tempel auf einem Friedhof erhebt. Wenn das Fleisch zu Asche wird, erreicht der Mensch für ihn himmlische Sphären, driftet in eine neue Welt, fernab unserer schwachen Zivilisation. Entsprechend aufgeschlossen ist Kopfrkingl für die Pläne der Nazis, Menschen in großem Stil zu Staub werden zu lassen – Perfektion en masse. Dass diese Reinigung auch seine halbjüdische Frau und seine Kinder betreffen wird, ist für ihn selbstverständlich. Sie gelangen ja zu etwas Höherem. Als Zuschauer ist man vom charismatischen Protagonisten eingenommen, lacht über seine Ironie des Lebens, bewundert seine Überzeugung vom Spirituellen und ist unangenehm wenig erschrocken über seine Liebe zum Töten. Das liegt auch an den kunstvollen Schwarz-Weiß-Bildkompositionen, die uns mehr ein Gedicht als Film als eine Dokumentation über die Lust am Töten sehen lassen. Ein Abgesang auf das Leben mit magischen Collagen, selbstverständlicher Erotik und pointiertem Witz, der einem aber das Lachen im Halse stecken bleiben lässt. Das wahnsinnig Faszinierende an Großmeister Herz’ LEICHENVERBRENNER ist, dass der Zuschauer zunehmend zweifelt, ob das systematische Töten und endgültige Beseitigen des mit Makeln behafteten menschlichen Fleisches nicht gar erstrebenswert ist. Genial erschreckend. Ein zeitloses Meisterwerk.
*****/5

 

Es ist unmöglich, nicht auch die Aura der Spielstätten auf das Filmerlebnis wirken zu lassen. Besonders hervorzuheben ist natürlich der gigantische und dabei dennoch sehr stilvolle große Saal im Hotel Thermal, dem Kino für die vermeintlich wichtigsten Filme des KVIFF. Theatralischen Charme versprühen das technisch auf höchstem Niveau improvisierte Kino im Ballsaal des Grandhotel Pupp, Bonds CASINO ROYALE und das alte Theater als Filmpalast, in dem von obersten Rängen und Kabinen, gesäumt von feinstem Stuck, Filme zu Opern werden. Alternativ-studentisch geht es im CAS zu. Ein eher kleinerer Saal, dafür mit viel Beinfreiheit und Klapptischen, die mit leckerstem Bier und Snacks aus der integrierten Filmbar gefüllt werden, zu super Preisen.

 

Auch dieses Jahr ist ein Großteil des Publikums jung, zeltet oder kommt im zentralen Hostel unter. Mit einer günstigen Tageskarte ist man berechtigt, frei gebliebene Kinoplätze zu besetzen, wenn man sich früh genug anstellt. Das ermöglicht gerade jungen und auch weniger finanzkräftigen Zuschauern, ein Festival voll zu erleben, und schafft nahezu immer volle Säle.

 

Das Festival geht noch bis zum Ende der Woche, doch ich muss mich nun wieder in eine Realität begeben, die leider nicht nur aus Filmen besteht – schnell verschmilzt man hier in Karlovy Vary mit der siebenten Kunst, die einem hier intensivst vor Augen führt, warum man sie so viel mehr als alles andere liebt und ihr hoffnungslos verfallen ist. Eigentlich bin ich gedanklich auch schon wieder beim nächsten KVIFF – dem 55. Schnapszahl. Darauf und auf meine zwei diesjährigen Highlights, GHOST TOWN ANTHOLOGY und DER LEICHENVERBRENNER, einen Becherovka. (Leonhard Elias Lemke)

 

Auch das Eröffnungsfeuer konnte sich sehen lassen