Eine Woche lang stand Frankfurt ganz im Zeichen des japanischen Kinos. Über einhundert Filme wurden auf der Nippon Connection gezeigt, mehr als siebzig Gäste präsentierten ihre Werke und standen den Besuchern Rede und Antwort. Es war das zweite Mal, dass die Nippon Connection im neuen Festivalzentrum stattfand. Keine fünf Minuten auseinander liegen Naxoshalle und Mousonturm mit zwei Kinosälen, Veranstaltungsräumen und mehreren Gastronomiebereichen, in denen japanische Speisen und Getränke angeboten wurden. Im Deutschen Filmmuseum war zudem eine Retrospektive mit Filmen von Nuberu-Bagu-Vorreiter Ko Nakahira (CRAZED FRUIT) zu sehen. Mit der hervorragenden Filmauswahl bot das Festival bereits zum 14. Mal außergewöhnliche Einblicke in das gegenwärtige Kino Japans: Genrefilme und Arthousekino, leichte Komödien und tiefsinnige Dramen sowie Beiträge aus den Bereichen des Animations- und Dokumentarfilms. Doch nicht nur um die Filme selbst ging es bei der Nippon Connection, sondern auch um die japanische Kultur und Gesellschaft. Das Programm war vielfältig, mit Teezeremonie und Sake-Tasting, einer Festivalparty mit DJ Hito, Livekonzerten und Speed Lectures über die gegenwärtige Lage in Fukushima, dazu zahlreiche Q&A’s und Filmemachergespräche, Fachvorträge und Workshops.
Pink-Film und Anime: ein Filmland verändert sich
Dr. Alexander Zahlten, lange Jahre selbst Teil des Festivalteams und heute Assistant Professor an der Harvard University, widmete sich in seinem Vortrag den Umbrüchen der japanischen Filmindustrie seit den frühen 1960er-Jahren. „Schon 1959 weist uns Yasujiro Ozus GOOD MORNING auf etwas hin – nämlich, dass das Fernsehen immer bedeutsamer wird“, sagte er. Ein wirtschaftlicher Aufschwung folgte, das Fernsehen verbreitete sich rasant. Zugleich ging die Zahl der Kinobesuche zurück. „Das TV brachte Filme ins Wohnzimmer“ – manche Dinge waren dort aber nicht möglich. Einmal war das Technik wie das Widescreenformat der Leinwände. Zum anderen waren es besondere Themen, die sich das Kino zu eigen machte: Sex und Gewalt. Der Pink-Film boomte. Bis zu 80 Prozent der jährlichen Filmproduktion gehörten dem Genre an, obwohl Independentproduktionen, also unabhängig von den großen Studios produzierte Filme, wenige Jahre zuvor einen kaum nennenswerten Anteil am japanischen Filmmarkt hatten. Die Produktion musste schnell gehen, meist dauerte der Dreh von Pink-Filmen nur wenige Tage. Für die Filmemacher gab es dabei nur wenige Auflagen – ein Budget von drei Millionen Yen musste genügen, der Film sollte 60 Minuten lang sein und mehrere Nacktszenen enthalten. Zugleich sparten die großen Studios – auch am Nachwuchs. „Eine ganze Generation von Filmemachern wurde im Pink-Film ausgebildet“, sagte Zahlten. „Die ambitionierten Regisseure nutzten die geringen Auflagen, um etwa politische Filme zu drehen.“ Einige Zeit später eroberte dafür ein anderes Format den heimischen Bildschirm: der Anime. Ziel war es, Manga-Charaktere als animierte TV-Serie zu produzieren. Einen ersten großen Erfolg konnte Serienfigur ASTRO BOY verbuchen. Gegenüber den ambitionierten und oftmals an Disney orientierten frühen japanischen Animationsfilmen trat hierbei aber eine wichtige Veränderung auf. „Die Produktion war für die TV-Stationen zu teuer“, erzählte der Filmwissenschaftler, „also mussten andere Wege gefunden werden.“ Zum einen wurde die Bewegung der Figuren reduziert, um den Arbeitsaufwand zu verringern – häufig bewegen sich bloß die Lippen, der übrige Körper bleibt starr. Ein Videoeinspieler zeigte eine Figur im freien Fall – bewegungslos, bloß der laufende Hintergrund lässt die stete Abwärtsbewegung erahnen. Zum anderen entstand ein neues Finanzierungsmodell, das bis heute auch weit über die Grenzen des Animes hinaus relevant ist: das crossmediale Marketing. Nicht nur über die TV-Schirme flimmerten die Animehelden, sie wurden auch zu Mangastars und Actionfiguren und zierten zahlreiche Güter des täglichen Bedarfs. Zahlten: „Wo der Pink-Film sehr spezifisch ist, sein Publikum fragmentiert und oft politisch ist, ist der Anime konsumorientiert, unpolitisch und schafft weitreichende Verknüpfungen.“
Das Erbe von Fukushima im Film
Die Filme im Festivalprogramm machten eines deutlich: Das Trauma von Fukushima und die Folgen des Tsunamis sind auch Themen im japanischen Gegenwartskino. In der lethargischen Slacker-Komödie AND THE MUDSHIP SAILS AWAY ist es eine unauffällige Nebenfigur, die Taschentücher zugunsten der Opfer verkauft; die ruhig erzählte Sommerkomödie AU RÉVOIR L’ÉTÉ stellt einen Jungen ins Zentrum, der wegen der Katastrophe aus Fukushima flüchtete und zu seinem Onkel zog, der in einer kleinen Stadt ein Love Hotel betreibt. FUKUSHIMA spinnt um die Geschichte und das Schicksal des Atommeilers eine bewegende Familiengeschichte. Auch dokumentarisch wurde das Thema verarbeitet: So widmet sich THE HORSES OF FUKUSHIMA den Pferden in Minamisoma, das innerhalb des 20-Kilometer-Kreises liegt und das traditionell ein Fest zu Ehren der Pferde abhielt. Durch die Katastrophe wurden auch sie verstrahlt. Bereits den dritten Teil seiner Dokumentarfilmreihe KESENNUMA, VOICES über die Menschen der vom Tsunami betroffenen Küstenregion präsentierte Yukihiko Tsutsumi.
Die Architektur der Obdachlosen
Tsutsumi, der besonders durch seine Blockbuster wie 20TH CENTURY BOYS und Thriller wie 2LDK bekannt wurde, präsentierte in Frankfurt noch einen weiteren Film: MY HOUSE. Mit dem existenziellen Drama ergründet er das Leben einer Gruppe Obdachloser in seiner Heimatstadt Nagoya und liefert dabei beeindruckende Einblicke in ihren strukturierten Lebensalltag. Besonders hervor sticht dabei ihr Wohnhaus: Minutenlang ist zu beobachten, wie aus Kisten, Brettern, Matten und Folien ein Verschlag entsteht, der durch seine exakte Planung und routinierte Umsetzung einen erstaunlichen Wohnraum aus dem Nichts erschafft. Auf die Architektur der Obdachlosen sei er durch ein einfühlsames Essay in einer Architekturzeitschrift gestoßen, erzählte Tsutsumi beim Filmemachergespräch am Abend. Das weckte sein Interesse, er suchte den Obdachlosen auf, der für seine Hauptfigur Pate stand, und unterhielt sich mit ihm über sein Leben. Daraus entstand schließlich MY HOUSE und für Tsutsumi ein neuer Weg abseits seiner bekannten Pfade. Fast 40 Filme drehte er in seiner Karriere, dazu TV-Shows und Musikvideos. Trotzdem dachte er sich: „Würde ich jetzt sterben, könnte ich nicht zufrieden sterben.“ Das nahm er zum Anlass, persönliche Themen zu suchen und auf der Leinwand zu realisieren. „MY HOUSE ist der Auftakt dazu.“
Vier Preise und eine lobende Erwähnung
Mit Hirokazu Koreedas (NOBODY KNOWS) neuem Film LIKE FATHER, LIKE SON schloss die diesjährige Nippon Connection. Davor wurden die Gewinner der vier Wettbewerbe bekannt gegeben: Der Nippon Cinema Award ging an Azuma Morisaki für seinen Film PECOROSS‘ MOTHER AND HER DAYS, mit dem Nippon Visions Audience Award wurde TALE OF A BUTCHER SHOP von Aya Hanabusa ausgezeichnet. Die Jury wählte Natsuka Kusano mit ihrem Debütfilm ANTONYM zur Gewinnerin des Nippon Visions Jury Awards, eine lobende Erwähnung erhielt Mikihiro Endo für FRIENDSHIP. Für ihren Zwölf-Sekunden-Kurzfilm ONIGIRI NO ORIGAMI wurden Christine Mai und David Clausmeier mit dem VGF Nippon in Motion Award ausgezeichnet.
Zum Abschluss gab Festivalleiterin Marion Klomfaß bereits das Datum für die nächste Nippon Connection bekannt: 2015 feiert das Festival seine 15. Ausgabe vom 2. bis zum 7. Juni.