Er ist wieder da: Jörg Buttgereit orchestriert mit seiner Theaterproduktion IM STUDIO HÖRT DICH NIEMAND SCHREIEN im Dortmunder Schauspielhaus eine neue Symphonie des Grauens. Genauer gesagt eine Tonspur für den neuen italienischen Slasherfilm DIE BLUTBRAUT DER BESTIE MIT DEN SCHWARZEN HANDSCHUHEN von Dario Winestone (Ekkehard Freye mit sensationeller Argento Perücke und perfekt manischem Gestus) aus dem Jahr 1976. Im Tonstudio der renommierten Produktionsfirma Giallo Internationale erscheint der deutsche Sounddesigner Maximilian Schall (der unfassbar wandelbare Uwe Rohbeck gibt schon zum fünften Mal für Buttgereit erfolgreich Vollgas), der in letzter Sekunde einen mysteriös verschwundenen italienischen Tonmann ersetzen soll. Doch nicht nur die Arbeit an dem harten Filmstoff macht dem sanftmütigen und auf Naturfilme spezialisierten Tonexperten bald zu schaffen. Auch die Arbeitsweise in dem italienischen Familien-Filmbetrieb eröffnet ihm und dem Zuschauer einen tiefen Einblick hinter die Psyche und Mechanismen des kommerziell produzierten Euro-Leinwand-Terrors der 70er Jahre.
IM STUDIO HÖRT DICH NICH NIEMAND SCHREIEN ist Liebeserklärung, Dekonstruktion, Bloßstellung, Hommage, Entlarvung und Heiligsprechung einer Zeit, eines Genres und einer Art der Filmproduktion wie es sie nicht mehr gibt. Buttgereit und seinen Mittätern ist hier der bisher größte Wurf seiner Kinokultur-Reihe im Theater gelungen. Äußerst lose basierend auf Peter Stricklands BERBERIAN SOUND STUDIO schnappt sich der Berliner Bühnen-Beelzebub das Setting, um damit eine ganz eigene Abrechnung mit dem einst so vielgescholtenen Giallo Genre und den Exploitationfilmern dieser Zeit einzufordern. „Ich mochte diese Filme damals als ich meine Filme machte eigentlich gar nicht“, erklärt der Regisseur. „Ich war so auf dreckigen Realismus aus und dett war mir alles zu künstlich.“ In der Vorproduktion zum Theaterstück kam es aber zur Läuterung: „Ich konnte mir die Filme jetzt ja endlich nochmal in Ruhe und vor allem ungeschnitten und in toller Qualität anschauen und mich damit auseinandersetzen. Und heute finde ich die gut“, schmunzelt der Berliner keck. Anscheinend selbst berauscht von der neu entdeckten Liebe strotzt sein Stück nur so vor intensivem Detailreichtum und herrlichem Selbstzweifel ob der subversiven Kunstform, die gerade Sexualität und Gewalt so grandios obszön vermischt.
Diese Detailverliebtheit fängt schon bei der penibel recherchierten Ausstattung von Susanne Priebs an, die die Studiobühne in ein echtes 70er Jahre Tonstudio verwandelt. Selbst das tatsächlich aus der Zeit stammende Ton-Equipment auf der Bühne musste aus Kellerarchiven zusammengetragen und restauriert. „Wir wollten diesmal wirklich, dass alles echt ist“, sagt Priebs nicht ohne Stolz. „Für die italienische Garderobe unserer Damen haben wir diesmal sogar alles anfertigen lassen, weil es so etwas einfach nicht mehr gibt.“ Buttgereit fügt so dicht an dicht alles Bekannte aus Dario Argentos filmischen und privatem Universum zusammen, um daraus eine ganz eigene Phantasmorgie seines Delirium Italiano zu kreieren. Zu Morricone und Goblin verschraubt der Berliner Argentos Tier-Trilogie und Hexenreigen zu einer herrlich absurden Nerd-Kollage im Tonstudio. Der besessene wie abseitige Giallo-Pate Dario (Freye rockte schon in BESESSEN und dreht hier seinen Verstärker nochmals auf 11), seine moralisch flexible Filmdiva und Ehefrau Janet Lee Curtis (Caroline Hanke scheint direkt aus PROFONDO ROSSO gesprungen zu sein) sowie zwei vom schrägen Film-Übervater genervte Kinder (Alexandra Sinelnikova & Christian Freund) und die sexuell ausgebeutete Produktionsassistentin Eva Leone (Marlena Keil) runden den Reigen des Irrsinns um Maximilian Schalls Vertonungsarbeit in Italien ab.
Das gesamte Ensemble geht dabei so unfassbar gut in ihren jeweiligen Rollen auf, dass es einem dem Atem verschlagen möchte. In der Mittagspause spachteln hier anscheinend wirklich Dario Argento, Daria Nicolodi, Asia Argento (Alexandra Sinelnikova ist so dauerhaft herrlich süffisant angenervt von allem) und der junge Luigi Cozzi ihre Spaghettis weg, um sich parallel – ganz Bella Italia – gegenseitig die Egos unter die Nase zu reiben.
Fast wünscht sich der Zuschauer ein drittes Auge, um während der intensiven Vertonungs-Sessions alles im Blick halten zu können: die schreienden Damen an den Mikrofonen, den immer hektischer rotierenden Schall und den manisch dirigierenden Dario in der hinteren Mischbox. Rohbeck musste für seine Rolle tatsächlich als Sounddesigner lernen und vollführt live alle gruseligen Toneffekte mit Messer, Kohl und Mohrrübe stellvertretend für Schlitzerei und Blutgemetzel. Wer schon Buttgereits GREEN FRANKENSTEIN SEXMONSTER gesehen hat weiß, dass Kochen danach nicht mehr dasselbe ist. Ein gelungener Comic-Relief, aber auch eine Tour de Force Leistung von Rohbeck und wieder eine großer Verneigung vor dieser analogen Form des Filmschaffens.
Gleichzeitig ist sich Buttgereit auch nicht zu schade, all die Widersprüchlichkeiten in dieser alten Filmwelt aufzuspüren und mal gezielt den Finger in die Wunde zu drücken. Kann künstlerischer Anspruch mit inhaltlicher Oberflächlichkeit, Banalität, Sexismus und gar – jetzt kommen die schlimmen Worte – fehlender Logik und Kohärenz einhergehen und funktionieren? Am schönsten zeigt sich diese Absurdität in umgekehrter Weise in einem einfach mal zwischendrin eingestreuten Traktat über 2001 – ODYSSEE IM WELTALL und dem gerade entstehendem KRIEG DER STERNE. Dies sei doch die Zukunft des Kinos und nicht der Schund, den Papa Dario produziere, pöbelt und schwärmt Sohn Rock Hammond (Schauspieler Christian Freund hat sich zur Vorbereitung auf seine Rolle tatsächlich mit Luigi Cozzi im PROFONDO ROSSO in Rom getroffen). Deren inhaltliche Beschreibungen hören sich aber schließlich fast ebenso absurd an, wie die fragmentierte Handlung eines handelsüblichen Giallos.
IM STUDIO HÖRT DICH NIEMAND SCHREIEN ist geradezu vollgestopft mit solch schönen Meta-Perlen, die auch bis zu „Metoo“ gehen. Nichts davon wirkt aber selbstzweckhaft aufdringlich oder bloß aktuell reingezwängt, weil diese Momente ineinandergreifende Teile eines grandiosen Mad-Movie-Making-Mosaiks sind. Buttgereit hält dieser gesplitterten Filmwelt von einst seinen zerbrochenen Spiegel vor, um so ein rasiermesserscharfes, ungeschminktes Panoramabild dieser filmischen Ära und des Genres in die Köpfe seines Publikums zu projizieren. Ein Theaterstück wie ein Axthieb, das den Zuschauer absichtlich gespalten und erfreulich zerstört zurücklässt, nur um danach noch viel tiefer in diesen Kosmos des Wahnsinns eintauchen zu wollen und von ihm aufgesogen zu werden.
Kay Pinno