Wie nach den ersten Sonnenstrahlen am Ende eines langen, kalten Winters verzehrten sich die „Slashies“ – wie das Festival seine StammbesucherInnen, die gefühlt 90 Prozent des Publikums stellen, liebevoll nennt – nach den neuen einschlägigen Filmen, die Festivaldirektor Markus Keuschnigg der ausgehungerten Meute im frühsommerlichen Wien Anfang Mai kredenzte. Auch wenn die „kleine“ Ausgabe des Festivals des fantastischen Films (das reguläre SLASH ist traditionell im September) nur drei Tage und (lange!) Nächte dauert – Zeit zum Durchatmen gibt es kaum. Wir haben uns einige der Highlights angesehen.
STING (2024)
„Ich hoffe, keiner von euch leidet an Arachnophobie.“ So begrüßte Regisseur Kiah Roache-Turner per Videobotschaft das Wiener SLASH-Publikum. Wer Angst vor Spinnen hat, der wird es mit dem neuesten Horrorstreifen des Australiers tatsächlich schwer haben. STING entpuppt sich aber als durchaus familienfreundlich: eine wunderbare Hommage an spielbergartige Creature-Features der 80er, in der die zwölfjährige Charlotte (Alyla Browne) eine kleine Spinne im Einmachglas heranzüchtet, die bald zum überdimensionalen Monster mutiert. Damit stellt sie die ohnehin schon heterogene Gemeinschaft eines Mietshauses in Brooklyn auf die Probe. Während draußen ein Schneesturm tobt, muss die improvisierte Familie zusammenhalten, wenn sie dem Grauen Einhalt gebieten will. Unterstützt wird die nostalgische Schauermär von schön ekligen Effekten der neuseeländischen Firma Wētā Workshop, die schon für THE LORD OF THE RINGS verantwortlich zeichnete. Wenn man seine Arachnophobie überwinden will, dann am besten so.
CUCKOO (2024)
Was zum Kuckuck hat uns Tilman Singer hier aufgetischt? Der gebürtige Deutsche legt nach seinem experimentellen Debüt LUZ (2018) einen Film mit tollem US-Cast nach, der vor schrägem Einfallsreichtum nur so strotzt. Das rebellische Teenagermädchen Gretchen (Hunter Schafer) ist wenig begeistert, als es nach dem Tod der Mutter mit seinem Vater (Marton Csokas) und dessen neuer Familie (Jessica Henwick, Mila Lieu) in ein bayrisches Feriendomizil ziehen muss. Bald häufen sich mysteriöse Vorkommnisse, und speziell der dauerfreundliche Herr König (Dan Stevens) scheint etwas zu verbergen. Wie Singer im Gespräch nach dem Film verrät, hat er sich für CUCKOO u. a. vom Paarungsverhalten des Kuckucks inspirieren lassen. Das Resultat ist ein surrealer Horrortrip, zeitliche Paradoxien, Teenage Angst und akustische Irritationen inklusive – quasi ein David Lynch vor Alpenpanorama. Eigentliches Highlight bleibt aber Hauptdarstellerin Schafer, deren trotzige Leinwandpräsenz an die junge Linda Manz erinnert.
NATTEVAGTEN – NIGHTWATCH (1994) & NIGHTWATCH – DEMONS ARE FOREVER (2023)
NIGHTWATCH von 1994 wieder bzw. erstmals auf der großen Leinwand sehen zu dürfen, ist ein Erlebnis für sich. Nicht nur ist der Film über einen studentischen Nachtwächter in einem Leichenschauhaus (ein junger Nikolaj Coster-Waldau), der in eine gefährliche Mordserie verstrickt wird, eine gelungene Hommage an Alfred Hitchcock. Der Film von Ole Bornedal ist auch nach 30 Jahren immer noch spannend, und was ebenso positiv auffällt: NIGHTWATCH ist herrlich unkonventionell. Neben dem eigentlichen Handlungsstrang ist genug Platz für Geschichten über Geschlechterrollen und zwischenmenschliche Beziehungen – und geraucht wird auch noch überall.
Im Doppelpack mit der Fortsetzung (mit dem Titelzusatz DEMONS ARE FOREVER) entfalten sich die zahlreichen Anspielungen auf das drei Dekaden alte Original. Diesmal ist es die Tochter des Leibwächters (gespielt von der Tochter des Regisseurs, Fanny Bornedal), die denselben Job als Nachtwächterin annimmt, um den Geistern, die ihren Vater nach wie vor quälen, auf den Grund zu gehen. Dabei weckt sie jedoch mehr Dämonen, als ihr lieb ist … NIGHTWATCH – DEMONS ARE FOREVER ist gut durchdacht und punktet vor allem damit, dass alle Figuren aus dem Original (und fast zur Gänze auch deren DarstellerInnen) erneut auf der Leinwand zu erleben sind. Die Dynamik und Spannung des Originals können nicht zu 100 Prozent erreicht werden – unterhaltsam ist der Film aber allemal.
LATE NIGHT WITH THE DEVIL (2023)
Dieser Found-Footage-Horror hat auf der amerikanischen Streamingplattform Shudder alle Zuschauerrekorde gebrochen, sollte aber unbedingt im Kino genossen werden. Im Mittelpunkt steht Talkshow-Host Jack Delroy (David Dastmalchain), der zu Halloween 1977 ein angeblich besessenes Mädchen samt Psychologin in seine Sendung „Night Owls“ einlädt, um die Quoten nach oben zu treiben. Im Studio bricht schon bald Chaos aus, als der böse Geist das Mädchen nicht mehr loslassen will. Alles nur Show? Die Brüder Cameron und Colin Cairnes haben sichtlich Freude daran, ihr okkultes Horrordrama mit viel Liebe zum Detail auszustatten, sodass man zeitweise wirklich das Gefühl hat, eine Fernsehshow aus den 70ern zu sehen. Dastmalchain legt seine ambivalente Figur gekonnt zwischen traumatisiertem Witwer und kalkulierendem TV-Promi auf der Suche nach der nächsten Sensation an. Da ist es verschmerzbar, dass ein Film, der überzeugend als Mockumentary beginnt, am Ende mit seinen eigenen Regeln bricht.
BOY KILLS WORLD (2023)
Passend zum SLASH kommt am Samstag spätnachts ein Film, der ebenso keine Atempause zulässt. Inszeniert vom Deutschen Moritz Mohr, ist dessen Regiedebüt ein Martial-Arts-Feuerwerk, das von keinem Geringeren als EVIL DEAD-Gott Sam Raimi koproduziert wurde. Bill Skarsgård verkörpert drahtig-trainiert darin einen tauben Jungen in einer dystopischen Welt, der Rache für den Tod seiner Mutter und seiner Schwester sucht, die Opfer eines perversen Rituals der Herrscherin Hilda van der Koy (Famke Janssen) wurden. Die Geschichte ist zwar alles andere als neu, aber dafür sind die Kampfszenen erstklassig und temporeich. Dennoch stellt sich im Laufe vieler sehr ähnlicher „Wickel“ (wie der Wiener sagen würde) eine gewisse Ermüdung ein. Im Grunde ist BOY KILLS WORLD da nicht anders als JOHN WICK oder kürzlich MONKEY MAN. Aber mir tun mittlerweile die SchauspielerInnen und Stuntleute leid, die sich einen Wolf kämpfen, während man irgendwann auf Durchzug schaltet und wartet, wer am Ende noch steht und einen One-Liner absondern darf. Ich hätte nie gedacht, dass ich das mal schreibe, aber: Inhaltliche Tiefe kann Filmen auch mal guttun.
WHEN EVIL LURKS (2023)
Nicht ganz unpassend fürs SLASH (1/2) werden Highlights schon mal um ein Uhr nachts gezeigt, wenn das traditionelle synchrone Bierdosenöffnen bei Filmbeginn (ein einzigartiges Ritual des Festivals, das eines Tages zum nationalen Kulturgut erklärt werden wird) schon etwas müde klingt.
Dieses Mal ist es der argentinische Film WHEN EVIL LURKS unter der Regie von Demián Rugna, der sich ein bekanntes Genre-Thema vornimmt und dennoch ganz andere Wege geht: In einer abgelegenen argentinischen Region ist ein Mann von Dämonen besessen. Doch statt auf einen Exorzisten wartet seine Familie auf einen Spezialisten vom Staat, der das Böse austreiben soll. Es ist klar, dass das in der Welt des Films nicht zum ersten Mal passiert. Doch die Menschen, die damit konfrontiert werden, wissen auch: Wenn nicht rasch und richtig reagiert wird, wird das dämonische Unglück ungehindert seinen Lauf nehmen. WHEN EVIL LURKS spart den erwarteten religiösen Überbau trotz des Themas fast komplett aus. Stattdessen wird Besessenheit wie eine Seuche behandelt, die sich schnell verbreitet, wenn nicht die richtigen Schritte getan werden. Und tatsächlich kann der Film auch als Allegorie auf die Welt der letzten Jahre gesehen werden: Die Gefahr geht nicht nur von der Seuche aus, sondern vor allem von der Gesellschaft, von Behörden, die nicht richtig reagieren, und von Menschen, die einander misstrauen. Die Qualität des Films belegt auch, dass er fast ohne „billige“ Jump-Scares auskommt und viele Szenen am hellen Tag stattfinden. Dennoch hat er einige der schockierendsten Bilder zu bieten, die man in den letzten Jahren gesehen hat – TierliebhaberInnen und Eltern seien vorgewarnt.
Patrick Winkler & Philip Waldner