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THE NORTHMAN

Regie: Robert Eggers / USA 2022 / 136 Min.
Besetzung: Alexander Skarsgård, Ethan Hawke, Nicole Kidman, Claes Bang

Produktion: Thomas Benski, Robert Eggers, Lars Knudsen, Arnon Milchan
Freigabe: FSK 16

Verleih: Universal
Start: 21.04.2022

Wikinger mit Popcorn

Blutbeschmierte Berserker, brandschatzend, axtschwingend, trinkend und grölend – so stellt man sich Wikinger vor. Doch lag in der Darstellung dieser nordischen Kultur bisher eine große Diskrepanz. Realistisch oder aber vollkommene Überzeichnung, einen Mittelweg scheint es nicht zu geben. Trotz dieser Wechselhaftigkeit haben die Wikinger in der Popkultur des letzten Jahrzehnts eine regelrechte Renaissance erlebt. Die Serien VIKINGS und THE LAST KINGDOM, WALHALLA RISING und das Videospiel ASSASSIN’S CREED VALHALLA haben der Kultur wieder zu größerer Popularität verholfen. Nun möchte Robert Eggers, Regisseur von THE VVITCH und THE LIGHTHOUSE, seinen Beitrag dazu leisten. Mit THE NORTHMAN entfernt er sich von seinen beiden klaustrophobischen Horror-Erstlingswerken und öffnet sich erstmals – landschaftlich und filmisch. Mit hochkarätiger Besatzung läuft nun sein Wikinger-Epos in den Hafen ein, die Erwartungen sind hoch. Doch es ist nicht immer Wind in den Segeln von THE NORTHMAN.

Alexander Skarsgård, der sich zuvor noch als Tarzan durch den Dschungel schwang, spielt mit Amleth den prototypischen Wikinger auf einem Rachefeldzug. Er kämpft animalisch und zeigt seinen Gegnern weder Mitleid noch Gnade. Seine Motivation ist einfach: Seit er als Kind mit ansehen musste, wie sein Vater von seinem Onkel ermordet und die Mutter entführt wurde, sinnt er auf Rache. Jahre später, nachdem er bereits mehrere Schlachten geschlagen und das Kind in sich verloren hat, will er sie in die Tat umsetzen. Doch um seinem Onkel nahe zu kommen, gibt er seine Privilegien auf und schleust sich als Sklave auf dessen Farm ein. Dabei trifft Amleth auf die junge Olga (Anya Taylor-Joy), die in dem bestialischen Rächer zärtliche Gefühle weckt. Gleichzeitig realisiert er, dass nicht alle seiner Einteilungen in Gut und Böse der Wahrheit entsprechen.

THE NORTHMAN mag vieles sein – brutal, bildgewaltig, brachial. Doch ist der zweistündige Film vor allem eines: schmutzig. Überall scheinen Schlamm und Dreck zu sein, die Welt um Amleth herum wirkt wie er selbst, rau und unnachgiebig. Die Frage nach Moral hat hier keinen Platz, ebenso wenig wie Rücksichtnahme. Und doch zwingt Eggers zusammen mit dem isländischen Drehbuchautor Sjón die Figur Amleth dazu, ihre eigene Moral infrage zu stellen. Was, wenn die eigene Perspektive nicht die richtige ist? Oder wenn man zu verblendet ist, um eine andere zuzulassen? Fragen, die man nicht unbedingt inmitten von Wikingerschlachten erwartet hätte. Doch wirken sie keineswegs deplatziert, im Gegenteil. Trotz ihrer Rauheit sind die Figuren fein gezeichnet und erleben zwischen all dem Schlamm und Blut eine emotionale, wenn auch strapazierende Verwandlung.

Doch sind es nicht nur die Charaktere, die in THE NORTHMAN aufbrechen. Mit seinem dritten Film begibt sich Eggers erstmals in – bildlich gesprochen – offenes Terrain. Denn die ausgedehnten isländischen Landschaften stehen im direkten Kontrast zu seinen beiden vorherigen Filmen. In THE VVITCH war es eine Puritanerfamilie im frühen 17. Jahrhundert, die sich übernatürlichen Mächten in einem engen Wald gegenübersah. THE LIGHTHOUSE stellte zwei Leuchtturmwächter auf einer kleinen Insel gegenüber, die langsam den Verstand verlieren. Beides sind (zu Recht) hochgelobte Filme, die sich eine einengende Aura und künstlerische Eigenheiten teilen. Eggers spielte mit Bildausschnitten, dem Score und drehte für seinen zweiten Film mit originalem Kodak-Zelluloid, das seit den 50er-Jahren ein Auslaufmodell ist. Verglichen mit diesen technischen Verlebtheiten könnte man den Eindruck gewinnen, dass sich THE NORTHMAN dem Action-Mainstream anbiedert. Auch wenn es bis dahin noch ein großer Schritt ist, ist Eggers‘ neuester Film weit entfernt von der Komplexität und Verspieltheit seiner ersten beiden. Eine Opulenz liegt aber dennoch in seinen atemberaubenden Bildern, die auch seinem treuen Kameramann Jarin Blaschke zu verdanken sind.

Im DEADLINE-Interview der #94 sprach Eggers davon, dass er einen Wikinger-Popcornfilm machen wollte. Er habe es sich zur Aufgabe gemacht, den bis dato größten Wikingerfilm überhaupt zu drehen. Und den „unterhaltsamsten Eggers-Film“, wie er es selbst formuliert. Ersteres ist ihm gelungen, fernab der Klischees von geflügelten Helmen. Doch ist Unterhaltung subjektiv, und man sucht vergebens nach der Tiefe, die THE LIGHTHOUSE noch bot. Man wird unterhalten, mit Schlachten, Gewalt und der obligatorischen Moralfrage, doch viel mehr verbirgt sich dahinter nicht. Zwar gibt es Spielraum für Interpretationen, doch bleibt er erstaunlich klein. Eggers mag sich bildlich öffnen und von seiner räumlichen Beschränkung lösen, doch engt er dafür den Inhalt umso mehr ein.

Ob man bei THE NORTHMAN sein Popcorn genießen kann, hängt davon ab, wie hart man im Nehmen ist. Denn es wird blutig, zuweilen schon fast zu sehr, um noch als geerdet zu gelten. Doch Eggers‘ dreckiger Ausflug in die nordische Kultur bleibt ein Erfolg, nicht zuletzt wegen der herausragenden Schauspieler und der Kulisse, die selbst zum wichtigsten Darsteller wird. Während sich manche den kleinen, verspielten Eggers zurückwünschen werden, wird es auch diejenigen geben, die Gefallen finden an dem neuen, sich öffnenden Filmemacher. THE NORTHMAN ist also nicht nur eine moralische Gratwanderung, sondern auch eine Zukunftsfrage für Eggers. Mehr Popcorn oder zurück ins Kammerspiel? Wie auch immer sich der Amerikaner entscheidet, seine Filme bleiben ein Garant für Authentizität und würden in jeden Mainstream frischen Wind bringen. (Martin Seng)

 

Eggers‘ schwächster Film ist immer noch ein fantastisches Erlebnis

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THE NORTHMAN

Regie: Robert Eggers / USA 2022 / 136 Min.
Besetzung: Alexander Skarsgård, Ethan Hawke, Nicole Kidman, Claes Bang

Produktion: Thomas Benski, Robert Eggers, Lars Knudsen, Arnon Milchan
Freigabe: FSK 16

Verleih: Universal
Start: 21.04.2022