Festival-Bericht und Interview von Sarah Stutte
Ein Jahr nach dem 50-jährigen Jubiläum des ältesten Schweizer Filmfestivals (in puncto Fokus auf Schweizer Filmen) präsentierte sich dieses vom 21. bis zum 28. Januar 2016 einmal mehr breit gefächert. Es spannte einen interessanten Bogen vom vergangenen bis zum gegenwärtigen einheimischen Filmschaffen, und auch für Genrefans war wieder einmal einiges dabei. Dies überrascht insofern positiv, da sich offenbar der Schweizer Genrefilm derart gut entwickelt, dass man in Solothurn immer wieder auf Entdeckungen stösst.
SWEET GIRLS
Eine solche ist SWEET GIRLS von Xavier Ruiz. Der Genfer, der mit dem bösen Militär-Seitenhieb NEUTRE (2000) oder mit dem Psychothriller VERSO (2009) schon kreative Glanzstücke abgeliefert hat, führt in seinem neuen Film gleich mehrere Ideen und Handlungsstränge zusammen. Irgendwo zwischen Coming of Age, Satire, Thriller, Romcom, Generationenporträt und Gesellschaftsstudie bewegt sich die Geschichte der beiden Teenies Elodie und Marie. Diese kommen auf die aberwitzige Idee, die Wohnungsnot von Jugendlichen in ihrem Vorort zu bekämpfen, indem sie die Alten aus dem nahe liegenden Hochhaus kurzerhand abmurksen. In den frei werdenden Räumen sollen alsbald ihre arbeits-, geld- und manchmal auch hirnlosen Generationsgenossen einquartiert werden. Nur leider stellen sich die Mädels im Plastiktüten-über-den-Kopf-Ziehen nicht so helle an, weshalb man die Betagten lieber betrunken macht und in den Luftschutzkeller verfrachtet. SWEET GIRLS strotzt nur so vor innovativen Ideen; wie die Girls den Alten ihre Schlüssel abluchsen oder sie mit einer Seniorenparty hinters Licht führen, ist einfach herrlich komisch. Da die ganze Aktion nicht zu Ende gedacht wurde, kommen die Teenies bald an ihre Grenzen, während die Alten merken, dass sie eigentlich lieber zusammen unter der Erde sind, als alleine auf ihr. Gegen Schluss wird alles noch mal dermaßen hochgefahren, dass hier weniger doch mehr gewesen wäre. Dennoch ein kurzweiliger und sehr bissiger Genrebeitrag, der vor allem dank seiner storytechnischen Spielfreude durchwegs unterhalten kann.
SANGUE DEL MIO SANGUE
Auch SANGUE DEL MIO SANGUE von Marco Bellocchio ist so ein ungewöhnliches Zwischending, das Satire, Drama sowie religiösen Fanatismus mit Horrorelementen vereint und auf drei Erzählebenen eine jahrhundertealte Geschichte entfaltet. 1630 reist der junge Offizier Federico ins Kloster von Bobbio (Bellocchios Geburtsort), um seinen Zwillingsbruder zu rehabilitieren. Dieser war Priester und nahm sich das Leben, nachdem er von der Nonne Benedetta verführt wurde. Benedetta wird deshalb der Hexerei bezichtigt und angeklagt. Während Federico dem grotesken Prozess beiwohnt, bei dem die junge Frau unsägliche Qualen über sich ergehen lassen muss, erliegt auch der Offizier ihrer Anziehung, denn Benedetta sieht in ihm den totgeglaubten Priester. Weil man ihr den Teufel offenbar nicht austreiben kann, wird sie letztendlich lebendig im Kloster eingemauert. Jahrhunderte später steht ein Inspektor des Ministeriums vor dem verlassen geglaubten Kloster, das er als Kaufobjekt anpreisen möchte, und stellt dabei fest, dass das alte Gemäuer doch noch bewohnt ist. Dies von einem mysteriösen Grafen, der scheinbar nur nachts seine Behausung verlässt. Zwar zeichnet sich jede einzelne Episode für sich aus, der Film funktioniert aber auch im großen Ganzen. Bellocchio schafft es, einen roten Faden zu weben und nicht nur die Geschichte, sondern auch die Genres und Figuren wahrlich gekonnt miteinander zu verknüpfen. Man ist gleichermaßen fasziniert von der unverhohlenen Kritik an der katholischen Kirche, am Irrglauben und Dogmatismus, aber auch belustigt über einen Vampir-Grafen, der beim Zahnarzt sitzt und sich mit diesem über die Globalisierung ärgert. SANGUE DEL MIO SANGUE ist auch ein Film über die Freiheit, darüber, wie man mit dem Andersartigen umgeht, heute wie damals, in Italien, aber sicher auch anderswo. Und er trauert darüber genauso offen, unter anderem in einer wunderschönen Unterwasserszene, dass sich die Zeit nicht aufhalten lässt und wir immer Gefangene unserer eigenen Vorstellungen bleiben werden. Bellocchio, bekannt für seinen Mut und seine eigenwillige Bildsprache, schuf mit der französisch-italienisch-schweizerischen Koproduktion ein Werk von betörender Intensität.
SYBILLE
Für einen kleinen Eklat bei der Erstaufführung sorgte SIBYLLE von Michael Krummenacher, der gleichzeitig auch mit HEIMATLAND und seiner Crew am Festival vertreten war. Krummenacher studierte an der Hochschule für Fernsehen und Film München und präsentierte mit dem Psychodrama-Horror SIBYLLE seinen Abschlussfilm. Erzählt wird die Geschichte der erfolgreichen gleichnamigen Architektin, die im Urlaub beim Joggen beobachtet, wie eine Frau, die ihr wie aus dem Gesicht geschnitten scheint, sich die Klippen herunterstürzt. Kurz vor ihrem Tod flüstert ihr diese noch etwas zu. Schockiert von diesem Vorfall, verändert sich Sibylle immer mehr, zieht sich von ihrer Familie zurück und nimmt die Welt um sie herum nur noch als Bedrohung wahr. SIBYLLE besticht nicht nur durch eine starke Hauptdarstellerin (Anne Ratte-Polle) und zahlreiche Anspielungen auf Horrorklassiker (Kubrick, Hitchcock, Polanski und Lynch lassen grüßen), sondern vor allem auch durch das gekonnte Spiel mit Realität und Fiktion. Wahrnehmungsebenen verschwimmen zusehends, und am Ende weiss man nicht mehr, was man genau zu sehen glaubte. Der vorher angesprochene Eklat ereignete sich in der anschliessenden Diskussion, bei der dem Regisseur vorgeworfen wurde, psychische Erkrankungen nur als Mittel zum Zweck benutzt zu haben. Dass dieser Vorwurf völlig haltlos ist, merkt jeder, der sich auf den Film einlässt und sieht, wie behutsam sich Krummenacher des Themas angenommen hat und wie detailliert er den Prozess einer solchen Erkrankung abbildet. SIBYLLE ist eine reife Reminiszenz an Horrorfilme aus den 70ern wie SHINING oder DER MIETER, intelligent, spannend, rätselhaft und im völligen Bewusstsein mit dem Bewusstsein spielend.
DIE SCHWALBE
Mit einer starken weiblichen Hauptfigur konnte auch DIE SCHWALBE auftrumpfen, der erste Spielfilm des mehrfach preisgekrönten Dokumentarfilmers Mano Khalil. Manon Pfrunder reist als Mira ins irakische Kurdistan, auf der Suche nach ihrem totgeglaubten Vater. Ihr einziger Anhaltspunkt sind die Absenderadressen auf einem Bündel Briefe, das sie auf dem Dachboden ihrer Mutter gefunden hat. Bald schon begegnet sie Ramo (Ismail Zagros), der sehr gut Deutsch spricht und ihr anbietet, sie zu begleiten. Doch das Treffen geschieht nicht zufällig, denn Ramo verfolgt ein eigenes Interesse daran, Miras Vater zu finden. Der in der Schweiz lebende Kurde Khalil zeigt uns ein Land, das einmal eines war und schon lange keines mehr ist. Die politischen Verstrickungen werden anhand der umkämpften Grenzgebiete, des kompromisslosen Vorgehens der Peschmerga-Kontrollposten oder einer Kalaschnikow visualisiert, die Ramo im Kofferraum versteckt hält. Beide Figuren sind gefangen in ihrer Vergangenheit, die sie nicht loslassen können. Ramo (Ismail Zagros ist eindrücklich in seiner Verzweiflung) kämpft zusätzlich mit seinem Gewissen, gegen das Vergessen und kann den Traditionen, Wertvorstellungen und Loyalitätsverpflichtungen, die ihn geprägt haben, trotzdem nicht entfliehen. DIE SCHWALBE ist kein Film, der einen mit einem guten Gefühl aus dem Kino entlässt. Die gebrochenen Figuren begleitet eine unterschwellige Traurigkeit, die so weit ist wie das Land, das sie durchqueren. Trotzdem verändert sie die Liebe, und das ist auch die Hoffnung, die am Ende mitschwingt.
LINA
LINA von Michael Schaerer befasst sich mit einem dunklen Kapitel Schweizer Geschichte: der administrativen Versorgung durch eine Verwaltungsbehörde. Eine Praxis, die von 1942 bis ins Jahr 1981 gebräuchlich war. Unangepasste Jugendliche (wozu schon Sex vor der Ehe oder bloßes Herumlungern zählten) wurden ohne Gerichtsbeschluss in Arbeits- oder Erziehungsanstalten gesperrt, was Abteilungen normaler Strafanstalten entsprach. Die Einsperrungen waren dabei zeitlich unbefristet und konnten jederzeit grundlos verlängert werden. Im Film LINA werden die realen Schicksale der Opfer, hauptsächlich Frauen, die noch heute unter den Folgen der unglaublichen Behördenwillkür leiden, anhand eines Einzelfalles aufgezeigt. Die titelgebende Hauptfigur ist 17 Jahre alt, ein aufgestelltes Mädchen, das sich in einen Jungen aus demselben Ort verliebt und dann schwanger wird. Aufgrund ihres «lasterhaften Lebenswandels» wird sie vom Gemeindevorsteher zur Umerziehung gezwungen, das Kind wird im Gefängnis geboren und zur Adoption freigegeben. 40 Jahre später steht der Sohn plötzlich in ihrem Hof, auf den sich die 60-jährige Lina vor Langem vor der Welt zurückgezogen hat, und verlangt eine Erklärung. Er wuchs im Bewusstsein auf, dass seine Mutter ihn nicht wollte, und erfährt erst jetzt von dem Unrecht, das ihr widerfahren ist. LINA ist packend inszeniert, lebt von seiner sympathischen Hauptfigur (Rabea Egg als junge Lina ist eine echte Entdeckung) und berührt gleichermaßen, wie er auch betroffen macht. Bis heute wurden keinerlei Entschädigungen an die zahlreichen Opfer gezahlt, eine Aufarbeitung der Ereignisse durch die Verwaltung ist bisher nur in einem einzigen Kanton erfolgt. Der Film zeigt deshalb die Brisanz des Themas unvermittelt auf, wie wichtig es ist, die Diskussion darüber aufrechtzuerhalten und nicht vergessen zu lassen.
AMATEUR TEENS
HEMATLAND
Erwähnenswert sind zudem die Genre-Reprisen, die in Solothurn noch einmal vorgestellt wurden. Dazu zählen der eindringliche AMATEUR TEENS (der am letztjährigen Zurich Film Festival seine Uraufführung hatte und dort den Audience Award 2015 bekam), die Endzeit-Satire HEIMATLAND (die schon am Filmfestival Locarno lief, dort den dritten Preis des «Premio Giuria dei Giovani 2015» gewann und zudem den Max-Ophüls-Preis für den gesellschaftlich relevanten Film 2016), der Film-Noir-angehauchte TRUE LOVE WAYS und der wilde Game-Sci-Fi-Mix POLDER, beide gezeigt am NIFFF 2015. Traditionell werden an den Solothurner Filmtagen alljährlich die Nominierungen für den im März stattfindenden Schweizer Filmpreis bekannt gegeben. Erfreulicherweise schafften es in diesem Jahr gleich drei Genrefilme auf die Nominiertenliste des «Besten Spielfilms»: HEIMATLAND, AMATEUR TEENS und NICHTS PASSIERT. Dass die Jury diesmal vor allem unkonventionelle Produktionen von jungen Schweizer Filmemachern berücksichtigte, statt Publikumslieblinge wie HEIDI oder SCHELLENURSLI, die traditionelle Stoffe in Szene setzten, zeigt auch die Wandlung auf, die der Schweizer Film seit einigen Jahren vollzieht, und lässt darauf hoffen, dass auch oder im Speziellen einheimische Genreproduktionen so gefördert und unterstützt werden, wie sie es verdienen.
NICHTS PASSIERT
Man muss Micha Lewinskys Werk zum einen deshalb hervorheben, weil sein Drehbuch im März mit dem Schweizer Filmpreis ausgezeichnet wurde, aber auch weil die Geschichte so skurril, so menschlich und deshalb einfach nur fies ist, dass sie auf den Solothurner Filmtagen (aber auch schon zuvor auf dem Zurich Film Festival) wahrlich außer Konkurrenz lief. NICHTS PASSIERT fängt so harmlos an, wie es der Titel verspricht. Eine Familie ist auf dem Weg nach Graubünden in die verdienten Skiferien. Die Eltern haben sich auseinandergelebt, die Teenie-Tochter ist aufmüpfig. Egal. Der optimistische Thomas (wunderbar: Devid Striesow) lässt sich von solchen Nebensächlichkeiten nicht aus der Spur bringen. Unterwegs packt er auch noch Sarah mit ins Auto, die Tochter seines Chefs. Weil der ihn darum bittet und Thomas, die angestrebte Beförderung vor Augen, nicht ablehnen kann. Angekommen in der Berghütte, gibt’s erst mal keinen Strom, die Teenies liegen sich in den Haaren, die Frau schmollt. Egal. Doch alsbald wird Thomas‘ Ausgeglichenheit in seinen Grundfesten erschüttert, als Sarah einen Dorfjungen der Vergewaltigung bezichtigt und es ausgerechnet dem Urlaubsvater anvertraut. Dieser weiß nicht so recht, wie er sich verhalten soll, und macht dann das, was er am besten kann: gute Miene zum bösen Spiel. Thomas entscheidet sich dafür, niemandem etwas von dem Vorfall zu sagen. Nicht seiner Frau, nicht seinem Kind und schon gar nicht seinem Chef. Dabei verstrickt er sich in ein übergroßes Lügengebilde, das ihn zu ersticken droht, bis die Situation schließlich endgültig eskaliert. Nichts ist in diesem Film so, wie es scheint, und es passiert nicht nichts, sondern sehr viel. Und es wird auch nichts wieder gut, sondern nur noch schlimmer. Unter der Fassade des biederen Ehemannes brodelt es gewaltig. Mit beängstigender Spannung und kopfschüttelnder Skepsis verfolgt man, wie jemand, der immer nur das Richtige tun will, genau das Falsche macht. Viel beängstigender ist jedoch die Erkenntnis, dass jeder dieser Thomas sein kann. NICHTS PASSIERT blickt in viele Abgründe und fällt doch in keinen hinein. Ein wahrlich bitterböses schwarzes Spektakel, bei dem einem das Lachen jedes Mal im Halse stecken bleibt.
Kurz-Interview mit HEIMATLAND-Regisseur Micha Lewinsky am Abend des Schweizer Filmpreises:
DEADLINE: Die Geschichte fängt relativ harmlos an und wird dann immer bösartiger. Würdest du deinen Film trotzdem als schwarze Komödie bezeichnen, oder ist er einfach nur schwarz?
Micha Lewinsky: Es gab noch nie bei einem meiner Filme so viele Genrebezeichnungen. Eigentlich passt er in keine Schublade. Das war auch das Besondere und das Mutige, gleichzeitig aber auch das Gefährliche an dem Film, dass er nicht ein klassisches Genre bedient. Ich finde es interessant, ein Genre aufzubrechen. Man hat als Zuschauer keine Leitplanken und kann nur den Figuren folgen. Eine Fahrt ohne Karte sozusagen. Dabei ist es aber auch ein Überraschungspaket für mich als Regisseur. Wenn es keine klaren Spielregeln gibt, muss man die Spielregeln selbst erfinden.
DEADLINE: Man weiß zeitweise nicht, ob man die Hauptfigur schütteln soll oder sich mit ihr verbunden fühlt. Es hieß, du hättest Devid Striesow die Rolle förmlich auf den Leib geschrieben. Ist das so?
Micha Lewinsky: Ja, das stimmt. Es war mein Wunsch, dass man sich mit der Figur identifizieren kann. Aber das möchte man vielleicht nicht. Mir war es wichtig, dass der Zuschauer dazu bereit ist, einen Teil des Weges mitzugehen, und findet, das könnte ihm auch passieren, doch durchaus begleitet von einem Unwohlsein. Genau das ist das Unangenehme daran.
DEADLINE: Ist die Figur uns vielleicht zu ähnlich und das Beängstigende daran, dass wir uns zwangsläufig damit auseinandersetzen müssen, wie wir in der Situation reagieren würden?
Micha Lewinsky: Sicher denken die meisten am Schluss des Filmes, dass Thomas wirklich ein unmöglicher Charakter ist, und finden es nicht gut, was er getan hat. Aber die Frage ist, ab wann wir es nicht mehr als korrekt empfunden haben. Wenn man von einem Verbrechen weiß oder davon, dass jemand sich eines Verbrechens schuldig gemacht hat, wann geht man selbst in den Konflikt hinein, und wie lange weicht man ihm aus? Da gibt es ganz unterschiedliche Wahrnehmungen. Es ist eine moralische Frage, die nicht nur eine einzige Antwort zulässt.
DEADLINE: Du demontierst die heile Welt quasi zweimal. Einmal anhand der Familienidylle, die langsam zerfällt, dann mit der Szenerie des hübschen Bergdorfs, wo so etwas ja nicht passieren kann. War das bewusst von dir so gewählt, oder hätte die Geschichte auch in der Stadt spielen können?
Micha Lewinsky: Ich wollte einen Ort, der von der Welt abgeschnitten ist. Sicher wäre die Szenerie auch in der Stadt möglich gewesen – die Geschichte kann überall passieren –, aber mir gefiel der geschlossene Kosmos eines solchen Ferienhauses. In der heilen Welt, wie du sagst. Draußen ist es kalt, und innen wärmt ein Feuer, und trotzdem ist es eben nicht heil.