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59. ANTALYA GOLDEN ORANGE FILM FESTIVAL

Von Sarah Stutte

 

Das für den türkischen Film äußerst bedeutsame Antalya Golden Orange Film Festival fand in seiner bereits 59. Ausgabe vom 1. bis zum 8. Oktober statt und endete am Abend der Preisverleihung mit einigen Überraschungen.

 

Die Filme des nationalen Wettbewerbs stießen alle auf großes Interesse beim Publikum, denn die Vorstellungen in den beiden Kinosälen des Festivalzentrums waren stets so gut besucht, dass die Veranstalter noch zusätzliche Stühle aufstellen mussten. Doch auch die beiden Open-Air-Kinos – eines davon in einer Parkanlage von Kaleiçi, der historischen Altstadt von Antalya, gelegen – konnten bei mediterran-türkischen Oktobertemperaturen viele Filmliebhaberinnen und Filmliebhaber anlocken.

 

Das lag nicht zuletzt aber auch an der in diesem Jahr besonders hohen qualitativen Vielfalt an türkischen Produktionen, die vom Thriller BURNING DAYS, der schon in Cannes lief, über den Science-Fiction-Film IGUANA TOKYO (der für das beste Design ausgezeichnet wurde) bis zum ersten offiziellen Gay-Film mit RSVP reichten. Besonders Letzterer war aus diesem Grunde ein Wagnis, wurde aber vom Publikum sehr gut aufgenommen – wohl auch, weil er seine scharfe Gesellschaftskritik auf eine humorvolle Art und Weise transportierte und damit eher Richtung Satire ging, als ein zu ernstes Drama sein zu wollen. Seine heftige Wirkung – besonders mit seinem provokanten Schluss – verfehlte der Film von İsmet Kurtuluş und Kaan Arıcı trotzdem nicht.

INGUANA TOKYO

Die Handlung dreht sich um den jungen Trauzeugen Mert (Cem Yiğit Üzümoğlu), der eine Stunde vor der Hochzeit seines besten Freundes versucht, diese zu verhindern. Dies, indem er unter Alkoholeinfluss beginnt, die Geheimnisse, die er über das Paar weiß, zur Sprache zu bringen.

Die Einwände des Paares gegen diese Konfrontation werden im Laufe der Diskussion durch eine Reihe von neuen enttäuschenden Offenbarungen ersetzt. RSVP ist ein kluges Kammerspiel, das mit drei Schauspielern in einem Raum und in einer einzigen Plansequenz gedreht wurde. Dadurch entsteht eine fesselnde Intensität, die von hervorragenden Dialogen getragen wird. Cem Yiğit Üzümoğlu wurde für seine Leistung – zusammen mit Selahattin Paşalı, dem Hauptdarsteller aus BURNING DAYS – mit dem Preis für den besten Schauspieler ausgezeichnet.

BURNING DAYS

Interessant ist dieser Doppelpreis auch deswegen, weil in beiden Filmen das LGBTQ+-Thema eine Rolle spielt. Während RSVP offenkundig der Heuchelei der etablierten heteronormativen Beziehungsordnung in der türkischen Gesellschaft einen Spiegel vorzuhalten versucht, wird in BURNING DAYS die homophobe Stimmung des Settings, in dem der Film angesiedelt ist, nur angedeutet. Der neue Film des Fipresci-Gewinners Emin Alper (2012, BEYOND THE HILL), der zu den wichtigsten Regisseuren des türkischen Kinos gehört, erzählt vom jungen urbanen Anwalt Emre, der seine Arbeit in der Provinz beginnt, wodurch sich gewisse Spannungen mit den Ortspolitikern ergeben. Ihm werden ein Vergewaltigungsfall und eine zu enge Verbindung mit einem ausgegrenzten Journalisten des Dorfes zum Verhängnis.

 

Best Actor: Selahattin Paşalı für BURNING DAYS und Cem Yiğir Üzümoğlu für RSPV
Best Director BURNING DAYS – Emin Alper

In beeindruckenden Bildern choreografiert, wurde BURNING DAYS, der schon vorher als großer Gewinner des Abends galt, insgesamt neunmal ausgezeichnet. Darunter für die beste Musik (für den deutschen Komponisten Stefan Will, der seinen Preis persönlich entgegennahm), die beste Kamera (Christos Karamanis), den besten Schnitt (Özcan Vardar, Eytan İpeker) und den besten Nebendarsteller (Erol Babaoğlu). Zudem bekam Emin Alper den Preis für die beste Regie sowie zwei weitere Preise – einmal vom türkischen Kritikerverband und einmal vom türkischen Verband der Filmregisseurinnen und Filmregisseure. Die höchste Auszeichnung – für den besten Film (und das beste Drehbuch) – ging aber unvermutet an ein anderes Werk, nämlich an BLACK NIGHT von Özcan Alper.

BLACK NIGHT

Darin geht es, ähnlich wie in BURNING DAYS oder SNOW AND THE BEAR, die ebenfalls im Wettbewerb liefen, um die Ankunft eines Fremden in einer ländlichen Umgebung. Der Musiker İshak, gespielt von Berkay Ateş, kehrt darin nach langen Jahren in seinen Geburtsort zurück, um seine kranke Mutter zu besuchen. İshak verfolgen dort aber die Erinnerungen an einen Lynchmord, an dem er in der Vergangenheit beteiligt war, was zu einer Gewissensprüfung für ihn wird.

BURNING DAYS – Kurak Guenler

Der Film, der im Wesentlichen die geschlossene Welt einer Provinzstadt und das durch die Inszenierung von Männlichkeit geschaffene repressive Umfeld offenbart, entschlüsselt sowohl die Codes dieser Unterdrückung als auch die Lynchkultur, die in der heutigen Türkei immer noch vorherrscht. Die Geschichte wechselt dabei ständig zwischen Gegenwart und Vergangenheit, schafft es – obwohl sowohl Täter wie auch Opfer von Anfang an klar sind –, bis zum Schluss interessant zu bleiben und realistische Verbindungen zwischen beiden Zeitebenen herzustellen.

SNOW AND THE BEAR

Der Thriller SNOW AND THE BEAR der Regisseurin Selcen Ergun, der schon in Toronto lief, wurde indes mit dem Preis für den besten Debütfilm bedacht und mit jenem für die beste Hauptdarstellerin Merve Dizdar. Diese spielt eine komplexe und vielschichtige Figur, eine Krankenschwester, die in einem kleinen, abgelegenen Dorf für den örtlichen Arzt einspringt, der aufgrund des schneereichen Wetters festsitzt. Die Bewohner wollen jedoch nicht auf ihre gesundheitlichen Ratschläge hören, sondern lieber warten, bis der «richtige» Arzt wieder da ist. Das führt bald zu Reibereien zwischen ihr und den Einheimischen, und dann ist da noch ein Bär, der sich in der weißen Wildnis herumtreiben soll.

SNOW AND THE BEAR – Bestes Debüt

Selcen Ergun erwähnte in ihrer Dankesrede, dass der Film von ihren eigenen Erfahrungen hinsichtlich der unausgewogenen Machtdynamik zwischen Männern und Frauen in der türkischen Gesellschaft inspiriert sei. Doch auch das Thema Klimawandel spielt in SNOW AND THE BEAR eine große Rolle. Der Winter scheint ewig zu dauern, und die Dorfbewohner fragen sich, ob er jemals ein Ende nehmen wird. Erguns Film erzählt in faszinierenden Bildern einer eisigen Landschaft von dem Gefühl, festzustecken und nicht sicher zu sein, doch in jeder Szene schwingt auch stets die Hoffnung mit.

 

Es gibt viele Gemeinsamkeiten zwischen diesen drei Filmen. In allen sehen sich städtische Charaktere mit der Verschlossenheit der Landbevölkerung konfrontiert und müssen sich darin nicht mit existenziellen Fragen des Lebens, sondern mit dem Überleben selbst auseinandersetzen. Der stille Land-Stadt-Gegensatz, der noch in den 2000er-Jahren im türkischen Kino populär war, hat sich heute mehr und mehr in ein Hinterfragen der eigenen Identität verwandelt, das von politischen Einschränkungen motiviert ist. Das Aufbegehren für mehr Freiheit und Demokratie zeigte sich denn auch in den teils flammenden Reden der Gewinnerinnen und Gewinner, die ihrer inhaftierten Freunde und Weggefährten gedachten.

Valdimar Johannsson

In der internationalen Spielfilm-Jury saß in diesem Jahr unter anderem der isländische Filmemacher Valdimar Jóhannsson, der im letzten Jahr mit seinem Debüt LAMB beeindruckte. Im seit 1978 bestehenden internationalen Wettbewerb mit insgesamt zehn Spielfilmen wurde die bolivianisch-uruguayische Produktion THE VISITOR (von Martín Boulocq) als bester Film gewählt – eine düstere Bestandsaufnahme des heutigen Lateinamerikas über einen gerade entlassenen Häftling, der sich gegen seinen Willen in einem evangelikal geprägten Umfeld wiederfindet, um eine Beziehung zu seiner ihm entfremdeten Tochter aufzubauen.

THE VISITOR

Auch der polnische Beitrag BREAD AND SALT von Damian Kocur konnte überzeugen und gewann den Regiepreis. Die von einer wahren Begebenheit inspirierte Geschichte über eine folgenschwer-tragische Auseinandersetzung zwischen einem arabischstämmigen Imbissbesitzer und einem örtlichen Jugendlichen in einer polnischen Kleinstadt wurde mit Laiendarstellern inszeniert und wirkt dadurch ungemein authentisch und erschütternd.

BREAD AND SALT

Als beste Darstellerin wurde die Schauspielerin Marina Foïs für ihre herausragende Leistung im französischen Thriller THE BEASTS ausgezeichnet. Dieser lehnt sich in seiner Prämisse augenscheinlich an die Außenseiterthematik der bereits erwähnten türkischen Produktionen an. Ein französisches Ehepaar will sich in einem galizischen Dorf eine Existenz aufbauen, doch ein nachbarlicher Streit über die Baugenehmigung für einen Windpark eskaliert nach und nach zu einer ausgewachsenen Fehde.

THE BEASTS

Der iranische Schauspieler Pejman Jamshidi wurde für seine Rolle im Gerichtskrimi DUSTLAND als bester Darsteller geehrt. Er spielt einen Ermittler, der einen brisanten Fall behandelt, nämlich den nächtlichen Überfall auf die Familie des örtlichen Bürgermeisters, die in einem Garten eine Party feierte. Wie sich herausstellt, wurden dabei die anwesenden Frauen von den Tätern sexuell missbraucht, und der Ermittler wird von seinem Vorgesetzten und dem Bürgermeister selbst unter Druck gesetzt, den Fall nicht mehr weiterzuverfolgen.

 

DUSTLAND

In diesem Jahr wurde zudem eine ganz neue Rubrik mit dem Titel «Another World» geschaffen, in der eine Auswahl an internationalen Festivalfilmen gezeigt wurde, die bereits in Cannes, in Venedig, Annecy oder Toronto liefen. Hier waren deshalb Werke wie Riley Keoughs Regiedebüt WAR PONY, die Kleinkriminellen-Ballade BROKER von Kore-eda Hirokazu oder DECISION TO LEAVE von Park Chan-wook (OLDBOY) zu finden, die sowohl in den Kinosälen wie auch im Open-Air-Kino liefen.

Weitere zwei Preise beim 59. Antalya Golden Orange Film Festival gingen an den Spielfilm MIRROR MIRROR von Belmin Söylemez. Einerseits gewann dieser den «Dr. Avni Tolunay Special Jury Award», der im Namen des Festivalgründers vergeben wird, andererseits die Auszeichnung für die beste Nebendarstellerin Laçin Ceylan. Diese bekräftigte in ihrer Rede, dass die Rechte von Frauen, die aus eigener Kraft arbeiten und Erfolg haben, nicht unterdrückt werden sollten. Als bester Kurzfilm wurde YOU ALL & I ALONE von Barış Kefeli und Nükhet Taners prämiert. Den Sonderpreis der Jury im nationalen Dokumentarfilmwettbewerb bekam DUET von Ekin İlkbag-İdil Akkuş, und Berna Gençalps KIM MIHRI gewann den Preis für den besten Dokumentarfilm.

Golden Orange-Award-Gewinner

 

59. ANTALYA GOLDEN ORANGE FILM FESTIVAL