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LOLA

Regie: Andrew Legge / Irland, Großbritannien 2022 / 78 Min.

Besetzung: Emma Appleton, Stefanie Martini, Rory Fleck Byrne, Aaron Monaghan, Shaun Boylan

Produktion: Alan Maher, John Wallace

Freigabe: FSK 12

Verleih: Neue Visionen

Start: 28.12.2023

Was wäre, wenn … wir in die Zukunft blicken könnten? Wären wir in der Lage, die Klänge und Bilder aus einer anderen Zeit einfach nur zu genießen, uns verzaubern zu lassen von der Schönheit einer Welt, die noch nicht entstanden ist? Oder würden wir versuchen, von unserem Wissen über das, was kommen wird, zu profitieren? Das Hier und Jetzt zu beeinflussen, unser Morgen zu verändern? Würden wir nur beobachten? Oder würden wir eingreifen wollen? Und falls ja: Welche Konsequenzen würde das haben?

Das Spielfilmdebüt des irischen Regisseurs Andrew Legge widmet sich diesen Fragen, die im Science-Fiction-Genre natürlich beileibe nicht zum ersten Mal gestellt werden. Seine Herangehensweise ist dabei jedoch eine sehr eigene – was schon damit anfängt, dass die Haupthandlung nicht etwa unsere Gegenwart als Bezugspunkt hat, von dem aus wir verfolgen, wie die Protagonist:innen gegebenenfalls ihre und unsere Zukunft umgestalten. Vielmehr ist die Geschichte von LOLA in der Vergangenheit (genauer gesagt: inmitten des Zweiten Weltkriegs) angesiedelt. Was im Kontext der gezeigten Geschehnisse unmittelbar zur Frage führt, ob denn eben unsere Gegenwart diejenige ist, die sie ursprünglich sein sollte. Oder ob ihr Pfad nicht vielleicht an einem gewissen Punkt umgebogen wurde und wir heute eine geänderte, vom eigentlichen Plan abweichende Realität erleben.

Um das Durcheinander der Zeitebenen stilvoll zu komplettieren, kommt LOLA als „historischer Found-Footage-Film“ daher: Analog zu einem BLAIR WITCH PROJECT oder PARANORMAL ACTIVITY besteht das komplett in Schwarz-Weiß präsentierte Werk in erster Linie aus vorgeblich authentischem Material, das von den Hauptfiguren selbst gefilmt wurde (da die Kameras der 1940er-Jahre ein beträchtliches Gewicht aufwiesen, entfällt das Stilmittel der Wackelkamera jedoch weitgehend). Gemixt wird es mit Schnipseln von zeitgenössischen – oder zeitgenössisch gestylten – Filmen und Nachrichtensendungen. Dazu kommen einige Ausschnitte aus Medien der Story-Zukunft, sprich: Blicke in TV-Sendungen zur Politik und Popkultur der 1970er-Jahre. Kurz gesagt, gibt sich Andrew Legges Werk als besonders eigenartige Mockumentary, als eine 1941 auf Filmrollen festgehaltene Dokumentation haarsträubender, geschichtlich relevanter Ereignisse, die 2021 zufällig im Keller eines alten Hauses in Sussex gefunden wurde.

Das klingt alles etwas verwirrend? Keine Sorge: In seiner eigentlichen Erzählung gestaltet sich LOLA durchaus straight forward und chronologisch sortiert. Die im Wortsinn existenziellen Fragen, die gehirnverdrehenden Überlegungen kommen erst ganz am Ende ins Spiel. Und addieren dem Film dabei eine Ebene hinzu, die ihn rückblickend noch viel interessanter macht – und dazu verführt, ihn gleich noch einmal ansehen zu wollen.

Aber machen wir einen Schritt zurück und blicken auf die Handlung. In deren Mittelpunkt stehen die Schwestern Martha aka Mars (Stefanie Martini, THE LAST KINGDOM) und Thomasina aka Thom Hanbury (Emma Appleton, THE WITCHER), die in den 1930er-Jahren als Waisen aufgewachsen sind und eine enorme Faszination für Technik entwickelt haben. Insbesondere die ältere Thom ist geradezu besessen von den Möglichkeiten, die sie in modernen Medien sieht: „Funkwellen sterben nie. Wenn man Sendungen aus der Vergangenheit empfangen kann, muss das auch mit welchen aus der Zukunft gehen.“

Am 1. Oktober 1938 ist es so weit: Ihre ununterbrochene Beschäftigung mit der Materie mündet in den Bau von „Lola“, einer Maschine, die in der Lage ist, Funk- und Fernsehübertragungen aus der Zukunft zu empfangen. Einige Jahre lang nutzen die Schwestern ihre Erfindung, um ein sorgenfreies und geldreiches Leben zu führen. Etwa, indem sie auf die Gewinner kommender Pferderennen wetten. Als jedoch der Zweite Weltkrieg in seine heiße Phase tritt und Nazi-Bomber englische Städte in Schutt und Asche zu legen drohen, entscheiden sich die Schwestern, ihr hedonistisches Dasein aufzugeben. Stattdessen widmen sie sich fortan der Aufgabe, die Bevölkerung mithilfe von Radiodurchsagen vor unmittelbar bevorstehenden Bombenangriffen zu warnen.

Durch ihr dank „Lola“ erlangtes Wissen über die Attacken der Zukunft können sie das Leben von Tausenden retten und werden als „Angel of Portobello“ gefeiert – aber natürlich rufen ihre scheinbaren Insider-Kenntnisse auch den Militärgeheimdienst auf den Plan. In Person von Lieutenant Sebastian Holloway (Rory Fleck Byrne, THE QUIET ONES) kommt der den Schwestern schließlich auf die Spur. Und lässt sich überzeugen, „Lola“ und ihre Informationen von morgen ab August 1941 für den flächendeckenden Kampf der britischen Armee gegen die Deutschen einzusetzen. Dieser zeitigt zunächst überwältigende Erfolge, doch sie haben Nebenwirkungen. Was sich als Erstes darin äußert, dass ihr Blick in die 70er-Jahre Mars nun plötzlich nicht mehr wunderbare Songs von David Bowie und Bob Dylan, sondern stattdessen Chart-Erfolge eines reinrassig faschistischen Popstars mit DAF-/Kraftwerk-Sound offenbart. Wie sich schnell zeigen soll, ist das jedoch nur Ausdruck eines weitaus umfassenderen Problems: Der Einsatz von „Lola“ verändert den Verlauf des Zweiten Weltkriegs grundsätzlich. Und damit auch alle Aspekte der Zukunft, wie wir sie kennen … Die alternative Zeitlinie, die in der Folge in LOLA gezeichnet wird, ist so faszinierend wie schockierend. Vor allem aber führt sie zu einem Finale, das gleichermaßen schlüssig, originell und clever ist. Dabei werden nicht nur diverse Zeitparadoxa thematisiert, vielmehr wird auch wie nebenbei eine Geschichte über geschwisterliche Liebe erzählt, die auseinanderbricht – und doch allen Stürmen im Wandel von Augenblick und Ewigkeit trotzen kann. In seiner Inszenierung erweist Andrew Legge sich als detailverliebt, sehr stilbewusst und obendrein einem außergewöhnlichen Maß an Realismus verpflichtet: Ein Großteil des Films wurde mit 16-mm-Bolex- und Arriflex-Kameras mit historischen Objektiven gedreht, das Material anschließend in einer 16-mm-Entwicklungsdose aus der Sowjetzeit entwickelt, um einen authentisch „alten“ Look zu erreichen.

In seiner Behandlung einer Science-Fiction-Thematik in einem historischen Setting (sowie seiner monochromen Farbgebung) gemahnt LOLA in gewissem Maße an DIE THEORIE VON ALLEM, ist aber erheblich fesselnder geraten. In seiner Alternativwelt-Narration ruft er wiederum Erinnerungen an THE MAN IN THE HIGH CASTLE, FATHERLAND und Ähnliche hervor, fühlt sich allerdings durchgängig erschreckender und, ja, auch realistischer an. Fans der Genannten sollten sich hier jedenfalls unbedingt abgeholt fühlen, wie auch alle anderen, die einen spekulativen Blick auf die Geschichte spannend finden. Dass LOLA im Oktober 2023 in Sitges mit dem „Méliès d‘or“-Award als bester europäischer Genre-Spielfilm ausgezeichnet wurde, ist kein Zufall: Andrew Legges Werk ist ein Paradebeispiel für intelligentes, kreatives, unabhängiges Filmemachen mit einer äußerst eigenständigen narrativen Sprache, trotz oder gerade wegen seines offenkundig begrenzten Budgets. (Dominic Saxl)

 

Faszinierendes Indie-Sci-Fi-Experiment

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LOLA

Regie: Andrew Legge / Irland, Großbritannien 2022 / 78 Min.

Besetzung: Emma Appleton, Stefanie Martini, Rory Fleck Byrne, Aaron Monaghan, Shaun Boylan

Produktion: Alan Maher, John Wallace

Freigabe: FSK 12

Verleih: Neue Visionen

Start: 28.12.2023