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SLASH 1/2 – DIE RÜCKSCHAU!

Sie kommen alle wieder

Achtung, der folgende Text kann aufdringliche Spuren von persönlicher Hingabe und unverhohlener Begeisterung enthalten!

Manches geht einem richtig nah und ist so vertraut, dass man kaum noch einen unvoreingenommenen Blick darauf werfen kann. Doch ist es immer wieder genau das, was sich viele von den Medien erhoffen. Das ist nachvollziehbar. Dem sollte man nachkommen. Demnach hat die Verfasserin dieser Zeilen zum diesjährigen SLASH ½ eine ganz besondere Freundin eingeladen, um die über viele Jahre hinweg vertraute SLASH-Welt des fantastischen Films durch die analytischen und kompetenten Augen der engen Vertrauten zu sehen.
Und nun, was sah diese Freundin?
Liebe.
Ganz viel Liebe.
Und das ist das Geheimnis. Weißer Spritzer, Wiener Schmäh und eine Filmauswahl, die niemals bequem ist und es auch nicht sein will. „Harmonie wird aber keine gesucht und wäre im SLASH ½ Programm auch nicht zu finden“, schreibt Festivalleiter Markus Keuschnigg in seinen Willkommensworten an die SLASH-Crowd. Aber weil da eben diese Sache mit der Liebe ist, endet seine Begrüßung mit den obligatorischen „Bussis“.

Diese Halbzeit und fantastische Zäsur vor dem cineastisch meist sorgenfreien Sommer kann man ruhigen Gewissens als Goth-Festival bezeichnen. Wer zu Slash-Zeiten einen Blick ins (ebenfalls heißgeliebte) Filmcasino wirft, könnte berechtigterweise schlussfolgern, es würde damit auf die einheitliche Lieblingsfarbe der Besucher*innen angespielt werden. Doch dominiert eher das intellektuell zurückhaltende und explizit ungekämmte Schwarz das Bild und auch die fiebrig neugierige Abgesandte des DEADLINE Filmmagazins ließ ihr Dracula-Barbie-Kleid wohlwissend im Schrank.
Aber warum dann die Bezeichnung Goth-Festival?
Natürlich weil der Neo-Ikone des Gegenwarts-Horrorkinos Mia Goth zwar vielleicht noch kein Denkmal gesetzt, aber auffällig viel Leinwandzeit eingeräumt wird. Und das zur prominenten Primetime. Und vollkommen zurecht.

In INFINITY POOL wird die vermeintlich inspirierende Traumreise ins luxuriöse Urlaubsresort für James und seine Frau Em zum Albtraum, als sie nach einem Verkehrsunfall mit Todesfolge mit der äußerst fatalistischen Rechtsprechung des vermeintlichen Paradieses konfrontiert werden. Wer ein Verbrechen begeht, bezahlt mit seinem Leben. Wer reich genug ist, kann sich freikaufen. Gestorben wird dennoch, nur ist es ein Klon, der die drakonische Strafe durchleiden muss.

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„Der Film ist vom Sohn von David Cronenberg“, flüstert ein Mann in der Reihe hinter mir vor Filmbeginn seiner Begleitung zu. Das ist natürlich richtig, aber dieser Filmemacher ist längst aus Papas Schatten getreten und es ist definitiv an der Zeit, dass wir uns alle seinen Namen merken. Brandon Cronenberg zeigt uns eine fragile Welt vermeintlicher Perfektion, in der aus einem leichtfertigen Freikaufen eine vernichtende Spirale aus Wahnsinn und Determinismus wird. Geld kann uns vorübergehend retten, aber schlussendlich bezahlen wir alle, denn es bedarf keiner juridischen Instanz, um uns in die Knie zu zwingen. Das erledigen wir selbst. Für einen hohen Wiedererkennungswert und – ihr ahnt es schon – ganz viel Liebe sorgt die Kinematographie Karim Hussains, der bereits Brandon Cronenbergs POSSESSOR in ein deliriumartiges Meisterwerk verwandelt hat und aus INFINITY POOL eine avantgardistische Hölle der entgleisten Sinneseindrücke werden lässt. Alexander Skarsgard weiß als schreibblockierter und wohl doch eher minderbegabter Autorenrebell mit seiner Luxus-Tristesse durchaus zu überzeugen. Mia Goth fasziniert als manisch erotische Femme fatale und hätte gewiss auch einer etwas untypischeren Frauenrolle deutliche Seelentiefe und unendliche Boshaftigkeit verliehen.

Tatsächlich ist Mia Goth die Titelrolle in PEARL deutlich eher auf den Leib geschrieben und das sollte auch nicht weiter verwunderlich sein, immerhin hat sie das Drehbuch zum hysterisch popcornbunten Horrorsequel gemeinsam mit Regisseur Ti West verfasst.
Mit X ist Ti West 2022 ein gigantischer Überraschungserfolg gelungen, der maßgeblich dazu beigetragen hat, das moderne Horrorkino aus der lauschig blutigen Nische zu reißen und in die Öffentlichkeit der großen Kinosäle zu katapultieren, um die entsprechend großen Leinwände zu erobern. X hat es geschafft, die Menschen zu begeistern und genau deshalb werden die Zuschauer*innen PEARL – man ahnt es abermals – lieben, denn der Technicolor-Wahnsinnstrip erzählt uns, wie aus einer jungen Frau mit hoffnungsvollen Träumen eine Serienmörderin mit grausamem Tatendrang wird. Wir hoffen mit Pearl und wir leiden mit ihr und spätestens wenn Mia Goth am Esstisch sitzend ihren garantiert bald notorischen Killer-Monolog hält, bricht unser Filmfanatiker*innen-Herz und wir wissen, dass es vorrangig (aber natürlich nicht ausschließlich) ihr zu verdanken ist, dass man sich an PEARL lange Zeit erinnern wird. In PEARL trifft der systematische Kitsch-Exzess der Traumfabrik von damals auf die aufrichtige Härte des Genrefilms von heute, der uns nicht nur das vordergründige Gemetzel, sondern auch den Mensch dahinter zeigt.

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„Also eigentlich ist das gar kein Horrorfilm“, fliegen mir, die ich zwar nicht lauschen will, aber von Berufs wegen doch neugierig bin und einfach hinhören muss, die wohlbedachten Worte durch das Foyer des Filmcasinos zu. Ich schlürfe meinen Weißweinspritzer und höre andächtig weiter hin. „Also mich hat es schockiert“, folgt prompt die Antwort.
Ich lächle und nicke.
Schock ist Programm.
Aber Provokation ist das Zauberwort.
Beim SLASH wünscht man sich immer wieder, das Gezeigte wäre deutlich fantastischer und damit reine Fiktion. Denn was uns hier vorgesetzt wird, ist oftmals quälend real und die endgültige Flucht in eine Fantasiewelt wird konsequent verweigert. Die Fantastik ist die Metaebene, die uns unsere Wirklichkeit vor Augen führt. Eine toxische Wirklichkeit, die meist sogar weitaus vernichtender ist als eine Serienmörderin mit Axt.

In NIGHTSIREN von Tereza Nvotová kehrt Šarlota in ihr Heimatdorf in der Slowakei zurück. Die junge Frau soll die Angelegenheiten ihrer verstorbenen Mutter regeln. Zumindest legt der geheimnisvolle Brief, den offensichtlich niemand zu verantworten hat, dies nahe. Wie eine vergiftete Biosphäre hat der abgelegene Ort Vorurteile, Aberglaube und patriarchale Strukturen bewahrt. In den Köpfen der Dorfbewohner sind Hexen real, doch wenn Frauen oder Kinder geschlagen werden, stellt man sich taub und wendet den Blick ab. Nur die junge Mira scheint erstaunlich unvoreingenommen zu sein und hilft Šarlota dabei, sich den Schatten ihrer Vergangenheit zu stellen.

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NIGHTSIREN ist der Inbegriff eines Filmes, der einem die Flucht in fantastische Welten verweigert. Auch wenn die Bezeichnung Post Horror zu häufig bemüht wird und nicht viel mehr ist als eine vom Feuilleton gezimmerte Schublade für modernes, intellektuelles Horrorkino, so muss man doch einräumen, dass es genau dieser Begriff ist, der einem in den Sinn kommt, wenn man sich fragt, ob NIGHTSIREN tatsächlich kein Horrorfilm ist. Die sirrenden Folk-Horror-Sequenzen sind wahrscheinlich für das Narrativ nicht zwingend notwendig, runden aber das erschütternde Stimmungsbild erst richtig ab und verorten das Sozialdrama durchaus im Genrekino.

„Diesen Film hasst man oder liebt man“, wird LA PIETÀ von Eduardo Casanova anmoderiert und bereits nach wenigen Filmminuten versteht man ganzkörperlich, was genau damit gemeint ist. Und man hasst oder – ja, das ist es wieder – liebt. Wie so oft bleibt beim SLASH auch hier tatsächlich wenig Raum für eine Grauzone. Das ist das Außergewöhnliche und vor allem Essenzielle daran, denn schlussendlich kann man über einen Film wohl kaum etwas Schlimmeres sagen als „der war ganz nett“. Und nett ist wirklich das Letzte, das einem zu LA PIETÀ einfällt.
Mateo ist todkrank. Ein Krebstumor wuchert in seinem Gehirn. Doch ist es nicht nur diese physische Krankheit, die ihn zeichnet und an ihm zehrt. Von einer fanatischen Übermutter, die den abartigsten Untiefen eines Psychologielehrbuchs entsprungen scheint, an den Rande der Selbstzerstörung dominiert, liebäugelt Mateo vielmehr mit dem Tode, als er am Leben hängt. Der Tumor wird entfernt, die Abnabelung von der Mutter scheint hingegen ein unerreichbares Ziel.

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Casanovas Höllentrip verdient eigentlich eine Triggerwarnung, denn dieses bis zum Erbrechen rosarot ausstaffierte Punschkrapferl von einem Arthouse-Film ist so toxisch wie die toxischste Beziehung, die man sich überhaupt vorstellen kann. Darüber hinaus offenbart LA PIETÀ eine schonungslose Körperlichkeit, die das Thema Body Horror vielleicht nicht neu erfindet, aber auf herausfordernd unvertraute Weise erzählt. Nun mag die im Film aufgezeigte Parallele etwas überdeutlich ausformuliert sein und eine subtilere Offenlegung der Botschaft wäre vielleicht schockierender gewesen, aber hier ist nun mal rein gar nichts subtil und genau das ist auch das Erschütternde und Verstörende daran. Ángela Molina brilliert als hypergiftige Mutterfigur und von Manel Llunell, der Mateo wortwörtlich grandios verkörpert, werden wir hoffentlich noch viel hören und vor allem sehen!

Über die hier genauer behandelten Filme hinaus hatte das SLASH ½ sechs weitere Spielfilm-Highlights zu bieten. BLOOD FLOWER sorgt für dämonischen Grusel. IRATI beweist, dass europäisches, episches Fantasy-Kino möglich und großartig ist. LOCKDOWN TOWER zeigt sehr anschaulich, wie schnell der zivilisierte Mensch zur Bestie wird. In SATAN’S SLAVES: COMMUNION sorgen Gespenster für Gänsehaut. SISU definiert den Begriff One-Man-Army neu. Und in TALK TO ME wird die Koketterie mit dem Jenseits zur ultimativen Bedrohung.
Außerdem gab es einen purpurnen Kurzfilm zu bestaunen, nämlich den diesjährigen Crowdfunding-Trailer für das SLASH im September, der von Michael Winiecki großartig in Szene gesetzt wurde. Der anhaltende und frenetische Jubel bei der Premiere des Trailers legt nahe, dass wir uns den Namen dieses Regisseurs gut merken sollten.

Auf die samstägliche Hauptabendprogramm-Vorstellung von PEARL wartend, kam mir noch ein weiteres Gespräch zu Ohren. Ein rund fünfzigjähriger Mann erklärte seiner weiblichen Begleitung die Welt. Wohlgemerkt die Horrorwelt.
„Kennst du POLTERGEIST? Und ach, wie hieß der gleich … genau, SHINING. Und IT, der soll ja auch gut sein. Und dann war da noch irgendwas mit … hm … FLIEGE.“
Anfangs konnte ich mir ein pechschwarzes Elfenbeinturm-Lächeln nicht verkneifen und ein gebrülltes „Ich kaufe einen Artikel! DIE FLIEGE. Der Film heißt DIE FLIEGE!“ mit Müh und Not zurückhalten. Aber dann wurde mir bewusst, dass niemand Gatekeeper mag. Vor allem nicht beim SLASH Festival. Denn genau das ist das Besondere. Genau das ist die von mir so oft in diesem Text beschworene Liebe.
Das SLASH Festival ist für alle da.
Das sind keine leeren Worte, das ist einfach so.
Und es könnte großartiger nicht sein.

„Wir sind Tausende“, heißt es im Crowdfundig-Trailer. Ich sage: Lasst uns dafür sorgen, dass wir Legion werden!
Die zu Beginn genannte Freundin ist übrigens aus Deutschland. Und sie wird wiederkommen. Zu mir. Und zum SLASH. Denn Wien ist immer eine Reise wert. Der Stephansdom und das SLASH freuen sich auf euch.

(Faye Hell)

https://slashfilmfestival.com/

https://www.facebook.com/slashfilmfestival

 

 

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