Ein kleines bisschen Hoffnung
Die nicht allzu ferne Zukunft. Die Welt ist nach einem biologischen Kollaps kaum noch bewohnbar, Pflanzen und Pilze sind durch Genmanipulation des Saatguts zu überaggressiven Fressfeinden mutiert. Nur einige wenige wohnen in aristokratischen Strukturen, fernab der wirklichen Welt, während der Rest der Menschheit in Baracken vor sich hin lebt. In dieser Welt folgen wir einem jungen Mädchen Namens Vesper mit dem Ziel des Überlebens und auf der Suche nach Verbindung und Menschlichkeit.
Wenn Klischees überwunden werden
Junge Protagonistin, dystopische Welt, Klassengesellschaft inklusive anonymer oppressiver Regime? All das klingt nicht unbedingt nach einem unverbrauchten Setting, geschweige denn einer innovativen Prämisse. Und auch mit den ersten dramatischen Texteinblendungen inklusive dunklem, schmutzigem Layout scheinen sich diese Befürchtungen zu bewahrheiten. Doch VESPER schafft es, aus diesem üblichen Setup etwas Neues, Unverbrauchtes zu machen. Das liegt zum einen an der unverbrauchten, sympathisch gespielten Heldin, zum anderen an der wundervoll subtilen Regie. Vesper ist keine hyperathletische Heldin, die das Cover der VOGUE zieren könnte, sondern ein wirklich glaubhaft geschriebener, echter Charakter, welcher mit einem der Welt angepassten moralischen Kompass existiert. Das ist nicht nur erfrischend anders, es ist auch deutlich glaubhafter als in Genrevertretern wie THE HUNGER GAMES und DIVERGENT. Wo eine Katniss mit einem explosiven Bogen bewaffnet einen Badass-Moment nach dem nächsten abfeiert, um sie als starke Person darzustellen, sind Vespers Stärken die Empathie und die Fähigkeit, auch in den düstersten Momenten ein Licht zu sehen.
Eine Welt im Schlamm
Auch die Welt von VESPER ist erstaunlich unverbraucht. Zwar gibt es auch hier den klassischen Natur-Technologie-Konflikt, doch wird dieser in einer anderen Weise dargestellt. Die Natur ist weder gut noch schlecht, erinnert im visuellen Aufbau gerne mal an den Film ANNIHILATION (2018), besitzt jedoch genug eigene Identität. Diese Welt ist schlammig, gigantische Einzeller werden als Waffe genutzt, viele Pflanzen sind Karnivoren, und auch sonst ist die Umgebung extrem. Doch gleichzeitig erzeugt VESPER durch das hervorragende Art-Design eine Faszination für diese Welt, ihre Flora und Fauna, ohne dabei zu abstrus zu werden. Das vergleichsweise geringe Budget merkt man dem Film in keiner Weise an, vielmehr sind die vergleichsweise wenigen Special Effects ein Segen für den Film. Alles wirkt haptisch, greifbar und glaubwürdig. In der heutigen Science-Fiction eine Seltenheit.
Erfolg durch Zurückhaltung
All diese Stärken werden dadurch erzeugt, dass sich das Drehbuch in seiner Exposition angenehm zurückhält. VESPER ist ein hervorragendes Beispiel für das, was man häufig als „passives Worldbuilding“ bezeichnet. Bis auf die anfänglich erwähnte Texttafel erfahren wir sehr wenig über diese Welt, ein klassischer Expositionscharakter fehlt einfach. Dadurch wird dem Zuschauer zugetraut, seine eigenen Schlüsse zu ziehen. Es zischt, es dampft, es leuchtet. Und die eigene Fantasie springt an. Diese Zurückhaltung wird auch generell in der Dramaturgie des Films deutlich. Die Hauptfigur ist nicht allmächtig, die Konflikte sind zu komplex, als dass sie in wenigen Schritten gelöst werden könnten. VESPER brilliert dann, wenn er sich zurückhält. Das zeigt sich am deutlichsten in den letzten Minuten des Films, wenn alles zu einem kompromisslosen, runden Ende kommt. Das geht hier und da auf Kosten der Spannung, und einige Zuschauer könnten sich an der fehlenden Exposition stören. Doch dass ein Film dieser Größenordnung heutzutage bereit ist, dieses Risiko bewusst einzugehen und damit eventuell den einen oder anderen zu verprellen, hat Seltenheitswert und ist schon für sich genommen ein Triumph.
Am Ende ist VESPER eine DER Überraschungen des Jahres. Ähnlich wie EVERYTHING EVERYWHERE ALL AT ONCE nimmt sich dieser Film eines vertrauten Genres an und fügt ihm etwas wirklich Neues hinzu. Das ist natürlich nicht so spektakulär, jedoch völlig einzigartig in seiner Machart. (Simon Greichgauer)
Starkes Dystopie-Drama aus Europa, das neue Impulse setzt