Hier nun unsere Langfassungen des Berichts und des Interviews mit Brandon Cronenberg und Karim Hussein!
Der goldene Herbst ist in Wien angekommen und ebenso die 14. Ausgabe des SLASH – FESTIVAL DES FANTASTISCHEN FILMS, das erneut nichts anbrennen lässt. Neben illustren Gästen wie Brandon Cronenberg und Michael Ironside gibt es diesmal auch das Finale der „Slash Campfire Tales“, eines Drehbuchwettbewerbs, der genrefeste Stoffe fördert.
Für den Eröffnungsabend ist das wunderschöne Gartenbaukino mit einem Sarg dekoriert, denn ein Bestattungsunternehmen ist erneut Sponsor, auch wenn das dieses Jahr etwas an „Schmäh“ verloren hat. Doch zahlreiche (unechte) Spinnennetze und einige (echte!) Giftspinnen weisen auf den Eröffnungsfilm: VERMIN von Sébastien Vanicek erzählt von Kaleb (Théo Christine), der in einer schmucklosen Vorstadtsiedlung lebt und ein Faible für Giftspinnen hat. Doch seine neueste Errungenschaft ist ein Exemplar, das nicht nur äußerst aggressiv ist und schnell wächst, sondern sich auch in Windeseile vermehrt, sodass die Situation an den Banlieue-Thriller ATHENA erinnert – besonders als die Exekutive „zur Hilfe“ kommt –, nur eben mit Spinnen. Im Vorprogramm ist der Kurzfilm LA VEDOVA NERA des Regieduos Fiume und Julian McKinnon zu sehen, in dem ein junger Mann nach einem Fahrradunfall in einem schwulen Pornokino landet, in dem sexuelle Berührungsängste in bester und stylischer „Giallo“-Manier als mörderische Übergriffe überhöht werden.
GOOD BOY von Viljar Bøe erzählt von der Studentin Sigrid (Katrine Lovise Øpstad Fredriksen), die glaubt, das große Los gezogen zu haben, als sie den attraktiven Christian (Gard Løkke) datet. Doch als sie erkennt, dass dessen „Hund“ in Wahrheit ein Mann im Hundekostüm ist, reagiert sie verständlich verstört. Bis sie erfährt, dass Christian stinkreich ist, und beschließt, die Sache mit dem „Hund“ dann doch nicht so eng zu sehen. Dieses Kammerspielt ist eine kühl inszenierte, sehr smarte Sozialparabel, bei der dem gesamten Saal das abschließende Lachen kollektiv im Hals stecken blieb.
Auf den Hund gekommen ist auch Luc Besson: DOGMAN belegt aber leider erneut, dass der einst innovative Regisseur seine Glanztage schon lange hinter sich hat. Der Plot erzählt von Douglas (Caleb Landry Jones), der als Kind von seinem Vater (auch mit Perücke und Pornobalken überzeugend: Clemens Schick) misshandelt und so zum ungewöhnlichen „Superhelden“ Dogman wird, dessen Schar an talentierten Hunden seinen an den Rollstuhl gefesselten Körper ersetzt. Auch wenn der Plot ein typisch fantasievoller Besson-Stoff mit Originalität und einem tollen Hauptdarsteller ist, fehlt dem aber ein klarer Gegenspieler, um wirklich Spannung aufkommen zu lassen. Dafür setzt es einzelne Fremdschäm-Momente, die dem Film auch nicht guttun. Ein Interview mit Luc Besson und Clemens Schick findet ihr hier!
In FARANG fliegt der ehemalige Drogenkurier Sam (Nassim Lyes) von Paris nach Thailand, wird aber auch hier von seiner Vergangenheit eingeholt und legt sich mit der örtlichen Mafia an. In Xavier Gens (FRONTIERS, HITMAN) geradliniger Rachegeschichte geht es dank sehr gut choreografierter Brutalo-Kämpfe ordentlich zur Sache. Das Blut spritzt hier in alle erdenklichen Richtungen. Ein Interview mit Xavier Gens findet ihr hier in der aktuellen Ausgabe!
In DIVINITY von Eddie Alcazar gibt es verrückte Wissenschaftler, Unsterblichkeitsdrogen, die unfruchtbar machen, zwei Sternen-Brüder (Stephen Dorff und Scott Bakula) auf einer Mission, eine Sexarbeiterin namens Nikita (Karrueche Tran) und eine Unbefleckte-Gebärmutter-Clique, angeführt von Ziva (Bella Thorne). Ein seltsam-fesselnder Science-Fiction-Fiebertraum in Schwarz-Weiß, den es so noch nie gegeben hat.
Das Mädchen Shenxiu (Tingwen Wang) geht in DEEP SEA bei einer Kreuzfahrt über Bord und landet auf einem riesigen Unterwasser-Restaurantschiff. Mit diesem macht sie sich auf die Suche nach ihrer verschwundenen Mutter. Das chinesische Wunderwerk von Xiaopeng Tian glänzt mit atemberaubenden Unterwasserwelten, in denen die Farben und Formen buchstäblich die Leinwand fluten.
Die zwölfjährige Zaffan (Zafreen Zairizal) merkt eines Tages, dass sich ihr Körper seltsam verändert. Sie sieht plötzlich Waldwesen mit brennenden Augen und scheint sich selbst in eines zu verwandeln. TIGER STRIPES ist das Debüt der malaysischen Regisseurin Amanda Nell Eu und ein Coming-of-Age-Krimi über den weiblichen Körper und die Sexualität, der an Brian De Palma, David Cronenberg und Apichatpong Weerasethakul erinnert.
In MAD FATE von Soi Cheang treffen die Schicksale eines verrückten Fahrradboten (Lok Man Yeung), eines schrulligen Wahrsagers (Charm Man Chan), eines alternden Polizisten (Ting Yip Ng) und einer Sexarbeiterin (Wing-Sze Ng) aufeinander, die es alle mit demselben Serienmörder zu tun bekommen. Das Ganze ist ein recht wüster, manchmal etwas willkürlicher Trip zwischen Aberglaube und Schicksal.
Wir bleiben im asiatischen Raum, diesmal im 16. Jahrhundert, dem sich der japanische Film-Großmeister Takeshi Kitano in KUBI widmet. Der Historienfilm handelt von Herrschaftskämpfen in dem Inselstaat, deren tatsächlicher Hintergrund unter Fachleuten umstritten ist, weshalb sich Kitano dafür entschied, der Theorie nachzugehen, amouröse Beziehungen unter einigen der herrschenden Männer wären ein mögliches Motiv dafür. Der Regisseur, der auch eine der Hauptrollen spielt, macht dies mit einer durchaus ernst zu nehmenden Eleganz, die ein spannender Gegenpol zum temporeichen, teils irrwitzigen Kampfgeschehen ist, bei dem man irgendwann komplett den Überblick verliert. Da werden Doppelgänger im Akkord ermordet oder die Köpfe der Getöteten aufgereiht, um zu sehen, wer nun wirklich ermordet wurde. Zugleich wird all das so schrill und frech dargeboten, dass man sich dem auch nicht entziehen kann und möchte.
Mysteriöse Frau Nummer eins: In YOU`LL NEVER FIND ME spielt Patrick (Brendan Rock) einen einsamen, paranoiden Mann, der in einem Trailerpark lebt und sich offenbar von etwas verfolgt fühlt. Als es nachts an seine Türe klopft, steht eine junge Frau (Elena Carapetis) vor ihm, die von einem Sturm überrascht wurde. Doch nichts ist hier so, wie es auf den ersten Blick scheint. Ein spannendes Kammerspiel mit einem doppelbödigen, düsteren Twist.
Mysteriöse Frau Nummer zwei: In THE SEEDING verirrt sich ein Fotograf (Wyndham Stone) in der Wüste Utahs. Nachts sucht er Schutz in einem Krater bei einer mysteriösen Frau (Kate Lyn Shell), die dort unten lebt. Als er am nächsten Tag wieder aufbrechen will, ist die Strickleiter vom Vortag verschwunden, und er sitzt fest. Das Spielfilmdebüt des Briten Barnaby Clay ist stimmig, perfide und besticht durch sein ungewöhnliches Setting.
In BEST WHISES TO ALL fährt eine junge Krankenschwester in spe (Kotone Furukawa) in ein abgelegenes Dorf, um ihre Großeltern zu besuchen. Dass diese Idylle (vor allem, wenn J-Horror-Legende Takashi Shimizu produziert) Brüche bekommen wird, scheint naheliegend. Die lieben Alten verhalten sich tatsächlich auch erst eigen-, dann durchaus abartig. Was aber tatsächlich hinter der Frage nach dem Preis vom Familienglück lauert, ist nicht nur für die Enkelin mehr als verstörend … Die verhandelten Themen sind klar: Überalterung, niedrige Geburtenrate, der Widerspruch von Honne (echten Gefühlen) und Tatemae (öffentlichem Verhalten). Und auch wenn einige Elemente gegen Ende des Films schon recht beliebig daherkommen, ist das doch ein bemerkenswertes Debüt von Yuta Shimotsu, sehr elegant fotografiert und fein gespielt.
Wer aus „unnatürlichen Gründen“ stirbt, kann wiederbelebt werden – vorausgesetzt, man hat vorher brav alle 48 Stunden ein Back-up von sich gemacht, den RESTORE POINT. Die motivierte Polizistin Em (Andrea Mohylová) ermittelt gegen eine rebellische Bewegung, die diese Errungenschaft als grundfalsch ansieht und mit Terroranschlägen sabotiert. Dabei wird Em immer tiefer in das undurchschaubare Netz der Verschwörung hineingezogen. Die Krimi-Story ist nicht neu und birgt Logiklöcher, auch die Figuren sind trotz solidem Schauspiel nicht sehr mitreißend. Aber das (audio)visuelle Design entschuldigt viel und rockt umso mehr! Durch High-end-CG und großartiges Design mit vielen durchdachten Details wirkt das eher wie eine gut budgetierte internationale Produktion als wie der erste tschechische Sci-Fi-Film seit 40 Jahren (O-Ton des Regisseurs Robert Hloz).
RIVER von Junta Yamaguchi handelt von einigen Menschen in einem japanischen Provinzhotel, die plötzlich in einer Zeitschleife gefangen sind. Heraus kommt dabei ein sehr smarter Time-Loop-Film als interessanten Variante des GROUNDHOG DAY-Musters, irgendwo zwischen Sci-Fi und Komödie. Temporeich und kurzweilig, ist RIVER ein definitiver Publikumshit auf dem diesjährigen SLASH. Kommt bald als Mediabook das wir textlich betreut haben!
In eine ganz andere Richtung geht FEMME von Sam H. Freeman und Choon Ping Ng, die auch auf dem Festival anwesend sind. In ihrem Film geht es um den Drag-Künstler Jules (Nathan Stewart-Jarrett), der von einer Gruppe junger Männer brutal attackiert wird. Als er Monate danach in einer Schwulensauna einen davon (George McKay, bekannt aus 1917) wiedersieht, kommt es zu einer unerwarteten Annäherung. FEMME ist ein intensiver und sehr ungewöhnlicher Revenge-Thriller, der von der zwischen Nähe und Ablehnung wechselnden Spannung zwischen den Hauptfiguren getragen wird. Beide Hauptdarsteller brillieren, vor allem McKay, dessen intensives Spiel spürbar macht, dass der Hass seiner Figur gegen Schwule nichts anderes ist als der traurige Selbsthass eines Mannes, der nie gelernt hat, mit seinen Gefühlen umzugehen.
Beim EVENING WITH MICHAEL IRONSIDE kommen eher die älteren „Slash-mester“ auf ihre Kosten. Im Vorfeld hieß es, der viel gebuchte Schauspieler habe Migräne und der Abend würde kürzer gehalten. Doch genau das Gegenteil tritt ein. Ironside schreibt fleißig Autogramme, ist von Sekunde eins an sympathisch, erzählt ausführlich Anekdoten über SCANNERS und TOTAL RECALL (die beide an dem Abend gezeigt werden) und lässt in seinen Geschichten selbst eine Jahrhundertgurke wie HIGHLANDER 2 versöhnlich erscheinen. Am Ende dauert das Gespräch statt der geplanten Stunde satte zwei, sodass die Kinobetreiber ins Schwitzen kommen und der Moderator des Abends, Regisseur Paul Poet, von seinem Stapel Fragen nur drei stellen kann. Dafür ist Ironside in Begleitung seiner Frau Karen, die bei den nerdigeren Fragen des interessierten Publikums gerne mitmoderiert, und als der mittlerweile 73-jährige Schauspieler dann mit ihr gemeinsam erzählt, erst kürzlich zum vierten Mal Krebs überstanden zu haben, bekommen die bisherigen Freudentränen des Abends schwere Konkurrenz.
In THE BELGIAN WAVE sucht ein dauerpanierter Künstler mithilfe einer kleinwüchsigen Journalistin in einem pinken Leichenwagen nach seinem Patenonkel, der bei UFO-Recherchen spurlos verschwand … Basierend auf der wahren Geschichte der sogenannten Belgischen Welle (UFO-Sichtungen in Belgien um 1990) bastelte Jérôme Vandewattyne mit wenig Geld, dafür umso mehr Ideen einen unterhaltsamen Hybriden aus Mockumentary (mit echtem Material alter Fernsehberichte) und neonglühendem Roadtrip (H. S. Thompson und Richard Stanley lassen grüßen). Trotz seiner Freude an Eskalation und Übertreibung verliert sich der Film nie – mit fein austariertem Tempo, großartigem Schnitt, fetzigem Elektro-Soundtrack und SchauspielerInnen mit unbändiger Lust am überdrehten Spiel. Dabei coole Cameos von z. B. Édith Le Merdy (aus Kultfilmen wie MANN BEISST HUND oder ALLÉLUIA). What a ride! DIE Überraschung des Festivals.
Ein spannender Außenseiter im SLASH-Programm ist HELLO DANKNESS des australischen Künstlerinnen-Duos Soda Jerk. Sie haben die verwirrenden Jahre zwischen 2016 und 2020 in den USA, also von der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten bis zum Beginn der Coronapandemie, im Fokus ihrer filmischen Collage, die aus Ausschnitten zahlreicher Filme montiert wurde: MEINE TEUFLISCHEN NACHBARN, DAS IST DAS ENDE, AMERICAN BEAUTY bis hin zu NIGHTMARE – MÖRDERISCHE TRÄUME. Mit kleineren digitalen Veränderungen (wie Plakaten mit politischen Slogans) bestätigt HELLO DANKNESS beeindruckend, wie sehr das Leben die Kunst imitieren kann.
Philippinischer Dschungel, Ende des Zweiten Weltkriegs. Ein Unternehmer wird verdächtigt, Gold von den Japanern gestohlen zu haben. Um Hilfe zu holen, lässt er seine Familie im prächtigen Anwesen alleine, worauf der Haussegen kippt: Die Mutter wird sterbenskrank, und das Essen geht zur Neige. Als die beiden Kinder verzweifelt im Wald nach Nahrung suchen, findet das Mädchen (Ausnahmetalent Felicity Kyle Napuli) eine Fee, die ihm vermeintlich Rettung verspricht, aber ganz anderes im Schilde führt … IN MY MOTHER‘S SKIN von Kenneth Dagatan ist ein wunderschön gefilmter und ausgestatteter Mix aus düsterem Märchen, Folk-Horror und katholischen Motiven, der anfangs recht schleichend und langsam, dafür schließlich heftig und blutig auf der Leinwand brennt.
Der Film hatte Weltpremiere in Sundance und ist hier weltweit auf Amazon im Prime-Abo zu sehen.
In NIGHTMAN von Mélanie Delloye beschließt das junge Paar Alex und Damien (Zara Devlin und Mark Huberman), in das wunderschön in britischer Postkartenlandschaft gelegene Haus seiner Mutter zu ziehen, die in ein Pflegeheim muss. Doch kurz nach ihrer Ankunft beginnen sich nicht nur seltsame Ereignisse zu häufen, die Jugend in einem Strafinternat holt Damien ein, und sie scheint nicht das Beste in ihm zum Vorschein zu bringen. Obwohl alle Stücke für einen packenden Thriller vorhanden sind, interessiert sich Regisseurin Delloye mehr für das Innere der Figuren und lässt dadurch zu, dass der spannende Handlungsfluss des Öfteren zum Stagnieren kommt. So wird das teilweise irrationale Verhalten von Hauptfigur Alex zum Ärgernis, dass selbst das Bilderbuch-Setting (mit Burgruine!) nicht mehr zur Besänftigung reicht.
Mit Kinkerlitzchen wie Handlungsfluss hält sich SLOTHERHOUSE erst gar nicht auf. Das SLASH nähert sich dem Ende, und die Zeichen stehen auf Party. Und obwohl seine Handlung löchriger ist als ein Schweizer Käse, hat der Film von Matthew Goodhue schon damit gewonnen, dass er sich Faultier-Slasher (!) nennen darf. Auf einem College wird der Beliebtheitswettbewerb zweier Studentinnen (Lisa Ambalavanar und Sydney Craven) zur Überlebensfrage, nachdem eine von ihnen ein unberechenbares und intrigantes Faultier zum Maskottchen bestimmt. Auch wenn der Witz nach zwei Minuten alt ist, wird diese absurde College-Horror-Persiflage so konsequent durchgezogen, dass der Film am finalen Wochenende des SLASH zum Crowdpleaser wird.
Sarah Stutte, Lucas Vossoughi, Patrick Winkler
«Filmemachen ist eine Therapie gegen Arbeitslosigkeit und das Sterben»
Interview mit Brandon Cronenberg und Karim Hussein
Der SLASH-Chef Markus Keuschnigg höchstpersönlich fühlte dem prächtig aufgelegten Duo auf den Zahn und arbeitete bei der Masterclass im Rahmen des SLASH-Filmfestivals 2023 mit Brandon Cronenberg und Karim Hussein chronologisch alle drei gemeinsamen Filme ab. Man erfuhr von enttäuschten Nies-Fetischisten und menschlichen Hundespielern in Sundance, dass die US-Zensur keine erigierten Penisse, dafür kackende Brustwarzen zulässt, Karims Wohnzimmer als Spielplatz für abgefahrene Kameraexperimente herhält, oder von „Lucky Pierre“, einem schimmelbefallenen Objektiv, dessen Optik so begeisterte, dass sie ihn einfach darauf beließen: „We love to film through disease.“ Brandon wiederum möchte seinen Vater bloß nicht an seinem Set sehen und denkt beim Schreiben nie an die Besetzung („too much heartbreaking involved“). Auch die Making-of-Videos bestätigten, mit welcher Freude, Intensität und Hingabe das Body-Horror-Duo und seine Crews der blutigen Arbeit nachgehen. Im Foyer des Kinos ließen sich die extrem sympathischen Kanadier noch lange ablichten und mit Fragen löchern. (Lucas Vossoughi)
Einen Tag nach der unterhaltsamen Masterclass erzählten Brandon Cronenberg und Karim Hussain im Interview, warum sie praktische Effekte bevorzugen, wer als Kind David-Cronenberg-Filme geschaut hat und was beide am Genre Horrorfilm fasziniert. Am Schluss gab’s noch Falco-Gedächtnisbilder vor kultiger Spinnenkulisse.
DEADLINE: Könnt ihr ein bisschen über euren kreativen Arbeitsprozess reden? Wie findet ihr Ideen? Was inspiriert euch? Und ruft ihr euch dann immer an oder trefft euch in Karims Wohnzimmer?
BRANDON CRONENBERG: Es ist bei jedem Film anders. Ich meine, wir verbringen sehr viel Zeit damit, Ideen zu entwickeln. Manchmal passiert das, bevor es ein Drehbuch gibt. Aber auch wenn wir das Konzept im Großen und Ganzen kennen, beginnen wir, mit Dingen zu experimentieren, die alles nochmals beeinflussen. Manchmal machen wir auch eine Art theoretische Auswahlliste, wenn das Drehbucht steht. Dann stellen wir uns vor, wie der Film aussehen könnte, um gemeinsam die Filmsprache zu entwerfen.
KARIM HUSSAIN: Wir sprechen ständig über mögliche Ideen und auch darüber, wie wir neue Sachen entwickeln können. Wir versuchen uns stets weiterzuentwickeln und Dinge auf eine andere Art und Weise zu zeigen, als sie bereits im Kino zu sehen waren. Deshalb schauen wir uns viele Filme an. Aber nicht, um sie zu kopieren, sondern um zu sehen, was schon gemacht wurde. Das löst dann vielleicht eine Idee aus, die wir etwas weiter ausarbeiten können. Oftmals orientieren wir uns dabei an der Fotografie und an wissenschaftlichen Experimenten. Keiner unserer Effekte ist mit CGI gemacht.
Fühlt ihr euch da ein wenig den guten alten Handmade-Klassikern des Genres der 70er- und 80er-Jahre verpflichtet? Im Tom-Savini-Style, der unter dem Bett liegt und das Blut durch einen Schlauch nach oben pustet?
KARIM HUSSAIN: Ja. Die ganze Gewalt basiert auf diesen praktischen Effekten. Es gibt höchstens ein paar moderne Anpassungen oder VFX für das Feintuning. Grundsätzlich basieren aber alle Effekte auf einfacher Prothetik und Make-up-Effekten sowie echtem Kunstblut. Dan Martin, unser Special-Effects-Künstler bei POSSESSOR und INFINITY POOL, ist ebenfalls sehr versessen darauf, mit praktischen Effekten zu arbeiten. Tom Savini haben wir so viele erstaunliche Innovationen zu verdanken, aber sie sind technisch sehr grob. Unser Anspruch ist es, diesen Erfindungsgeist aufzugreifen und ihn mit modernen prothetischen Techniken wie Silikon, Wachs, 3D-Druck und ähnlichen Dingen zu verfeinern. Zudem ist Dan Martin in der Chemie sehr versiert, weshalb wir mit ihm zusammen häufig auch chemische Prozesse entwickeln. Wir schicken ihm vage Ideen, und er sendet uns Videos von potenziellen Techniken, die wir dazu verwenden könnten. Es kam öfters vor, dass wir in der Postproduktion noch gewisse Dinge ausprobiert haben. Für INFINITY POOL haben wir in meinem Wohnzimmer mit verschiedenen Beleuchtungstechniken oder einem Split-Field-Diopter – einem Vergrößerungsglas, das vorne halbiert ist – bestimmte Objekte fotografiert. Diese Licht- und Verzerrungseffekte fügen wir dann noch nachträglich in das Set-Material ein.
DEADLINE: Warum ist es für euch so wichtig, den Kreativitätslevel in euren Filmen möglichst hoch zu halten?
KARIM HUSSAIN: Zum einen wegen der Effekte und dann wegen der Textur. CGI-Blut sieht nie sehr gut aus. Dass die Gewalt in unseren Filmen beim Publikum so eine starke Reaktion hervorruft, liegt zum Teil daran, dass es nicht mehr gewohnt ist, praktische Effekte zu sehen. Und was die Textur betrifft: Nur wenn man Material in der Hand hat, kann dieses haptische Erlebnis zu etwas anderem, Neuem führen. Am Schluss macht genau das den Look des Films aus.
DEADLINE: Brandon, du hast dich als Kind und Jugendlicher eher für Literatur als für Film interessiert. Wie und wann kam die Wende? Gab’s da einen bestimmten Auslöser?
BRANDON CRONENBERG: Es war nicht so, dass ich kein Interesse am Film gehabt hätte. Ich liebte Filme schon damals und habe mir viel angeschaut. Aber genauso gern habe ich geschrieben, bildende Kunst und Musik gemacht. Ich habe es wirklich genossen, Dinge zu erschaffen, und habe mich ein wenig vor dem Film gescheut, aufgrund der Erwartungen meines Vaters. Mit Anfang 20 wurde mir klar, dass Film eine Möglichkeit bot, all diese Kunstformen, die mich interessierten, zu vereinen. Mein Weg war also ein wenig anders als der von Karim, der fast von Geburt an zum perfekten Cineasten geformt wurde. (lacht)
KARIM HUSSAIN: Das stimmt. Soweit ich mich erinnern kann, habe mich schon immer für Filme interessiert, insbesondere für Horrorfilme. Deshalb wusste ich auch schon sehr früh, dass ich Genrefilme machen möchte.
DEADLINE: Hast du das deiner Großmutter zu verdanken, die dich und deine Schwester als Kinder in Horrorfilme mitgeschleppt hat?
KARIM HUSSAIN: Ja. In der kanadischen Provinz, in der wir lebten, waren die Altersfreigaben für Kinder damals nicht so strikt wie in den USA, es interessierte dort alle einfach nicht so wahnsinnig. Jedenfalls konnte ich mir als vielleicht Elf- oder Zwölfjähriger dank meiner Großmutter einige großartige Genrefilme der 80er-Jahre ansehen. So habe ich beispielsweise DIE FLIEGE von Brandons Vater David gesehen, direkt als dieser herauskam. Das war wirklich ein großer Spaß, den ich mit meiner Großmutter und meiner Schwester jeweils im Kino hatte.
DEADLINE: Und was haben deine Eltern dazu gesagt?
KARIM HUSSAIN: Meine Mutter ist selbst ein Horrorfan. Sie hat als Autorin einige ziemlich verrückte Romane in Kanada veröffentlicht. Ich schicke ihr ab und zu Blu-rays von Gialli, und wenn ich sie besuche, unterhalten wir uns darüber. Die Beziehung zu meinem Vater war kompliziert, wir haben uns oft gestritten. Er war sehr konservativ und hat überhaupt nicht verstanden, was ich mache. Vor ein paar Jahren ist er dann verstorben, und seitdem ist meine Mutter irgendwie mehr sie selbst geworden, was sehr interessant ist.
DEADLINE: Was fasziniert euch denn am Horrorfilm im Speziellen?
BRANDON CRONENBERG: Die Möglichkeiten. Du hast alle Genres in einem zusammen und kannst deine Geschichte auf viele verschiedene Arten erzählen.
KARIM HUSSAIN: Horror ist so viel mehr als nur das, was manche Leute unter einem Horrorfilm verstehen. Einige der politisch klügsten, metaphorischsten und tiefgründigsten Filme da draußen sind Horrorfilme. Das Horrorgenre ist oft eine Metapher für eine Menge Dinge, die in unserer heutigen Gesellschaft vor sich gehen. Jede große gesellschaftliche Veränderung, seit es das Kino gibt, hat sich immer in den Veränderungen der Horrorfilme widergespiegelt. Wir brauchen diese dunklen Schatten. Die Welt ist nicht immer ein großartiger Ort. Viele dieser Szenarien sind ziemlich düster und verkorkst, weil wir Menschen so sind.
DEADLINE: Brandon, welche Arbeit liegt dir eher, die des Drehbuchautors oder die des Regisseurs? Siehst du Vorteile darin, beides abzudecken, oder auch Nachteile?
BRANDON CRONENBERG: Beides ist sowohl schrecklich als auch wunderbar. Kommt darauf an, wie es läuft. Es ist extrem schwer, jemanden zu finden, der sich nur auf das Drehbuchschreiben konzentriert und wirklich gut ist. Ist das der Fall, sind diese Drehbücher ziemlich schnell weg vom Markt, und das, was übrig bleibt, ist nicht unbedingt meins. Ich wäre also froh, wenn ich einmal zu einem Drehbuch von jemand anderem Regie führen könnte. Es hat aber auch einen strategischen Vorteil, wenn man seine Sachen selbst schreibt. Ich mag die Kunst des Geschichtenerzählens. Ich mag Dialoge. Wenn ich mit dem Drehbuch anfange und dann später als Regisseur die Story umsetze, ist das für mich immer noch derselbe Prozess. Das Drehbuch gibt eine Struktur vor, an die man sich bis zu einem gewissen Grad halten kann. Das hilft, sich zu konzentrieren. Obwohl ich ein kompletter Einsiedler bin, empfinde ich es als sehr konstruktiv und befriedigend, dass aus einer einsamen Arbeit dann irgendwann eine gemeinschaftliche wird.
DEADLINE: Ist es eigentlich schwer, sich aus dem Schatten eines berühmten Vaters zu schälen und etwas Eigenes zu schaffen? Ich meine, du selbst weißt, wer du bist, und machst deine Filme, aber von außen wird man doch ständig verglichen …
BRANDON CRONENBERG: Ich denke, man kann nur den Kopf einziehen und weiterhin Dinge tun, die einen interessieren, und den eigenen Interessen und Impulsen folgen. Danach gibt es nichts mehr, was du wirklich kontrollieren kannst. Es lohnt sich also nicht, sich darüber Sorgen zu machen. Die Welt kann dann entscheiden, ob du etwas wert bist oder nicht.
DEADLINE: Ist das Filmemachen auch eine persönliche Auseinandersetzung mit dem eigenen Ich?
BRANDON CRONENBERG: Ich denke, Filmemachen ist eine Therapie gegen Arbeitslosigkeit und auch eine Therapie gegen Depression. Manchmal denke ich, dass das Filmemachen eine Therapie gegen das Sterben ist. Es ist eine Art Unsterblichkeit, denn selbst wenn man stirbt, weiß man, dass etwas von einem weiterleben wird. Für mich ist es auch eine Möglichkeit, mit einer Gruppe von Freunden oder Mitarbeitern eine Idee einzufangen und etwas zu schaffen, das uns überdauert.
DEADLINE: Gibt es ein neues gemeinsames Filmprojekt, an dem ihr gerade arbeitet?
BRANDON CRONENBERG: Wir tüfteln schon einige Jahre an einem Science-Fiction-Film, aber dazu können wir noch nichts Genaueres sagen. Wir hoffen einfach, dass er irgendwann gedreht wird.
Interview geführt von Sarah Stutte